28. August 2012

Pi

When I was a little kid, my mother told me not to stare into the sun.
So once, when I was 6, I did.


Der Mensch ist fasziniert von Zahlen, eignen sie sich doch gut für allerlei Spielereien. In der TV-Serie Lost mussten die Charaktere alle 108 Minuten die Zahlenfolge 4, 8, 15, 16, 23 und 42 in einen Computer eingeben, deren Summe wiederum ebenfalls 108 war. Die Zahl 23 faszinierte die jeweilige Hauptfigur in Filmen von Joel Schumacher und Hans-Christian Schmid, während Max Cohen (Sean Gullette) in Darren Aronofskys Debütfilm Pi besessen von der Kreiszahl π ist. “Mathematics is the language of nature”, ist dieser sich sicher. “There are patterns, everywhere in nature.” Und alles, was es bedarf, um die Natur – und damit die Welt – zu verstehen, ist eine entsprechende mathematische Formel. Hält π also alle Antworten?

Für $60.000 mit Unterstützung von Freunden und Familien teils illegal in New Yorker U-Bahn-Stationen gedreht, weist Pi bereits viele Merkmale von Aronofskys späterem Schaffen auf. Dabei können Pi und Requiem for a Dream sowie The Wrestler und Black Swan getrost als Pärchenfilme bezeichnet werden, mit dem Langzeitprojekt The Fountain als center piece. Was alle Filme miteinander eint, ist der von Obsessionen geplagte Hauptprotagonist, der sich mehr und mehr in seinem Streben zu verlieren scheint. Egal ob Ballerina Nina (Natalie Portman), Wrestler Randy (Mickey Rourke), Neurologe Tom (Hugh Jackman), die drogensüchtige Familie Goldfarb (Ellen Burstyn/Jared Leto) oder hier nun Gullettes Max Cohen.

Das vorherrschende Element der Paranoia eint Aronofskys Debüt wiederum mit seinem jüngsten Film. Sowohl Max als auch Nina fühlen sich von ihrer Umgebung verfolgt, doch nur im Falle von Max scheint diese Gefahr auch tatsächlich real. Seine Forschungen rufen Drittparteien auf den Plan, Vertreter von Kapitalismus und Religiosität. Max zufolge ist die Natur durchzogen von Mustern: “So what about the stock market?” Sein Bestreben, die Aktienkurse vorauszusagen, weckt das Interesse der Wall Street in Person von Marcy Dawson (Pamela Hart), während die Entdeckung einer 216-stelligen Zahlenfolge Lenny Meyer (Ben Shenkman) und seine chassidistische Sekte auf ihrer Suche nach Gott anlockt.

“Hebrew is all math”, gewinnt Lenny mittels Gematrie die Aufmerksamkeit von Max. Hin und hergerissen zwischen den beiden Parteien – die Banker bieten ihm einen Ersatzchip für seinen gewaltigen, durchgebrannten Rechner „Euklid“ – verliert Max mehr und mehr den Boden unter den Füßen als seine Migräneanfälle zunehmen. Mit Fortführung der Geschichte bewahrheitet sich, wovor Max von seinem Mentor und Freund Sol (Mark Margolis) gewarnt wurde: Er mutiert vom Mathematiker zum Numerologen. Von der 216-stelligen Zahlenfolge, π und ihren Zusammenhängen besessen, gleiten die Figuren immer mehr in den Abgrund hinab. “This is insanity”, sagt Sol an einer Stelle. “Maybe it’s genius”, erwidert Max.

Genie und Wahnsinn liegen oft dicht beieinander – so auch in Aronofskys Pi. Die Beziehung zwischen Sol und Max wird auch von Ersterem selbst in Relation gesetzt mit der Geschichte von Ikarus. “Life isn’t just mathematics”, versucht Sol, der selbst vier Jahrzehnte an π geforscht hat, seinen Schützling wieder in die Realität zurückzuholen. Doch im Regelfall sind Aronofskys Figuren zum Scheitern verurteilt und haben im Kampf mit ihrer Obsession das Nachsehen. Narrativ ist sein Debüt, welches Aronofsky im Audiokommentar als seinen – nur bedingt gelungenen – Versuch eines “cyberpunk movies” beschreibt, somit nicht weit weg von seinen späteren Arbeiten, sodass sich Pi am ehesten durch seine Inszenierung auszeichnet.

In Erinnerung bleibt Aronofskys Einsatz der SnorriCam, um den Zuschauer näher an Max’ Erlebnissen teilhaben zu lassen. Auch der Schnitt von Oren Sarch und die Musik von Clint Mansell stechen hervor und lassen teilweise Einflüsse von Danny Boyles Trainspotting erkennen. In allen Bereichen, von der Narration über die Verwendung der SnorriCam sowie Schnitt und Musik, wird Aronofskys zwei Jahre später erscheinender Requiem for a Dream eine Weiterentwicklung aufweisen können. Als erste Fingerübung und experimenteller Independent-Film geht Pi jedenfalls durchaus in Ordnung und hat einige interessante Ideen zu bieten. Und ein Einspiel von über $3 Millionen. Eine Zahl, mit der Aronofsky gut gelebt haben dürfte.

6.5/10

22. August 2012

We Need to Talk About Kevin

There is no point. That’s the point.

Einer Studie der Universität Oldenburg von 2009 zufolge ist Kevin unter Grundschullehrern kein Name, „sondern eine Diagnose“. Damit befindet er sich in bester Gesellschaft mit den Justins, Chantals und Mandys in Deutschland – Kinder, deren Weg bereits durch ihre Namen vorherbestimmt scheint. Zumindest wenn es nach Grundschullehrern geht, die sie als verhaltensauffällig und frech einstufen. Ähnliche Phänomene gibt es natürlich auch in anderen Ländern und zugegeben, sein Name war wohl nicht die Ursache, warum in Lynne Ramsays We Need to Talk About Kevin über Ezra Millers Protagonisten geredet werden muss. Dabei weist der genau die Symptome auf, die ihm die Oldenburger Studie bescheinigt.

Basierend auf dem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2003 von Lionel Shriver wird die Vor- und Nachgeschichte eines Schulmassakers erzählt – aus der Sicht der sich verantwortlich fühlenden Mutter. Diese wird im Film von Tilda Swinton bis zur Perfektion verkörpert, während ihre – bezeichnend benannte – Eva gedanklich zurückspringt. Hin zu der Nacht, in der sie mit ihrem Freund Franklin (John C. Reilly) das gemeinsame Kind gezeugt hat, rüber zur Geburt von Kevin, nach und nach die von Konfrontationen bestimmte Beziehung zwischen Mutter und Sohn aufarbeitend. Liegt in der Erziehung der Mutter die Schuld am von Sohn verübten Massaker oder ist Kevin schlicht das Böse in Person?

Thematisch folgt We Need to Talk About Kevin unweigerlich auf das Schulmassaker von Littleton an der Columbine High School von 1999. Zwei Schüler töteten damals 13 Menschen und später wurde Sue Klebold, Mutter eines der Schützen, vorgeworfen, in ihrer Erziehung versagt zu haben. Gleichzeit wirft Shrivers Roman auch seine Schatten voraus, nicht nur auf den Amoklaufs in Erfurt von 2002, sondern insbesondere auch auf das Schulmassaker von Winnenden in 2009. In beiden Fällen hießen die Schützen zwar nicht „Kevin“, sondern Robert Steinhäuser und Tim Kretschmer, aber speziell Kretschmer erschütterte mit seiner Tat nicht nur das Leben der Opfer und ihrer Familien, sondern auch das der eigenen.

Wenige Monate nach dem Amoklauf von Tim Kretschmer musste seine Familie Winnenden verlassen und anderswo eine neue Identität annehmen. „Die Wucht der Ablehnung hat mich selbst überrascht“, sagte der Bürgermeister Jürgen Kiesl damals. Eine Rückkehr der Kretschmers wäre für alle Beteiligten „undenkbar“. Shrivers Roman und Ramsays Adaption widmen sich in ihrer Geschichte nun weniger den ermordeten Schülern oder dem Täter, seiner Tat und den Beweggründen, sondern der Frage, welche Rolle die Eltern an sich beziehungsweise die Mutter im Besonderen spielte. Die Schuldfrage nimmt eine zentrale Funktion ein, die sich beide Hauptfiguren in gewisser Weise stellen, ohne sie annehmen zu wollen.

Im Mittelpunkt steht dabei die Tatsache, dass Eva ein Freigeist ist, der eigentlich kein Kind haben will. Zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, als sie mit Kevin schwanger wird. Sie schenkt dem Kind nur bedingt die offenherzige Liebe, die man von frischgebackenen Müttern kennt, sehnt sich vielmehr nach Ruhe und scheint mit ihrer neuen Rolle überfordert. Das Kind wiederum scheint diese abgehende Liebe zu spüren und fortan entfremden sich Mutter und Sohn immer mehr voneinander. Ist Kevin dann erst einmal ein Kleinkind (mit fast schon damieneskem Spiel von Rock Duer), verheißt allein sein leerer Blick nichts Gutes. Und wenn er dann das Schulalter erreicht, gewinnt der Konflikt mit Eva eine völlig neue Dynamik.

Kevin (nun von Jasper Newell dargestellt) agiert derart berechnend und kalkuliert, dass die Figur problemlos zum „Film-Bösewicht des Jahres“ werden könnte. Gekonnt gibt er sich Eva als Satansbraten, während er Franklin gegenüber das Engelchen mimt. Nach ersten Zweifeln rund um die Geburt stellt sich der Zuschauer schnell auf die Seite von Eva und schüttelt über Kevins Verhalten nur den Kopf. Dessen Verhalten scheint jedoch einen tiefer gehenden Grund zu haben, obschon uns die Figur als nahezu charakterlos präsentiert wird. Die Frage nach bedingungsloser Liebe stellt sich im Verlauf für beide Figuren immer wieder. “Just because you’re used to something doesn’t mean you like it”, sagt Kevin einmal treffend.

Lynne Ramsays Film lebt von diesem terroristischen Beziehungsverhältnis, das We Need to Talk About Kevin bisweilen etwas Horrorartiges verleiht. Somit ist das Endergebnis wohl nur oberflächlich als Ursachenforschung für einen Schulamokläufer zu verstehen, sondern eher zwei Figuren, die eigentlich vom jeweils anderen geliebt werden wollen, jedoch darunter leiden, dass sie es nie zum selben Zeitpunkt zu können vermochten. Das Resultat ist ein spannender Film über Liebe und Hass, über Schuld und Sühne, dabei über die gesamte Laufzeit großartiges Schauspielkino des gesamten Ensembles. Billy Hopkins untermauert hier seinen hervorragenden Ruf als einer von Hollywoods führenden Besetzungschefs.

Neben den drei Kevin-Darstellern sticht natürlich Tilda Swinton hervor, deren gepeinigte Eva Dreh- und Angelpunkt des Films ist. Nicht minder herausragend sind jedoch auch die Kameraarbeit und Bildkomposition von Seamus McGarvey (der sich unter anderem auch durch Atonement bereits auszeichnen konnte) sowie generell die Mise-en-scène. Viel von dem Interpretationsspielraum und den Analysemöglichkeiten des Films wird mittels sich wiederholender Handlungs-, Bild- und Farbelemente transferiert, wobei die Farbe Rot und all die ihr innewohnende Symbolik eine große Rolle spielen. Sehr geschickt erzählt Ramsay so Shrivers Geschichte, die stets die richtigen Blickwinkel und –perspektiven wählt.

Eine definitive Antwort auf die Ursache eines Schulamoklaufs kann We Need to Talk About Kevin natürlich nicht geben – und das will der Film auch gar nicht. Die spätere Entwicklung ist letztlich nicht mehr als ein Kollateralschaden, zumindest für Kevin selbst. Prinzipiell ist Ramsays Film also ein zwischenmenschliches Familiendrama, bisweilen mit Zügen eines Psychohorrorfilms und dabei stets faszinierend, selbst wenn einiges zu Gunsten der Dramatisierung überzogen scheint. Am Ende ist es vermutlich kein Film für werdende Mütter geworden – oder vielleicht gerade für die. Zumindest den Vorurteilen von Grundschullehren gegenüber den Kevins dieses Landes wird der Film allerdings keinen Dienst erwiesen haben.

8/10

12. August 2012

Stevie

Wherever I go (…) it’s just nothing but trouble.

Das US-Mentoring-Programm “Big Brothers Big Sisters” (BBBS) wurde 1904 vom New Yorker Gerichtsschreiber Ernest Kent Coulter initiiert, um die Zahl jugendlicher Straftäter zu verringern. Ehrenamtliche Mentoren und Mentorinnen sollten eine einjährige Patenschaft für Kinder aus Problemfamilien übernehmen, diese fördern und ihnen als „großer Bruder“ oder „große Schwester“ zur Seite stehen. Auch der Chicagoer Regisseur Steve James wurde 1982 während seiner Studienzeit ein “Big Brother“ und betreute den 11-jährigen Stephen “Stevie” Fielding aus Pomona, Illinois. Als die wöchentlichen Besuche nach einem Jahr rum waren, wollte er mit ihm in Kontakt bleiben. “Of course, I haven’t been“, sagt James später.

Über zehn Jahre zogen ins Land und James hatte inzwischen Erfolg mit seiner Basketball-Dokumentation Hoop Dreams. Er entschloss sich 1995 zurück nach Pomona zu fahren, um mit der Kamera zu dokumentieren wie es Stevie ergangen war. Dieser lebte immer noch mit seiner Stief-Großmutter in einem Wohntrailer mitten in der Einöde und hat über die Jahre mehrere Vorstrafen wegen verschiedener Vergehen gesammelt. “Wherever I go“, erklärt er uns, “it’s just nothing but trouble“. Es trat somit also genau das Gegenteil dessen ein, was das Mentoring von BBBS eigentlich bewirken sollte. “It went beyond my worst fears from the past of what Stevie would grow up to be“, bemerkt James im Erzählkommentar.

Als Hauptursache wird die mütterliche Vernachlässigung des Jungen im Frühstadium ausgemacht. Im Alter von sechs Monaten verstieß ihn seine Mutter Bernice, weil er nicht der Sohn ihres Mannes war. Dennoch nahmen dessen Eltern Stevie auf und zogen ihn groß, “just 50 yards down the road where his mother lived“. Die wiederum soll den Jungen geschlagen haben, das berichtet neben der Großmutter auch seine Halbschwester Brenda, die ebenfalls in einem Wohntrailer einige Straßen weiter wohnt. Es wird klar, dass zwischen allen Beteiligten keine positiven Emotionen existieren. Umso bezeichnender ist dann der Kontrast, als James seine eigene Frau plus Kinder nach Pomona holt, um sie mit Stevie in eine Küche zu setzen.

Dort berichtet er dann, wie er versucht hat, die Bremsleitungen seiner Mutter zu kappen, während James’ Frau freundliche Verblüffung vorspielt und ihr Gatte schnell die Kinder aus dem Zimmer schafft. “He always seemed to be an accident waiting to happen“, hatte James zu Beginn der Dokumentation gesagt. Man umarmt sich auf der Veranda und verspricht, sich bald wieder zu sehen. Natürlich kam es nicht so. Erneut vergeht etwas Zeit, wenn auch nur zwei Jahre. Dann will James mal wieder nach Stevie sehen und erfährt 1997, dass er im Gefängnis sitzt, weil er seine 8-jährige Cousine sexuell misshandelt haben soll. Spätestens jetzt scheint James genug Potential für seine Doku zu sehen. Stevie geht in Produktion.

Es geht also zurück nach Pomona, mit Stevie sprechen, seiner Pflichtverteidigerin und der Familie. Endlich meldet sich auch Bernice zu Wort, im Doppelgespann mit ihrer Schwester Wendy, der Mutter des 8-jährigen Mädchens. James ist in seinem Metier, bohrt mit traurigen Augen seine Gegenüber an und beobachtet, wie sich die White trash-Lawine selbst ins Rollen bringt. Was es denn für ein Film sein solle, wird er gefragt. Eine Dokumentation über Stevie werde es sein, sagt James. “Who he is and what he had become.” Was lief schief in Stevies Leben, dass es ihn zu dem werden ließ, der er ist? Zum vorbestraften Pädophilen. Seine Vergangenheit zeichnet das Bild eines traumatisierten, verlorenen Jungen.

Von der Mutter verstoßen, den Vater nie gekannt. Der Großvater verstirbt früh, hinzu kommen körperliche Schläge von Bernice, wenn sie sich denn mal sehen. Irgendwann wird Stevie ins Heim übergeben, wo man ihn in verschiedene Familien platziert. Ein Ehepaar hat es ihm besonders angetan, doch auch sie verlassen ihn irgendwann. Später wird Stevie sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen ausgesetzt, ehe es zurück nach Pomona und der Mutter seines Stiefvaters geht. Steve James wird sein “Big Brother” und verschwindet nach einem Jahr wieder aus seinem Leben. Misshandlung und Vernachlässigung bestimmten Stevies Leben und seine Entwicklung scheint durch äußere Umstände vorgezeichnet.

“If they had all come together with that kid, he’d been a whole different kid”, sagt ausgerechnet seine Tante richtigerweise. Aber niemand hat sich um Stevie gekümmert, weder seine Mutter, noch später sein “Big Brother”. Oft sehen wir Stevie auf einen Buggy durch Pomona fahren, den Rücken seiner Lederjacke ziert die Aufschrift “All you got?”. Was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker und so beobachtet auch James: “He feels he can take anything”. Als der Regisseur genug Material gesammelt zu haben scheint, verlässt er im Juli 1997 Pomona wieder, während Stevie noch wegen des sexuellen Übergriffs auf seine Cousine im Gefängnis sitzt. “Right now”, sagt James, “doing nothing seems like the safest thing to do”.

Die Lösung ist erneut Nichtstun, das dieses Mal jedoch nur wenige Wochen anhält. Einen Monat später bittet Stevie seinen ehemaligen großen Bruder darum, ihm $100 für seine Kaution zu leihen. James lehnt ab, stattdessen löst Stevies Halbschwester die Kaution. Er ist somit wieder auf freiem Fuß und James macht sich dementsprechend wieder auf gen Süden. Weiterdrehen, neues Material für Stevie sammeln. “Here I was, repaying him by putting his tortured life on display”, wird James später auf die Audiotonspur faseln. Nie hätte er gedacht, dass jener kleine Junge von einst zu seinem Filmobjekt werden würde und nun sei er für ihn nicht mehr als das. Wer braucht schon Feinde, der solche „großen Brüder“ hat?

Stevie ist über weite Strecken ein kruder Mix aus Dokumentation und Exploitation, „Dokuploitation“ wenn man so will. Bemerkenswert ist dabei, wie wenig James sich selbst als Teil des Problems sieht. Welche Wirkung sein ständiges Auftauchen und Fernbleiben in Stevies Leben hat. Auf das einjährige BBBS-Mentoring folgte eine zehnjährige Abwesenheit, auf den ersten Besuch das Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen, das erst zwei Jahre später stattfand, als Stevie im Gefängnis saß. Obschon er versichert, auf Stevies Seite zu stehen, ist er ihm keine $100 Kaution wert, aber natürlich die Reise nach Pomona, als sein Filmobjekt vorläufig entlassen wird. Der Film Stevie steht folglich über dem Menschen Stevie.

Im Gegensatz zu Hoop Dreams oder später auch The Interrupters fehlt Steve James in Stevie das fehlende Fingerspitzengefühl gegenüber seinen Filmobjekten. Die Protagonisten werden emotional ausgeschlachtet zum Mehrwert seiner Dokumentation. In einer Szene gegen Ende des Films hakt James bezüglich eines Streits zwischen Bernice und Brenda nach, den Mutter und Tochter zuvor erfolgreich aus der Welt geschafft haben. Der Regisseur fragt solange, bis er seine gewünschte Antwort erhält, reißt damit jedoch auch die Wunden neu auf. “Told you, I didn’t want to get into it”, wirft ihm Bernice unter Tränen vor. James murmelt eine kleinlaute Entschuldigung und blickt mit seinen traurigen Äuglein in den Raum.

James ist die mit Abstand unsympathischste Figur in diesem Hinterland-Drama, was angesichts solcher Charaktere wie den Frauen schlagenden, nach Matrizid lüsternden und kleine Mädchen missbrauchenden Stevie oder den regionalen Anführer der arischen Bruderschaft durchaus ein Brett ist. Die durch die Bank durchweg interessanten und teils sogar faszinierenden Protagonisten in Stevie sind allesamt authentischer als der renommierte Regisseur aus Chicago. “I thought it would be a glorious experience”, resümierte James zu Beginn des Films hinsichtlich seiner Involvierung als “Big Brother” und war dann nach eigener Aussage froh, als er nach einem Jahr nicht mehr jede Woche nach Pomona fahren musste.

Abgesehen von Steve James’ fehlendem Schuldeingeständnis und seiner Ausnutzung von Stevie und seiner Familie gelingt es Stevie dennoch, die Entwicklung seiner Hauptfigur nachzuverfolgen. Dass Stevie zu dem wurde, der er ist, hat er seinem Umfeld zu verdanken, zu dem auch James selbst gehört. Immer wieder sehen wir dabei gelegentlich Einblicke in die Person und das Leben, das er hätte führen können, wenn alles anders gekommen wäre. Doch Stevie nahm es, wie es kam und scheint dabei zumindest bisweilen durchaus glücklich gewesen zu sein. Dennoch war ihm das Glück nie lange hold und es bewahrheitete sich seine Einschätzung zu Beginn des Films: Wo Stevie auch hingeht, “it’s just nothing but trouble”.

7.5/10

1. August 2012

Filmtagebuch: Juli 2012

BAND OF BROTHERS
(USA 2001, David Frankel/Mikael Salomon u.a.)
6/10

HIGHWATER
(USA 2009, Dana Brown)
5/10

THE HUNTER
(AUS 2011, Daniel Nettheim)
5.5/10

INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM
(USA 1984, Steven Spielberg)
7.5/10

INDIANA JONES AND THE LAST CRUSADE
(USA 1989, Steven Spielberg)
8.5/10

JURASSIC PARK
(USA 1993, Steven Spielberg)
8.5/10

LAKE OF FIRE
(USA 2006, Tony Kaye)
7/10

MAGIC MIKE
(USA 2012, Steven Soderbergh)
6/10

OZ - SEASON 1
(USA 1997, Darnell Martin u.a.)
8/10

OZ - SEASON 2
(USA 1998, Jean de Segonzac u.a.)
7.5/10

OZ - SEASON 3
(USA 1999, Nick Gomez u.a.)
7.5/10

OZ - SEASON 4
(USA 2001, Adam Bernstein u.a.)
7.5/10

OZ - SEASON 5
(USA 2002, Alex Zakrzewski/Adam Bernstein u.a.)
7.5/10

OZ - SEASON 6
(USA 2003, Adam Bernstein u.a.)
7.5/10

RAIDERS OF THE LOST ARK
(USA 1981, Steven Spielberg)
8.5/10

RAMPART
(USA 2011, Oren Moverman)
6/10

SAFE HOUSE
(USA/ZA 2012, Daniel Espinosa)
4.5/10

SCHLÄFER
(D/A 2005, Benjamin Heisenberg)
5.5/10

SEDMIKRÁSKY [TAUSENDSCHÖNCHEN]
(CZ 1966, Vera Chytilová)
7.5/10

SOLDIERS OF FORTUNE
(USA 2012, Maxim Korostyshevsky)
6/10

YOUNG ADULT
(USA 2011, Jason Reitman)
6.5/10