28. Februar 2011

The Complete: Arrested Development

Come on!

Nach drei Staffeln von Mitchell Hurwitz’ Sitcom Arrested Development drückt sich meine Haltung zur Show am ehesten in einer Umformulierung des Serien-Intros aus: “now the story of a highly praised sitcom which won over everyone, and the one viewer who had no choice but to keep it together”. Die Serie taucht gerne auf Bestenlisten auf, zählt für TIME zu den 100 besten Fernsehserien aller Zeiten (“characters and laughs genuine“) und ist auch für die britische Empire die 18. gelungenste Show, die je im TV zu bewundern war (“some of the sharpest comedy writing of all time”). Dabei kann ich nach Sichtung der 53 Folgen weniger die Lobeshymnen verstehen, als vielmehr die Einstellung der Show 2006.

Mitinitiiert von Hollywood-Regisseur Ron Howard verfolgt die Sitcom die Immobilienfirma der Blooth Company, deren Oberhaupt George Blooth (Jeffrey Tambor) in der Pilotfolge wegen Betrugs ins Gefängnis wandert. Entgegen seiner Erwartung wurde der zweitälteste Sohn Michael (Jason Bateman) zuvor nicht der Nachfolger seines Vaters, sondern seine Mutter (Jessica Walter). Mit der Verhaftung von George und der “wealthy family“, die droht, alles zu verlieren, kommt nun Michael ins Spiel - “the one son who had no choice but to keep them all together“. Dessen Versuche die Firma zu retten, finden weniger im Büro als zu Hause statt, wo die Lebensstandardverwöhnten Verwandten das Chaos beschwören.

Im pseudo-dokumentarischen Stil verfolgt Arrested Development dabei mit Handkameras die illustre Familie von Michael. Vom narzisstischen Hobby-Magier und älterem Bruder Gob (Will Arnett), über die verhätschelte Hobby-Aktivistin und Zwillingsschwester Lindsay (Portia de Rossi) sowie deren Ehemann, Ex-Psychologe und Hobby-Schauspieler Tobias (David Cross), und Tochter Maeby (Alia Shawkat), bis hin zum jüngeren Muttersöhnchen Buster (Tony Hale) und Michaels eigenem Nachwuchs, George Michael (Michael Cera). Jede Menge Figuren also, die bisweilen - ihrer einfaltslosen Destruktivität entsprechend - von ihrem nichtsnutzigen Anwalt Barry Zuckerkorn (Henry Winkler) komplettiert werden.


Arrested Development - Season One

Die erste Staffel beginnt durchwachsen. Zwar stellt die zweite Folge (Top Banana) bereits eine viel versprechende Verbesserung dar und in der fünften Episode, Visiting Ours, findet sich die überzeugendste Folge der gesamten Serie, dennoch schwanken die übrigen 20 Episoden auf einem schmalen Grat der Durchschnittlichkeit. Die meisten Charaktere verfolgen ihre eigene Nebenhandlung, sei es Buster, der unbeabsichtigt eine Affäre mit Lucille (Liza Minelli), der gleichnamigen Nachbarin und Nemesis seiner Mutter, beginnt oder Tobias, der versucht, an erste Rollenangebote zu kommen und dabei Bekanntschaft mit Rocky-Darsteller Carl Weathers macht. Währenddessen versucht Michael, die Firma zu konsolidieren.

Viel Humor wird am Anfang durch die Gefängnisbesuche von Michael erzeugt, wenn George zeigt, dass er sich bestens akklimatisiert hat (“I’m doing the time of my life“) und etabliert wird, dass Henry Winkler in der Tat gar nichts von seinem Job versteht. Zugleich findet sich bereits hier der Beginn der zweitlängsten Story Arc der Serie, wenn sich George Michael in seine Cousine Maeby verknallt. Für den treudoofen Michael Cera, der seither stets dieselbe Rolle zu spielen scheint, eine merklich unangenehme Situation, aus der Arrested Development bis zum bitteren Ende Kapital schlagen will. So simpel Ceras Spiel auch ausfällt (ihm langen zwei Mienen), zeugt er von der überzeugenden Besetzung der Serie.

Sei es der selbstgefällige Will Arnett, der einfältige David Cross oder die kalkulierte Jessica Walter. Punktgenau wurden die Rollen gecasted, von denen Jason Bateman noch am meisten das Nachsehen hat. Obschon sein Michael mit die geerdetste Figur zu sein scheint, ist er es zugleich, der von allen Charakteren am unsympathischsten erscheint. Seinen Sohn vernachlässigt er über weite Strecken ebenso effektiv wie dies bei seinen eigenen Eltern der Fall der Fall war und auch von seiner Schwester und deren Gatten nicht minder effektiv praktiziert wird. Gelegentlichen Zuwachs erfährt das Ensemble zudem durch Gastdarsteller wie Heather Graham,  Julie Louis-Dreyfus, Jane Lynch, Judy Greer oder Amy Poehler.

Letztere beiden fügen sich noch am gelungensten in die fremde Umgebung ein, wobei Poehler es auch leicht gemacht wurde, da sie nur über Szenen mit Ehemann Arnett verfügt. Das grundsätzliche Rezept der ersten Staffel (wie auch der Serie) ist Redundanz - und das geht im Ansatz sogar überraschenderweise auf. Sei es der wiederkehrende Gag mit dem neuen Adoptivsohn der Familie (“Annyong“) oder die Gefängnispolitik der körperlichen Nähe (“No touching!“). Die wenigen netten Momente der meist unterdurchschnittlichen Folgen (lediglich Shock and Aww ragt noch etwas heraus) können jedoch nicht darüber hinweg trösten, dass Arrested Development in seinem ersten Jahr ausgesprochen beliebig ausgefallen ist.

6.5/10

Arrested Development - Season Two

War die erste Staffel davon bestimmt, dass Michael bei seinen Verwandten den finanziellen Gürtel enger schnallt, so rückt die zweite Staffel nach der Flucht von George aus dem Gefängnis den Bruderzwist zwischen Ältesten und Zweitältesten in den Blickpunkt. Gob wird zum neuen Präsidenten ernannt - allerdings mehr als Aushängeschild, leitet Michael doch weiterhin die Geschicke. Zudem wird das Ensemble um ein zusätzliches Mitglied erweitert, wenn George Michael in Ann (Mae Whitman) seine erste eigene Freundin ergattert. Eine kriselnde Liebe dagegen erwartet endgültig Lindsay und Tobias, die zwar extrem erfolglos, aber dennoch bestimmt eine offene Beziehung als Ausweg für ihre Probleme etablieren.

Im zweiten Jahr steigert sich Arrested Development merklich, ohne jedoch deswegen sonderlich gelungen zu sein. Durch den stärkeren Fokus der meisten Handlungsstränge (Michael vs. Gob, George Michael ♥ Ann, Maeby & Filmbusiness) wirkt die Serie stringenter und weniger willkürlich, unabhängig davon, dass manche der Nebenhandlungen - insbesondere Tobias’ Bestrebungen, der Blue Man Group beizutreten - eher an den Nerven als an den Lachmuskeln zerren. So wird unter anderem auch Buster etwas geschliffen, wenn er zuerst von seiner Mutter Lucille in die Armee eingeschrieben wird und später seine rechte Hand an einen Seelöwen verliert. Zudem gibt es ein Wiedersehen mit alten Bekannten.

Die meisten Gastdarsteller des Vorjahres geben sich erneut die Ehre und werden dieses Mal unterstützt von manchem größeren Kaliber wie Thomas Jane, bis hin zu Ben Stiller oder Zach Braff. Besondere Präsenz zeigt dabei Mae Whitman, deren Integration als Ann (“Who?“) ebenso für einen weiteren gelungenen wiederkehrenden Gag herhält, wie auch Maebys Anstellung als Studioproduzentin (“Marry me!“). Es sind folglich erneut die redundanten Witze, die zum Fundament der Serie zählen, wie zum Beispiel der später einarmige Buster oder auch das Familiencharakteristikum, wie ein Huhn zu tanzen, um in den häufigsten Fällen Michael zu vermitteln, dass man ihn für ein feiges Huhn hält (siehe Ready, Aim, Marry Me).

Zwar vermeidet Hurwitz in der zweiten Staffel grobe Ausreißer nach unten (wie im Vorjahr im Mittelteil aufgetreten), eine wirklich überzeugende Folge will ihm jedoch ebenfalls nicht gelingen. Es sind eine handvoll Episoden wie Ready, Aim, Marry Me, Sword of Destiny oder Afternoon Delight, die etwas stimmiger geraten sind als ihre übrigen Kollegen. Insgesamt ließ sich also eine Steigerung verzeichnen, dank charakterlicher Entwicklungen insbesondere auch für Georges Zwillingsbruder Oscar (Jeffrey Tambor), dem im dritten und finalen Jahr ein besonderes Schicksal blühen sollte. Denn es deutete sich bereits an, dass Arrested Development trotz elf Emmy-Nominierungen seinem Ende entgegen sah.

7/10

Arrested Development - Season Three

Aller guten Dinge sind drei. Denn im dritten Jahr war dann Schluss mit Arrested Development, Kritikerlob hin oder her. Die Quoten waren eingebrochen, um ein ganzes Drittel, was zur Halbierung der georderten Episoden führte. Dass der ausstrahlende Sender Fox an dem ganzen Malheur nicht unschuldig ist, soll nicht bestritten werden, platzierte man die Sitcom im dritten Jahr doch auf denselben Sendeplatz wie das montagabendliche Footballspiel. Wohingegen einer wenig gesehenen, aber hochgelobten Sitcom wie 30 Rock bei NBC die Treue gehalten wird (ob zu Recht sei dahingestellt), wird man dagegen bei Fox abgesägt (ein Schicksal, das dort zuvor bereits Family Guy und Futurama ereilte).

Rückblickend kann - zumindest von meiner Seite aus - gesagt werden, dass dies im Falle von Mitchell Hurwitz’ Show eine richtige Entscheidung war. Denn die dritte Staffel, reduzierte Episodenzahl hin oder her, unterbot nicht nur das zuletzt relativ gelungene zweite Jahr, sondern zugleich noch die Pilotstaffel. Als Ursache hierfür lassen sich zwei Nebenhandlungen ausfindig machen, die zum einen weder interessant noch amüsant waren und zum anderen viel zu lange ausgewälzt wurden. So gibt Charlize Theron in fünf Episoden ab For British Eyes Only eine geistig zurückgebliebene Britin (und untermauert zugleich, dass sie absolut kein humoristisches Talent verfügt), mit der Michael eine Verlobung eingeht.

Des Weiteren tritt Scott Baio als neuer Anwalt der Familie auf, der zum einen die Blooth Company als solche berät, aber auch Lindsays und Tobias’ Scheidung voranbringen soll. Vorhergehende Story Arcs wie Busters Armeeverpflichtung oder die Gefühle von George Michael und Maeby werden fortgeführt, während der amüsanteste Subplot eines fälschlicher Weise inhaftierten Oscar (“I’m Oscar.com“) gleich zu Beginn zu finden ist. Ansonsten rettet sich Arrested Development im dritten Jahr in die Durchschnittlichkeit, der Vollständigkeit halber ließe sich For British Eyes Only noch als „Höhepunkt“ bezeichnen, obschon das euphemistisch ausgedrückt wäre. Am Ende hat es wohl einfach nicht sollen sein.

Dabei ist Arrested Development nicht zwingend eine schlechte Sitcom. Hurtwitz implementierte viele nette Ideen, deren Qualität sich in ihrer Redundanz zeigte. Egal ob die Namensgebung von George Michael, das sprachkulturelle Missverständnis um Annyong (der leider im Lauf der zweiten Staffel verschwand) oder Michaels Ablehnung von Ann. Der Humor der Show brillierte immer wieder kurz auf, doch wirkte dies stets wie ein Flackern in einer erlöschenden Glut. Irgendwie ans Herz gewachsen ist die Show aber dann doch, weshalb der seit Jahren diskutierte (und angeblich nächstes Jahr startende) Kinofilm von mir ebenfalls konsumiert werden wird. Ich bin eben schlussendlich doch ein feiges Huhn. Coo-coo-ca-cha!

6.5/10

24. Februar 2011

True Grit

You give out very little sugar with your pronouncements.

Wie viele große Hollywood-Stars war auch Marion Robert Morrison, besser bekannt unter seinem Bühnennamen John Wayne, eine ambivalente Figur. Mit problematischen Äußerungen über US-amerikanische Ureinwohner, Afroamerikaner und Sozialismus machte sich Wayne nicht nur Freunde (so hatte Josef Stalin einst ein Attentat auf ihn geplant). Dennoch galt Wayne vor allem als Patriot und wurde verständlicherweise zur US-Ikone. Seinen einzigen Oscar erhielt er dabei für seine Rolle in True Grit. Dass dieser nun ein Remake erfährt, das nicht als Leichenfledderei anmutet, verdankt man sicherlich den Umständen. Zuvorderst ist True Grit weniger ein Remake denn eine weitere Adaption des gleichnamigen Romans von Charles Portis.

Seit dem Oscar-Erfolg von No Country For Old Men gelten sie als die Unfehlbaren. Auch der jüngste Western der Coens ist wieder für unzählige Academy Awards nominiert und zugleich der erfolgreichste Film ihrer Karriere. Die Coen-Brüder Ethan und Joel orientierten sich in ihrer Version von True Grit mehr an der Vorlage als dies bei der Wayne-Verfilmung auf der Agenda stand, ohne es jedoch zu versäumen, John Wayne entsprechend Reverenz zu erweisen. So folgt auf den Duke in der Hauptrolle nur konsequent der Dude. Nach seinem Oscar als bester Hauptdarsteller in Crazy Heart kann Jeff Bridges, ohnehin mit einem Sympathienimbus ausgestattet, kaum Respektlosigkeit gegenüber der Rolle vorgeworfen werden.

Im Gegenteil, schnallt er sich doch sogar jene Augenklappe um, die der einäugige Held in Portis’ Roman vermissen lässt. Sowieso rückt Waynes True Grit in weite Ferne, bedenkt man, dass den Coens nicht nur der finanziell einträglichste Western seit Kevin Costners Dances With Wolves gelang, sondern – mit einem Einspielergebnis jenseits der 100-Millionen-Dollar-Marke sowie zehn Oscarnominierungen – zugleich ihre bisher erfolgreichste Arbeit. Gewohnt schwarzhumorig erzählen sie in True Grit die Geschichte der 14-jährigen Mattie Ross (Hailee Steinfeld), die den versoffenen, einäugigen US-Marshal Rooster Cogburn (Jeff Bridges) für 50 Dollar anheuert, um Tom Chaney (Josh Brolin), den Mörder ihres Vaters, zu überführen.

Auf ihre Suche nach Chaney erfahren sie zusätzliche Unterstützung durch den Texas Ranger LaBoeuf (Matt Damon). Obschon sich auch hier wieder viele stilistische Merkmale der Brüder finden lassen – von den schrulligen Figuren wie Cogburn und LaBoeuf bis hin zu schnellzüngigen Tischdialogen –, leidet True Grit zugleich an den damit oft Hand in Hand gehenden narrativen Unausgewogenheiten. Die eigentliche Handlung wirkt bisweilen sehr konstruiert, und die Coens versäumten es, sie inhaltlich kohärenter oder zumindest glaubwürdiger zu gestalten. So trabt Mattie in einer charakterbildenden Szene mit ihrem Pony durch einen Fluss, während zuvor Cogburn und LaBoeuf für dessen Überquerung eigens einer Fähre bedurften.

Auch die Einleitung zur finalen Klimax erinnert stark an Deus ex machina. Wie so oft bleiben dem Zuschauer die Charaktere emotional weitestgehend unnahbar. Bridges’ versoffener Marshal wirkt in der Tat so, als ob der Dude einen auf Duke macht, wohingegen Damons selbstüberzeugter LaBoeuf in seiner karikierten Art wie ein Spiegelbild seiner Role aus The Informant! wirkt. Über beide Figuren lässt sich allenfalls schmunzeln, über ihre Katharsis im Finale dagegen weniger. Klare Identifikationsfigur soll und muss daher die von Hailee Steinfeld (sehr überzeugend) gespielte Mattie sein, deren Vendetta angesichts ihres Alters und der bereitwilligen Vernachlässigung von Seiten ihrer Mutter allerdings etwas leicht befremdlich anmutet.

Dass die Coens zudem interessante Figuren wie Brolins Chaney oder einen Lucky Ned Pepper (Barry Pepper) in ihrer Eindimensionalität vergammeln lassen, ist da umso bedauerlicher. Von technischer Seite ist True Grit jedoch wie alle Coen-Filme über jeden Zweifel erhaben. Zeigte sich bereits in Andrew Dominiks phantastischem The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford, dass die verwahrlosten Weiten des Wilden Westens eine metaphorisch dichte und atmosphärisch stimmige Kulisse abgeben, wird dies von Roger Deakins’ kalten Bildern nochmals untermauert. Carter Burwells Komposition zählt, auch wenn sie manch humoristischen Aspekt konterkariert, ebenfalls zu den gelungensten Eigenschaften dieses Films.

Wären die Werke der Brüder von inhaltlicher Seite stets ebenso gekonnt in Szene gesetzt wie dies bei Kamera, Licht, Schnitt und Musik der Fall ist, hätte auch das Publikum mehr davon. „Joel und Ethan Coen stehen für erstklassiges amerikanisches Independent-Kino“, hat Dieter Kosslick über den diesjährigen Berlinale-Eröffnungsfilm verlautet. Mit Independent-Kino haben die Coens  seit Intolerable Cruelty aber wenig zu tun, kosteten ihre letzten fünf Filme im Schnitt doch fast 40 Millionen Dollar. Allerdings zeigt Kosslicks Äußerung sehr gut, dass die Coens seit No Country For Old Men als “larger than life” verklärt werden. Letztlich ist True Grit eine solide Western-Komödie, erstklassig inszeniert, aber mit manch narrativem Fauxpas.

6/10

20. Februar 2011

Kynodontas

Whoever deserves it will get it.

Am 20. Oktober 2006 war es dann soweit. Die Polizei stand vor der Tür. Klingelte, sprach auf den Anrufbeantworter, drohte, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Was war passiert? Der bibeltreue Christ und Musiklehrer Uwe Romeike aus dem baden-württembergischen Bissingen an der Teck hatte drei seiner Kinder nicht in die Schule gebracht. Der Unterricht sei „weder christlich noch wertneutral“ äußerte Romeike damals gegenüber dem Spiegel. Dass in Deutschland Schulpflicht herrscht, war Romeike egal. Es folgte ein großes Drama. „Die Beamten brachten die aufgeregten und weinenden Kinder zur Schule“, schilderte die Süddeutsche Zeitung damals. Vor einem Jahr erhielten die Romeikes schließlich politisches Asyl in den USA, wo sie nun das Recht haben, ihre Kinder Zuhause zu unterrichten.

Deutschland hat was das Thema „Hausunterricht“ angeht in Europa eine Ausnahmestellung. Denn hier herrscht keine Bildungs-, sondern eine Schulpflicht. Während Hausunterricht in anderen Ländern wie England und Frankreich also möglich ist, wird er in Deutschland nur in Extremfällen gestattet. Zwar ist Hausunterricht nicht das Thema von Yorgos Lanthimos’ Kynodontas, aber auch bei Lanthimos sind drei Kinder abhängig von der Obhut ihrer Eltern. Auf einem idyllischen Anwesen hält ein Fabrikant (Christos Stergioglou) seine Familie gefangen. Im Einvernehmen mit seiner Frau (Michele Valley) dürfen der gemeinsame Sohn (Christos Passalis) und die beiden Töchter (Aggeliki Papoulia, Mary Tsoni) das Gelände nicht verlassen. Von der Außenwelt kriegen sie nichts mit.

Vorbei fliegende Flugzeuge sind Spielzeuge - ein Glauben, den der Vater dadurch aufrecht erhält, da bisweilen eines von ihnen im Garten landet. Tagsüber vertreiben sich die Kinder die Zeit, indem sie sinnlose Wettkämpfe um die Gunst ihres Vaters führen. Zum Beispiel, wer am längsten die Luft anhalten kann. Und wenn Vater gut gelaunt ist, dann wird abends sogar ein Familienvideo geschaut oder Musik des Großvaters gehört, der eigentlich Frank Sinatra heißt und dessen Worte der Vater ad hoc übersetzt. Alle scheinen glücklich. Die Eltern, weil sie ihre Kinder vor den Gefahren der Welt schützen. Und die Kinder, weil sie es nicht besser wissen. Bis der Vater glaubt, die sexuellen Wünsche seines Sohnes befriedigen zu müssen und eine Außenstehende nach Hause bringt.

Dass Kynodontas dieses Jahr für einen Academy Award als bester fremdsprachiger Film nominiert ist, verwundert. Denn der Film ist alles andere als massentauglich. Vergleiche ordnen Lanthimos’ zweiten Spielfilm zwischen den Enfants terribles Lars von Trier und Michael Haneke ein. Und der Grieche scheint fraglos beeinflusst von Haneke, von Trier, Pasolini und dergleichen Regisseure, die auf kontroverse Weise soziokulturelle Denkansätze verfolgen. In einer Szene erfragt der Vater bei einem Hundetrainer den Fortschritt seines Dobermanns. Dieser zeige jedoch noch nicht “how we want your dog to behave“. Ähnlich wie der Hundetrainer den Dobermann scheint der Vater wiederum seine Kinder abzurichten. Das Resultat sind dabei meist absurd-komische Erziehungsmaßnahmen.

Da wird gerne mal mit Familienzuwachs und Zimmerzusammenlegung gedroht, wenn die Mutter verkündet, sie sei schwanger mit Zwillingen und einem Hund. Nur um zu beschwichtigen: “I might avoid giving birth“. Auf Nachfrage verkommen Zombies dann zu gelben Blumen und eine plötzlich in das Anwesen eindringende Katze wird als “the most dangerous animal there is“ tituliert. Nichts, was passiert, wird von Vater und Mutter außer Acht gelassen, jede Kleinigkeit zum Bestandteil ihres Lügengerüsts und die Beteiligten letztlich die Opfer jenes selben. “You can’t trust anyone anymore“, sagt der Vater im dritten Akt, in welchem auch die letzten Grenzen zwischen Moral und Ethik verschwimmen. Getreu dem Marquis de Sade: „Jedes universale Moralprinzip ist ein vollkommenes Hirngespinst.“

Lanthimos ist mit Kynodontas ein ungemein faszinierender Film gelungen, in dem nicht wirklich viel gesprochen oder agiert wird, was jedoch keineswegs dazu führt, dass er an Aufmerksamkeit einbüßt. Dass man im Grunde nichts erfährt, weder wie in medizinischer Hinsicht mit den Kindern verfahren wird, ob diese glauben, dass es mehrere, ihrem Anwesen ähnliche „Enklaven“ gibt oder warum eigentlich ein verlorener Bruder auf sich allein gestellt hinter dem Holzzaun im Garten leben soll, stört nicht. Die Dinge sind eben so, wie sie sind und werden vom Zuschauer wie den Kindern gleich akzeptiert. Dass diese aufgrund ihres Verhaltens jene naive Unschuld bewahrt haben, die ihnen die Eltern lassen wollten, ist Voraussetzung für die Funktionalität und Authentizität des Gezeigten.

Die Inszenierung des Films ist minimalistisch, wie auch das Spiel der Beteiligten. Die Dialoge werden oft hölzern und emotionslos vorgetragen, die Lieb- und Leblosigkeit ein Spiegelbild der Kinderseelen. Eventuell als Analogie auf die Genesis sind es dabei die Töchter, die die Grenzen ihres „Paradieses“ ausloten. So unkonventionell und gut Kynodontas ausfallen ist, erscheint es dennoch unwahrscheinlich, dass er tatsächlich mit dem Oscar ausgezeichnet wird. Was den Verdienst des Films für das griechische Kino nicht schmälert. Im Übrigen ist Hausunterricht auch in Griechenland illegal. Aber wie meinte schon de Sade: „Es gibt keine Handlungsweise, und mag sie uns noch so unmoralisch erscheinen, die nicht irgendwo auf der Welt als selbstverständlich geduldet oder gar gebilligt würde.“

8/10

16. Februar 2011

The King's Speech

Dank zwölf Oscarnominierungen schickt Harvey Weinstein, Jäger der verlorenen Goldjungen, mit The King’s Speech zumindest auf dem Papier den Favoriten für die überbewerteste Preisverleihung der Welt ins Rennen. Damit kriegt Tom Hoopers Film sehr viel mehr Aufmerksamkeit als er verdient hat. Als komödiantisches Historiendrama mit absurd-charmanter Prämisse und Schauspielkino erster Güte (an Colin Firth wird kein Weg als Bester Hauptdarsteller vorbei führen) funktioniert der Film zwar ganz gut. Die blassen Charaktere und allerlei Redundanzen kann dies jedoch nicht vollends kaschieren. Eine ausführliche Rezension gibt’s bei Evolver.

7/10

12. Februar 2011

127 Hours

Rock on!

In seinen Filmen berichtet der britische Regisseur Danny Boyle stets von Isolation, von der Ausgrenzung einer kleinen Gruppe vom Rest der Gesellschaft. Sei es eine exklusive und  exzentrische Wohngemeinschaft in Shallow Grave, Junkies in Trainspotting, ein Liebespaar auf der Flucht in A Life Less Ordinary, eine Backpacker-Kommune in The Beach, Überlebende einer Zombie-Pandemie in 28 Days Later, zwei Kinder mit spontanem Reichtum in Millions, Astronauten auf Weltrettungsmission in Sunshine oder indische Straßenkinder auf der Suche nach Liebe in Slumdog Millionaire. Doch nie inszenierte Boyle dieses Thema der Isolation so konsequent und offensichtlich, wie in seinem jüngsten Abenteuerdrama 127 Hours.

Nach seinem Regie-Oscar vor zwei Jahren hätte Boyle in die A-Liga Hollywoods aufsteigen können, wo die Budgets im neunstelligen Bereich laufen. So war der Brite unter anderem für die Inszenierung des neuen Bond-Films im Gespräch, doch schlechte Erfahrungen mit The Beach dürften Boyle weiterhin vom Blockbuster-Kino zurückschrecken lassen. Stattdessen nutzte er den Karriere-Push des Oscars, um eine Geschichte durchzuboxen, die er bereits seit Jahren erzählen wollte: Die Geschichte von Aron Ralston. Als der gelernte Maschinenbauer und begeisterte Bergsteiger im Mai 2003 auf eine Wochenendwanderung in den Blue John Canyon in Utah aufbrach, war er beinahe nicht mehr zurückgekehrt.

Die Geschichte eines Mannes, der über fünf Tage lang (genauer: 127 Stunden) durch einen Felsbrocken eingeklemmt war und zu verdursten drohte, ist nun mangels Interaktion und Action nicht gerade von großem Interesse. Und dennoch gelingt es Boyle mit 127 Hours ein packendes und intensives Drama abzuliefern, was umso bemerkenswerter ist, da der Ausgang des Szenarios bekannt ist. Hier verkommt ein vorbei fliegender Rabe und 15 Minuten morgendlicher Sonnenschein nicht nur für Aron Ralston (James Franco) zum Happening. Dass der sich durch den Canyon preschende Lichtstrahl Ralston auch angesichts seiner Situation noch ein bewunderndes Lächeln beschert, charakterisiert die Figur ganz gut.

Früh beginnt er, sich seinen Wasservorrat einzuteilen und verflucht, seine zusätzliche Flasche Gatorade im Wagen und sein Schweizer Armeemesser zu Hause gelassen zu haben. Ralston ist ein Abenteurer, der seine Wochenenden lieber alleine in der Natur verbringt, als mit seiner Freundin Rana (Clémence Poésy). Die Rückblenden, die Boyle seinem Protagonisten schenkt, zeigen ein ambivalentes Bild von ihm. So scheint er seinem Vater (Treat Williams) die Liebe zu den Canyons zu verdanken, seine Mutter (Kate Burton) ruft er jedoch nie zurück und mit Rana macht er schweigend während eines Basketballspiels Schluss. Es wirkt, als pralle dies alles am extrovertierten Ralston ab, der einzig für seine Naturausflüge lebt.

Als er zu Beginn die verirrten Freundinnen Kristi (Kate Mara) und Megan (Amber Tamblyn) trifft, verbringt er zwar einige Stunden mit ihnen, aber wenn Kristi bei der Verabschiedung resümiert, dass sie ihn wohl eher aufgehalten haben, liegt das nahe an der Wahrheit. Den Preis für seine Egomanie zahlt Ralston spätestens dann, als ein losgelöster Felsbrocken seinen rechten Unterarm einklemmt. Die Rückblenden, sowie Aufzeichnungen auf seiner Digitalkamera, unterbrechen gelungen die dramatische Situation. Wirklich nahe bringen sie einem die Hauptfigur jedoch nicht, die zwar nicht unsympathisch wirkt, deren Befreiung man ihr jedoch eher wünscht, weil man niemanden so enden sehen will.

Zugleich spielt James Franco (obschon nur zweite Wahl des Regisseurs) den lebensfrohen Ralston mit einer ebenso lebendigen Leistung. Es ist logisch und konsequent, dass von seiner Darstellung der Erfolg des Filmes abhängt, gibt es doch keine Szene, in der er nicht zu sehen ist. Audiovisuell ist 127 Hours dabei wie die meisten Filme Boyles ein Genuss, selbst wenn das Splitscreen-Verfahren zu Beginn ob seiner Länge und plakativen Verdeutlichung des Filmthemas (Gesellschaft der Massen vs. Isolation von Ralston) gerne kürzer hätte geraten dürfen. Ähnlich verhält es sich mit Ralstons durch Dehydrierung ausgelösten Halluzinationen, von denen besonders seine Schwester (Lizzy Caplan) keinen Mehrwert bringt.

Wo Boyles Mumbai-Märchen zum Feel Good Movie des Jahrzehnts verschrien wurde, käme dieser Titel zumindest in seinem Œuvre eher 127 Hours zu. “He went in there broken, and came out whole“, sieht der Regisseur selbst die Katharsis seiner Figur, die erst in einer Bergschlucht merkte, was in ihrem Leben falsch lief. Ist der Film gerade in seiner Klimax quälend-hoffnungsvoll, sprießen die satten rot-braun Töne der Bilder ansonsten vor lebensbejahender Freude. Mit 127 Hours ist Danny Boyle ein bisweilen amüsantes, sowie weitestgehend intensives Drama von abenteuerlicher Romantik gelungen, ansprechend audiovisuell verpackt und garniert mit einer bewegenden Leistung des Hauptdarstellers.

7.5/10

8. Februar 2011

Constantine

That’s called pain. Get used to it.

Seit fast 20 Jahren gibt es das DC-Imprint Vertigo, welches 1993 das Licht der Welt erblickte, um Comics mit etwas reiferem Inhalt inklusive graphischer Gewalt für ein älteres Publikum interessant zu machen. Für Vertigo entstanden dabei so geschätzte Werke wie Y: The Last Man, 100 Bullets, sowie Neil Gaimans The Sandman und Garth Ennis’ Preacher. Doch das bekannteste Kind des Imprints ist Hellblazer, das seine ersten Schritte 1988 noch unter Leitung von DC tätigte, ehe es zu Vertigo überging und damit zu dessen längstwährendem Titel avanciert. Dabei verdankt Hellblazer seine Existenz keinem Geringeren als Comic-Guru Alan Moore.

Denn es war Moore, der John Constantine 1985 als Nebenfigur für The Saga of the Swamp Thing erfand, ehe dem okkultistischen Detektiv drei Jahre später unter Federführung von Jamie Delano eine eigene Comic-Reihe gewährt wurde. Über die Jahre hinweg würden sich auch Neil Gaiman, Brian Azzarello, Andy Diggle sowie Garth Ennis an dem Liverpooler Kettenraucher versuchen. Speziell der von Ennis geschriebene Handlungsbogen Dangerous Habits wurde zu einem Klassiker der Hellblazer-Serie und bildete elf Jahre nach seinem Erscheinen 2005 das Handlungsgerüst der Comic-Adaption Constantine von Francis Lawrence.

Was seine Charakterzeichnung angeht, ist John Constantine - dessen äußeres Erscheinungsbild dem britischen Sänger Sting nachempfunden wurde - nicht zwingend eine ausgesprochen sympathische Figur. Für Constantines eigensinnige Handlungen zahlen letztlich oft seine Freunde und Bekannten den Preis. Wenn es in der nach dem Titelhelden benannten Kinoversion an einer Stelle (aus dem Kontext) gerissen heißt: “I don’t need another ghost following me around”, dann ist dies als Anspielung auf die unzähligen Geister von Constantines Freunden zu verstehen, die ihn in Hellblazer verfolgen und kontinuierlich an seine Fehler erinnern.

“He’s more about manipulating people than using magic”, beschreibt Karen Berger, Chefredakteurin von Vertigo, den englischen Anti-Helden. So ist Constantine auch kein klassischer Comic-Held mit übermenschlichen Fähigkeiten, sondern ein Kerl aus Fleisch und Blut, der mittels schwarzer Magie, Okkultismus sowie Esoterik und, vielmehr noch, dank Cleverness dem Teufel und Co. immer wieder ein Schnippchen schlägt. Anders dagegen in Constantine, der umbenannt wurde, um Verwechslungen des Publikums mit der Hellraiser-Serie (wie Hellblazer ursprünglich heißen sollte) und dem im Jahr zuvor gestarteten Hellboy vorzubeugen.

So wurde der blonde Okkultist aus dem Liverpool der Thatcher-Ära zum schwarzhaarigen Exorzisten aus Los Angeles. Seinen Job übt Constantine (Keanu Reeves) auch nur deswegen aus, weil er als Kind von seiner Fähigkeit - er kann Engel und Dämonen sehen - in den Suizid getrieben wurde und sich nun versucht, (s)einen Weg in den Himmel zu erheilen. Adrett gekleidet im schwarzen Anzug gibt Reeves den Helden wider Willen. Besonders dramatisch wird das religiöse Erbe der begangenen Todsünde, da Constantine, hier wird das Handlungsgerüst von Garth Ennis aus Dangerous Habits aufgegriffen, an Lungenkrebs im Endstadium leidet.

Eine überzeugende Wahl, repräsentiert der Erzählbogen doch im Grunde alles, wofür Hellblazer steht. Ausgesprochen schwarzhumorig zeigt sich Constantine hier im Finale von seiner besten Seite, wenn er dem Tod vorerst von der Klinge springt, indem er Luzifer, Azazel und Belzebub gegeneinander ausspielt. Besonders interessant wird Ellis’ Geschichte dadurch, dass Constantine angesichts seines drohenden Todes Hilfe nicht nur bei der einen Seite (in Form von Erzengel Gabriel), sondern auch der anderen (die Dämonin Ellie) sucht. In Constantine scheitert die Einbindung von Dangerous Habits letztlich am Versuch, mehr zu erzählen als nötig ist.

So macht Francis Lawrence, der mit diesem Film sein Regiedebüt feierte, erfreulicherweise keinen Hehl daraus, dass Constantine entgegen der Gewohnheit anderer Comic-Verfilmungen keine Origin-Story erzählen will. Zumindest so halb, wird später schließlich dennoch, wenn auch per Rückblende, eine fiktive Origin-Story eingebaut und versucht, mit der Haupthandlung in Korrespondenz zu bringen. Knapp zusammengefasst ist dies auch der Grund, warum Constantine als stimmig-stringentes Werk zum Scheitern verurteilt ist. Anstatt sich auf das individuelle Schicksal seines Helden zu fokussieren, wird die ganze Welt in Gefahr gebracht.

In einer vollkommen unerheblichen Nebenhandlung stößt ein Mexikaner in der Wüste auf die von den Nazis entdeckte Heilige Lanze, im Englischen weitaus plakativer “Spear of Destiny” genannt. Mit ihr stapft er nach Los Angeles, wo sie im perfiden Plan von Erzengel Gabriel (Tilda Swinton) dazu dienen soll, Luzifers (Peter Stormare) Sohn Mammon aus dem Leib eines Mediums, hier: Mordkommissarin Angela (Rachel Weisz), zu befreien, damit dieser die Hölle auf Erden entfacht und nur noch diejenigen in den Genuss von Gottes Gnade kommen, die sie auch verdienen. Und das alles nur, damit die Weltenrettung zur Katharsis des Helden verkommen kann.

“I love the fact that the movie never bothered to try to explain itself”, ist Produzent Akiva Goldsman voll des Lobes. Was an sich in Ordnung ginge, wenn das, was der Film zeigt, zumindest einem bestimmten Sinn folgt. Stattdessen wird Constantine vollgemüllt (anders lässt es sich nicht sagen) mit eigens erfundenen Figuren wie Hennessy (Pruitt Taylor Vince) und Beeman (Max Baker), die zwar, wie im Finale auch Chas (Shia LaBeouf), für die Handlungen von Constantine ihr Leben lassen dürfen, ohne dass dies jedoch entsprechend innerhalb der Geschichte gewürdigt würde. So sterben sie lediglich den obligatorischen Tod der ersetzbaren Figuren.

Selbst wenn Hennessys Tod eine charmante Hommage an Jamie Delanos erste Hellblazer-Ausgabe Hunger darstellt (wie auch später noch nett aber durchweg nutzlos weiter reminisziert wird, zum Beispiel aus Feast of Friends), negiert Lawrences Debüt nahezu alles, was das Vertigo-Comic eigentlich auszeichnet. Da zeigt sich Constanine zu Beginn als lässig-cooler Exorzist, von dem es dann später für den Comic-fremden Zuschauer plötzlich heißt, dass seine Seele für Luzifer so begehrenswert ist, dass er sie sich persönlich abholen würde. Was im Finale dann nur dazu dient, eine Situation zu klären, die Constantine alleine nicht bereinigen konnte.

Das trostlose und heruntergekommene Liverpool der achtziger Jahre weicht der erstaunlich leeren Multikulti-Metropole Los Angeles, wo sich Constantine in sinnlosen Szenen vor Tankstellen mit Fliegenmonstern kloppt oder andernorts Gwen Stefanis Ehemann Gavin Rossdale mit einem christlichen Schlagring die Dämonenfresse poliert. Die Handlung bringt das genauso wenig weiter wie die überflüssigen Integrationen bekannter Hellblazer-Figuren wie Papa Midnite (Djimon Hounsou) oder Shia LaBoeufs Chas. Dass die viel interessantere Figur, Ellie (Michelle Monaghan), der Schere zum Opfer fiel (bis auf eine Szene im dritten Akt), spricht Bände.

Vom düsteren Charakter der Vorlage, die sehr viel mehr in der Realität verordnet war als dies bei Constantine mit seinen pseudo-Schock-Elementen der Fall ist, bleibt nicht mehr viel übrig oder geht unter in all den Weihwasser-Granaten- und Halbkopf-Dämonen-Szenen. Zudem will die schlecht ausgearbeitete (da von den Drehbuchautoren erdachte) Handlung um die Heilige Lanze nicht mit dem von Ennis’ übernommenen Gerüst bezüglich Constantines Krebs harmonisieren. Hinzu kommt, dass Figuren wie Hennessy oder Beeman schlicht zu wenig eingeführt wurden, als dass sie für das Publikum (oder Constantine) von Bedeutung wären.

Dabei hat der Film seine Momente, sei es die durchaus stimmige Charaktereinführung mittels des Exorzismus (“This is John Constantine, asshole”), der immerhin interessant inszenierte Ausflug in die Hölle, sowie zuvorderst die vielen Anspielungen zu Dangerous Habits, allen voran die exzellent besetzte Tilda Swinton. Den Engel Gabriel androgyn mit einer derart passenden Person zu besetzen war vielleicht der gelungenste Schachzug der Comic-Adaption. Wo mit Abstrichen auch Weisz und Stormare (Letzterer mit ordentlichem Camp-Faktor) überzeugen, bleibt LaBeouf fehlbesetzt wie eh und je und Reeves gewohnt austauschbar.

Constantine scheitert bereits an seiner Marktausrichtung. Erst als die Titelfigur vom Briten zum US-Amerikaner wurde, zeigten die Produzenten überhaupt Interesse. Der Wechsel über den Atlantik tat dem Hellblazer-Universum zusätzlich Abbruch und ließ den Plot am Ende so austauschbar werden, wie die darstellerischen Fähigkeiten ihres Hauptdarstellers. Eine reine, in Liverpool lokalisierte, Adaption von Dangerous Habits mit Daniel Craig oder Rhys Ifans in der Hauptrolle wäre dem Film sicher zum Vorteil gereicht. “There’s more than one road to hell”, erklärt Constantine am Ende von Going for It zynisch. Und Constantine ist eine dieser Straßen.

4.5/10

4. Februar 2011

Nostalgia de la Luz

Somos los leprosos de Chile.

Die Atacamawüste im Norden Chiles gilt als die trockenste Wüste der Erde. Denn sie ist eines der wasser- und regenärmsten Gebiete der Welt, was zugleich die weitestgehende Abwesenheit jeglichen Lebens nach sich zieht. Man sieht keine Pflanzen, keine Eidechsen - nicht einmal Insekten. Das einzige Leben, das sich bisweilen in der Atacamawüste findet, sind die Gebeine der Desaparecidos, der Verschwundenen. Rund 1.500 Chilenen verschwanden laut Amnesty International allein 1973, dem Jahr als General Augusto Pinochet die Macht in Chile ergriff. Im selben Jahr sollen 75 Regimegegner in der Atacamawüste hingerichtet worden sein, insgesamt werden Pinochets Regime über 3.000 Morde zur Last gelegt.

Wer sich heute in die Atacamawüste begibt, wird vermutlich auf dem Weg zum Paranal-Observatorium respektive zu einer der anderen Sternwarten sein, die hier beheimatet sind. Oder er untersucht die historischen Steingravuren von präkolumbianischen Indios. Bisweilen sieht man auch einige Seniorinnen, die mit Spaten bewaffnet durch die trostlose Wüste stapfen und halb resignierend mit müden Bewegungen den trockenen Boden nach den Knochen vermisster Verwandter durchwühlen. Alle drei Parteien begeben sich auf eine geschichtliche Reise in die Vergangenheit, sei es Astronom Gaspar, Archäologe Lautaro oder die 70-Jährige Violeta, die nach den menschlichen Überresten ihres Bruders Jose forscht.

In seinem essayistischen Dokumentarfilm Nostalgia de la Luz schafft Patricio Guzmán es geschickt, alle drei Handlungen miteinander zu verweben. Hierbei stehen besonders die astronomische und historisch-politische Komponente im Vordergrund. Denn das Kalzium in den menschlichen Knochen findet sich auch in den Sternen. Insofern hat die Verbindung zwischen dem Kalzium der Gebeine der Desaparecidos im Boden der Atacamawüste mit dem Blick auf die Sterne durch jene sich in selbiger Wüste befindenden Observatorien fast schon etwas Harmonisches. Doch wo Gaspar mit begeisternden Worten von seinem Handwerk sprechen kann, finden sich in Violetas Stimme nur Schmerz und Trauer.

Ihre Geschichte und die der anderen Angehörigen, die seit Ende der Achtziger auf das Schicksal der Desaparecidos in der Atacamawüste hinweisen, ist derart ergreifend und erschütternd, wie man es wohl selten auf der Leinwand miterlebt. Das Schicksal dieser Frauen, denen die Ehemänner, Brüder und Söhne geraubt wurden, bedrückt. Guzmáns steter Wechsel zwischen den Handlungssträngen wirkt da fast störend, selbst wenn Nostalgia de la Luz über einen roten Faden verfügt, der das filmische Konstrukt gelungen zusammenhält. Dennoch erzeugen weder Gaspars noch Lautaros Ausführungen auch nur ansatzweise so viel Spannung, Emotion und Beteiligung beim Zuschauer wie Pinochets trauriges Erbe.

Zu Beginn erläutert Astronom Gaspar sehr gelungen die Zeittheorie von Augustinus, nach der die Gegenwart an sich nicht existiert, sondern stets und sofort ins Vergängliche übergeht. Die von Guzmán unternommene filmische Reise in die Vergangenheit - der Kreis schließt sich später, wenn Violeta in Gaspars Observatorium selbst den Blick zu den Sternen wagt - kann grundsätzlich überzeugen, doch kommt man nicht umhin, das Potential der Desaparecidos als groß aufgezogenes Drama zu erkennen, und somit die letztendliche Beschränkung jener Geschichte als eine von vielen zu bedauern. Als essayistisches Produkt und soziopolitisch-wissenschaftliche Symbiose geht Nostalgia de la Luz jedoch in Ordnung.

6/10