25. März 2013

The Bridge on the River Kwai

Good show! Jolly good show!

Das Kino von heute besteht aus Prequels, Sequels, Remakes und Reboots – und aus jeder Menge CGI. Die wiederum sollen gut aussehen und wenig kosten, denn andernfalls könnte man ja gleich die gemütlichen Gefilde eines Studios verlassen. Epische Filme on location zu drehen wird immer seltener und ein Film wie The Bridge on the River Kwai würde heute vermutlich nicht erneut so entstehen wie in den 1950er Jahren. Damals drehte Regisseur David Lean über acht Monate – genau: 251 Tage – im Dschungel von Sri Lanka, ließ 1.500 Bäume fällen, um jene Brücke für damals rund $250,000 (Inflationsbereinigt wären das heute circa zwei Miliionen Dollar) über den Fluss Kelani in 90 Fuß Höhe zu bauen.

Dabei unterscheidet den Film im Grunde wenig von heutigen Blockbustern, zumindest begleiten ihn dieselben Geschichten. Sein hohes Budget (damals drei Millionen Dollar) war ein Risko, die Dreharbeiten im Ausland dauerten ein dreiviertel Jahr und die Besetzung des Regiestuhls wie der Hauptdarsteller war eine 1b-Lösung. Eigentlich wollte Produzent Sam Spiegel die Inszenierung der Adaption von Pierre Boulles Roman John Ford oder Howard Hawks anvertrauen. David Lean erhielt den Zuschlag nur, weil Spiegel niemand anderen fand – und Lean selbst akzeptierte nur, weil der finanziell klamme Brite Geld brauchte. Und auch bei den beiden Hauptdarstellern engagierte man letztlich nicht seine Wunschkandidaten.

Die Titelrolle des von Integrität und militärischer Disziplin beherrschten Lt. Colonel Nicholson übernahm der zuvor primär als Komödiendarsteller aufgetretene Alec Guinness, da es mit Charles Laughton nicht klappte. Als Hollywood-Gallionsfigur strebte man eher Cary Grant oder Spencer Tracy an, am Ende erhielt William Holden den Zuschlag und eine Rekordgage von $300,000 mit zehnprozentiger Gewinnbeteiligung. Das Resultat ist bekannt, The Bridge on the River Kwai avancierte zum Kassenhit und spielte das 11-fache seiner Kosten ein. Holden hatte finanziell ausgesorgt, derweil erhielten Spiegel, Lean und Guinness drei von insgesamt sieben Academy Awards. Der Film selbst wurde anschließend zum Klassiker.

Rückblickend betrachtet kann man nur sagen, dass er dies zurecht ist. Basierend auf Boulles Roman von 1952 und dem britischen Colonel Philip Toosey erzählt The Bridge on the River Kwai die Geschichte dreier Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Von ihrer Würde, ihrem Stolz und ihren militärischen Verpflichtungen. Auf der einen Seite steht der japanische Colonel Saito (Sessue Hayakawa), der ein Kriegsgefangenenlager im thailändischen Dschungel leitet und innerhalb der nächsten Monate eine Brücke über den Fluss Kwai gebaut haben muss. Ihm gegenüber steht Alec Guinness’ auf den Genfer Konventionen beharrender Lieutenant Colonel Nicholson, der sich weigert, dass seine Offiziere körperliche Arbeit leisten.

Damit beginnt Nicholson ein zähes, psychologisches Duell mit seinem Gegenüber, bei dem beide Männer nicht ihr Gesicht verlieren wollen. Unterdessen bricht der US-Marineoffizier Shears (William Holden) aus dem Gefangenenlager aus – nur um in Ceylon von dem britischen Major Warden (Jack Hawkins) wider Willen für eine Sabotage-Mission an der Brücke rekrutiert zu werden. Ihr aller Schicksal wird später an dieser Brücke entschieden, in einer dramatischen Klimax, die Stolz, Würde und Ehre außer Acht lässt und in der Shears entgegen seiner eigenen zuvor postulierten Worte handelt: “How to die like a gentleman, how to die by the rules – when the only important thing is how to live like a human being”.

Insofern geht es in Leans Film weniger um das Bauen oder Verhindern einer Brücke als um die Charaktere und ihre Werte. So vermisst Saito die Scham der unterlegenen Briten und diese wiederum setzen alles daran, ihre Ehre zu behalten. “You have survived with honour”, addressiert später Nicholson seine Männer. “You have turned defeat into victory.” In gewisser Weise avanciert The Bridge on the River Kwai in der Beziehung zwischen Saito und Nicholson, die durchaus Respekt füreinander empfinden, zum Culture Clash zweier stolzer Nationen. Für Shears geht es dagegen lediglich um sein Überleben, weniger um die Aufrechterhaltung seiner Würde oder irgendwelcher westlicher (Militär-)Konventionen.

Diese waren ohnehin in der Realität außer Kraft gesetzt, angesichts von mehr als 1.000 japanischer Lager in Burma und Thailand während des Krieges mit rund 90.000 Alliierten als Gefangenen. Deren Todesrate lag mit 27 bis 37 Prozent höher als die in den deutschen oder italienischen Lagern. Was wiederum Shears Fluchtstreben erklärt und seine Ignoranz der widrigen Umstände in Thailand (“We are an island in the jungle”, erklärt Saito entsprechend). Für Nicholson geht es jedoch darum, den Männern einen Sinn zu geben und damit etwas, an dem sie festhalten können. Entsprechend bestrebt ist der Militäroffizier, den Japanern deshalb die bestmögliche Brücke zu bauen, die den britischen Soldaten möglich ist.

Ein Vorhaben, das nicht jedem einleuchtet. “Must we work so well?”, wird Nicholson von Lagerarzt Major Clipton (James Donald) gefragt. “Must we build them a better bridge than they could have built for themselves?” Aber gerade darin liegt für Nicholson der Sieg in der Niederlage. Und angesichts solcher bornierter Typen wie Nicholson, Saito und Warden können Außenstehende wie Shears letztlich nur klein beigeben oder wie Clipton später resümieren, dass das Geschehene und Gesehene nichts weiter ist als Wahnsinn. The Bridge on the River Kwai ist trotz seiner historischen Einordnung in den Zweiten Weltkrieg somit weniger Kriegsfilm als vielmehr Psychogramm seiner Figuren und damit Charakterkino.

Zwar ist der Film zuletzt in der Gunst des American Film Institute um 23 Plätze von Platz 13 auf Platz 36 der 100 besten Filme aller Zeiten gefallen, an der Klasse von The Bridge on the River Kwai und seinem Status als Meisterwerk hat dies jedoch nichts geändert. Wie John Milius in einem Interview im Bonusmaterial korrekt bemerkt: Es lassen sich schwerlich bessere Charaktere schreiben als dies Carl Foreman und Michael Wilson getan haben. Am Ende entwickelte sich Leans Film zu einer Win-Win-Situation für alle Beteiligten – das Publikum eingeschlossen. The Bridge on the River Kwai ist somit ganz großes Kino und ganz klar ein Werk der Marke: Solche Filme werden heute gar nicht mehr gedreht. Leider.

9/10

19. März 2013

Detropia

Thank God for the opera.

In der Regel dienen Vorher-Nachher-Grafiken der Veranschaulichung von Verbesserungen. Solche würden sich bei der US-Stadt Detroit wohl kaum finden. War Detroit im Jahr 1930 noch “the fastest growing city in the world”, so ist die Stadt inzwischen “the fastest shrinking city in the United States”. Rund 10.000 Häuser wurden in den vergangenen Jahren abgerissen, alle 20 Minuten zieht eine Familie aus. Das berichtet uns Detropia, der neue Film von Heidi Ewing und Rachel Grady, Regisseurinnen von Jesus Camp und 12th and Delaware. In den letzten 50 Jahren verlor Detroit die Hälfte seiner Bevölkerung, Michigan wiederum im vergangenen Jahrzehnt gut 50 Prozent seiner Arbeitsplätze im Fertigungsbereich.

Detroits Niedergang hängt natürlich auch mit der jüngsten Wirtschaftskrise zusammen. Für den Ex-Lehrer und Bar-Besitzer Tommy Stephens läutete 2008 jedoch weniger eine Rezession denn eine neuerliche Depression ein. “We were in 1929”, echauffiert er sich. Kamen früher die Fabrikarbeiter der Automobilhersteller nach der Arbeit in seine Bar und orderten Großbestellungen, bleiben diese inzwischen aus. Woran das liegt, zeigt uns der Film, als er ein Gewerkschaftstreffen besucht. Der Autozulieferer American Axle hatte zuvor bereits 2.000 Arbeitsplätze nach Mexiko verlagert und droht nun auch die letzte Fabrik in Detroit zu schließen. Es sei denn, die Arbeiter nehmen Lohnkürzungen von bis zu 25 Prozent hin.

“To humiliate us”, schnaubt Gewerkschaftsführer George McGregor. Seine Arbeiter lehnen eine Verhandlung entsprechend ab, American Axle schloss daraufhin die Fabrik. Wie sehr die Stadt, in der Henry Ford einst seine Firma begründete, von der Automobilbranche abhängt, zeigt sich auch in anderen Facetten. Zum Beispiel bei der Michigan Oper, die von drei Auto-Konzernen finanziell abhängig ist. “Everything in Detroit is at stake”, sagt daher auch Oper-Direktor David Dickiera. Mit dem Problem der verstärkten Abwanderung beschäftigt sich auch das Rathaus der Stadt, eine Lösung zeichnet sich jedoch nicht ab. Die Probleme sind dabei nicht ausschließlich Detroit-bezogen, sondern teils von landespolitischer Natur.

Denn im internationalen Wettbewerb scheint China den USA den Rang abgelaufen zu haben. Das merkt auch Tommy Stephens, als er mit Ewing und Grady eine Automobilmesse besucht. Dort stellt der chinesische Autohersteller BYD (Built Your Dreams) ein Elektroauto für den Preis von $20.000 vor. Wenige Meter weiter verlangt General Motors für seinen in Detroit hergestellten Chevrolet mit Elektroantrieb das Doppelte. Alles, so will Detropia zeigen, ist in Detroit vernetzt. Die Automobilbranche stützt die Arbeiter und die Oper, die Oper dann Etablissements wie den Coffeeshop auf der anderen Straßenseite und die Arbeiter der Fabriken unterstütz(t)en wiederum die Bar von Tommy Stephens. Ein einziger, großer Kreislauf.

Alles hängt scheinbar mit der Automobilbranche zusammen. Ideen des Rathauses, die verstreut lebende Bevölkerung zu bündeln und das Umland dann in Farmen umzugestalten, treffen bei den Detroitern keinen Nerv. Im Gegenteil, sie wecken Segregationserinnerungen. Die vielen leerstehenden Gebäude sorgen mit ihren niedrigen Mietpreisen derweil für einen Gentrifizierungseffekt. (Performance-)Künstler wie Steve und Dorota Coy ziehen nach Detroit, weil sie hier günstige Lofts und Ateliers nicht nur mieten, sondern sogar kaufen können. Die brachliegenden Gebäude bilden zudem gleich ein künstlerisches Motiv. Gentrifizierung als Chance, propagiert Detropia in seinem finalen Akt – allerdings nicht konsequent.

Gerade die Gentrifizierung hätte der Film konkreter ansprechen können, kommt ihr Potential für eine „Re-Population“ doch etwas zu kurz. Genauso wie die anderen Ursachen für den Niedergang Detroits, der nicht nur durch die Rezession von 2008 zu erklären ist. Wo liegen Alternativen zur Automobilbranche, wo die Chancen zur Regeneration? Letztlich hätte Detropia mehr aus seinen Möglichkeiten machen können, auch als warnendes Beispiel für andere “motor cities” wie sie in Bochum zu finden sind. Dennoch ist Ewing und Grady ein kurzweiliger und interessanter Beitrag gelungen, der bei all seinen Requiem-Elementen auch Hoffnung birgt. “It’ll come back”, zeigt sich selbst Tommy Stephens zuversichtlich.

6.5/10

11. März 2013

Spring Breakers

Hit Me, Baby, One More Time.

Harmony Korine macht es einem nicht leicht, was durchaus seine Berechtigung hat, ist der Auteur nicht von ungefähr dem Avantgardefilm zuzurechnen. Zuletzt irritierte er den gewöhnlichen Kinozuschauer, insofern der das Werk überhaupt zu Gesicht bekam, mit dem vergnüglichen VHS-Found-Footage-Porträt Trash Humpers. Am bekanntesten ist er aber für sein Varieté-inspiriertes Debüt Gummo von 1997. Stets abstrakt und meist non-linear verdichtet Korine gerne surreale Episoden über soziale Außenseiter. Mit Spring Breakers legt der Amerikaner nun seinen in gewisser Weise zwar unpersönlichsten und zugleich doch reifsten Film vor. Ein nahezu perfektes Amalgam aus Avantgarde, Arthouse und Mainstream. Und damit womöglich nicht mehr und nicht weniger als sein opus magnum.

Denn Spring Breakers kann durchaus als filmisches Spiegelbild des Rezipienten gelesen werden. So erzählt der Film auf der einen Seite natürlich „nur“ die Geschichte von vier heißen Studentinnen (u.a. Vanessa Hudgens und Selena Gomez), die in den Frühlingsferien leichtbekleidet dem Hedonismus in Florida frönen, um dem Uni-Alltag zu entkommen. Und die dabei letztlich vom regionalen Rapper Alien (James Franco) für sein Crime-Start-up rekrutiert werden. Sex, Drogen und Dubstep für die Facebook-Generation. Unter der Oberfläche werden jedoch malicksche Themen wie die Suche einer Generation nach einem versprochenen und verlorenen Paradies sowie einer eigenen Identität in einer Kultur, der man nur auf der Überholspur auf Augenhöhe zu begegnen vermag, behandelt.

“That’s what life is about”, proklamiert Alien später in seinem Strandhaus, während sich Candy (Vanessa Hudgens) auf einem Bett voller Dollar-Scheine wälzt und der bling-bling-Rapper stolz seine Sammlung an Uzis und AK-47 präsentiert. Die Botschaft des Films, das machen seine Figuren deutlich, ist, dass der American Dream nicht von selbst kommt. Man muss ihn sich nehmen. Oder konkreter: Man muss ihn anderen wegnehmen. Das fängt schon damit an, dass Brit (Ashley Benson), Candy und Cotty (Rachel Korine) aufgrund finanzieller Ebbe zu Beginn die Reisekosten nach Florida erstehlen müssen. “Pretend like it’s a videogame”, sagen sie sich und driften fortan verstärkt in eine surreale Parallelwelt ab, voll von Koks, Alkohol, schweren Waffen, Schalldämpfer-Fellatio und Britney Spears.

Korine kontrastiert dabei die abgedunkelten Hörsäle anonymisierter Hochschulen inmitten eines trostlosen und verregneten Nirgendwo mit den paradiesischen Vorstellungen eines von Sonne durchfluteten Floridas, in welchem die Zukunftssorgen und der Alltagsstress in der Heimat gelassen wurden und man stattdessen eine einzige große Party feiert, damit sich persönlich sowie alle anderen und letztlich das Leben selbst zelebrierend. Dieses findet nicht in der Ungewissheit des tomorrowland statt, sondern right here, right now. Wenn Faith (Selena Gomez) dann ihrer Bibelgruppe entflieht, um in nächtlichen Telefonanrufen ihre Oma zum Spring Break einzuladen und im Hotelpool philosophiert, ist die menschliche Suche nach dem Paradies gleichzeitig so nah und doch so fern wie möglich.

Natürlich lässt sich der Sorglosigkeit nicht lange entfliehen, die Realität ist in Spring Breakers immer nur zwei Schritte hinterher und so landen die Mädchen unweigerlich durch die Begegnung mit James Francos – jenseits des overactings in teilweise brillante Sphären kalibrierten – Alien in einer fremden Welt. Und damit in einem ausgewachsenen Bandenkrieg. Denn wie sich zeigt, ist Francos Figur auf ihre Weise eher ein “illegal alien” in Korines selbstgeschaffenem Garten Eden, den jeder der Charaktere in Spring Breakers für sich selbst beanspruchen will. Im Folgenden werden die neu geschaffenen Identitätsbilder der Mädchen und von Alien zur Prüfung auf die Waage gelegt. Und sie alle müssen sich entscheiden, ob sie ihrer „Realität“ standhalten können: “Pretend like it’s a videogame”.

Sowohl inhaltlich auch inszenatorisch hat Harmony Korines jüngster Film wenig mit seinen früheren Werken gemein. Das zeigt sich zuvorderst im Visuellen, das sich in klaren, scharfen, knackigen und bunten Farben widerspiegelt. “There’s this obsession nowadays with technology and with the fact that everything looks so clear”, hatte Korine zum Start von Trash Humpers noch im Gespräch mit Vulture kritisiert. “Everything needs to be so high-definition.” Mit Spring Breakers legt er nun selbst den totalen Gegenentwurf zu seinem Dogma 95-Film Julien Donkey-Boy vor. Kongenial von einem Score Cliff Martinez’ sowie Songs von Musikern wie Skrillex unterlegt, orientiert sich Spring Breakers formal wie narrativ eher an Korines Kurzfilmen Umshini Wam oder Lotus Community Workshop.

Das Beste aus zwei Welten, könnte man so sagen. Denn nur weil sich Korine visuell wie narrativ eher an den Mainstream anschmiedet, was sich allein durch die Besetzung zeigt, heißt dies nicht, dass man auf korineske Elemente verzichten muss. Während der Film in der Tat eher Erinnerungen an seine Kurzfilme, darunter auch Act da Fool, weckt, wird immer noch eine Geschichte von Vandalismus treibenden Außenseitern erzählt. Von einer Rebellion gegen das Establishment, sozusagen. Der „Wahnsinn“ des Regisseurs ist in diesem Fall an die Leine genommen, vergleichbar mit geerdeteren Filmen von Seelenverwandten wie Werner Herzog. Was Spring Breakers also auszeichnet, ist, dass die kreativen Auswüchse des Auteurs zur Abwechslung hier also nicht Amok, sondern ineinander laufen.

Das Ergebnis sind avantgardistische Ideen, kombiniert mit Elementen des Arthouse-Kinos im Gewand des Mainstream-Films. Der Wolf im Schafspelz, gewissermaßen. Aber wenn sich der so sexy und kokett verkleidet wie Ashley Benson und Vanessa Hudgens, um sich lasziv zu bunten Bildern von ins Nirvana hämmerndem Dubstep unterlegt zu räkeln, ist man gerne das Rotkäppchen. Am Ende kann – oder muss – konstatiert werden, dass Harmony Korine mit Spring Breakers nicht nur den bisher vorläufigen Höhepunkt seines Schaffens erreicht hat, sondern mit seinem jüngsten Auswuchs einen der großen Filmen von 2013 abliefert – wahrscheinlich sogar darüber hinaus. Oder wie es James Franco an einer Stelle so schön sagt: “Spring Break. Spring Break. Spring Break forever, bitches”.

10/10

5. März 2013

Bully

I’m just a teenage dirtbag, baby.

Kinder können grausam sein. Das weiß vermutlich niemand besser als die 69-jährige Karen Klein, die jahrelang im US-Bundesstaat New York als Schulbus-Begleitung fungierte. Bis sie im Juni 2012 von vier Schülern im Bus derart bedroht und beschimpft wurde, dass ein Handyvideo der Jugendlichen auf YouTube viral ging. Die Teenager wurden darauf ein Jahr suspendiert und Klein ist nach einer weltweiten Internet-Spendenaktion mehr als eine halbe Million Dollar reicher. Ein Happy End, das in den USA nicht jedem, der Opfer von Schülermobbing ist, beschert wird. So verübte 2009 der 17-jährige Schüler Tyler Long Selbstmord, als ihn seine Mitschüler wiederholt aufforderten, sich zu erhängen, weil er wertlos sei.

“I think he got to this point where enough was enough”, blickt Tylers Vater David Long mit wässrigen Augen in Lee Hirschs Dokumentation Bully zurück. “I still think he’s gonna come through that door”, sagt Long. “But I know he’s not.” In den USA sind Suizide nach Mobbing (engl. bullying) kein Einzelfall. “Bullycide” wurde als Portmanteau-Wort kreiert. Im Jahr 2010 erhängte sich in Massachusetts die 15-jährige Phoebe Prince, in Oklahoma setzte der 11-jährige Ty Field seinem Leben ein Ende. In den USA wird eines von vier Kindern regelmäßig in der Schule gemobbt, insgesamt sind 30 Prozent der Schüler in Mobbing involviert, entweder als Opfer oder Täter. Lee Hirsch widmet sich in Bully fünf solcher Mobbing-Vorfälle.

Am prominentesten verfolgt Hirsch den 12-jährigen Alex Libby, der jeden Tag im Schulbus geschlagen, gewürgt und bedroht wird. In der Schule wollen sich viele gar nicht mit ihm abgeben, er gilt aufgrund seines Aussehens als “freak” bei seinen Mitschülern. “I feel like I belong somewhere else”, gesteht er. Seine kleine Schwester erzählt, sie wird aufgrund ihrer Verwandtschaft zu ihm gemobbt. “That doesn’t even make sense”, zeigt sich Alex irritiert. Ab einem Zeitpunkt nimmt die Gewalt gegen ihn so zu, dass Hirsch, der mit versteckter Kamera gefilmt hat, die Aufnahmen seiner Mutter und Alex’ Rektorin Kim Lockwood zeigt. Doch die Hilf- und Planlosigkeit der Rektorin hatte Bully zuvor bereits verdeutlicht.

Zu Beginn des Films läuft Lockwood im Schulgang ein Junge mit blutendem Kopf entgegen, dessen Schädel von einem Mitschüler auf einen Nagel geschlagen wurde. “You didn’t like that, did you?”, fragt die Rektorin sogar noch und leistet später gegenüber der Kamera den Offenbarungseid: “Tell me how to fix this. I don’t know”. Mobbing floriert laut Studien speziell an den Schulen, wo es nicht angesprochen wird, die Lehrer keine Aufsicht leisten. In manchen Fällen, wie bei der 16-jährigen homosexuellen Kelby Johnson, beteiligt sich die Belegschaft sogar am Mobbing und stellt die Jugendliche vor der versammelten Klasse bloß. “The school doesn’t care”, bestätigt Kelbys Vater entsprechende Gespräche mit dem Schulrektorat.

Kelby berichtet, wie sie auf dem Heimweg von Mitschülern angefahren wurde, dass sie Selbstmordgedanken hatte. Auch dem friedfertigen Alex setzt das Mobbing zu. “They push me so far that I want to become the bully”, gesteht er. Ähnlich erging es der 14-jährigen Ja’meya Jackson, die gegen ihre Peiniger eines Tages im Schulbus die Pistole ihrer Mutter erhob, um sie zum Schweigen zu bringen. Sofort lastete sie sich damit 22-faches Kidnapping und versuchte schwere Körperverletzung auf. Mit einer Handlung sieht sie sich nun 45 Anklagepunkten gegenüber und sitzt zu Beginn von Bully in Untersuchungshaft. Es sind ungemein eindringliche und erschütternde Vorfälle, die Hirsch in seinem Film Bully dokumentiert.

Allerdings geht die Dokumentation über das Emotionale auch nicht hinaus. Hirsch versucht gar nicht, aufzuschlüsseln, warum Jugendliche zu Tätern werden. Er spricht weder mit solchen Schülern, noch mit Psychologen oder Soziologen. Was sind die Ursachen für Mobbing? Wie könnte man es verhindern? Forschern zufolge kann es einen populär machen, andere zu piesacken. Gefördert wird Bullying, wenn man im eigenen Elternhaus zu viele Freiheiten erhält oder zu sehr diszipliniert, kaum beaufsichtigt wird. Bully will den Zuschauer lediglich erschüttern, was der Film auch schafft. Im Gegensatz dazu, einen aufzuklären. “Maybe what it takes is only for one person to stand up”, mutmaßt Kelby. Es wäre zumindest ein Anfang.

6.5/10

1. März 2013

Filmtagebuch: Februar 2013

5 BROKEN CAMERAS
(PS/IL/F/NL 2011, Emad Burnat/Guy Davidi)
7.5/10

THE A-TEAM [EXTENDED CUT]
(USA 2010, Joe Carnahan)
6.5/10

BORGEN - SEASON 1
(DK 2010, Annette K. Olesen u.a.)
6.5/10

BULLY [HARTE SCHULE]
(USA 2011, Lee Hirsch)
6.5/10

CELESTE & JESSE FOREVER
(USA 2012, Lee Toland Krieger)
6/10

DELIVER US FROM EVIL
(USA 2006, Amy J. Berg)
7.5/10

DETROPIA
(USA 2012, Heidi Ewing/Rachel Grady)
6.5/10

ED WOOD
(USA 1994, Tim Burton)
10/10

ER - SEASON 14
(USA 2007/08, Christopher Chulack/Stephen Cragg u.a.)
7.5/10

ER - SEASON 15
(USA 2008/09, Christopher Chulack u.a.)
7/10

THE EXPENDABLES 2
(USA 2012, Simon West)
6.5/10

FLYING SAUCERS OVER HOLLYWOOD: THE ‘PLAN 9’ COMPANION
(USA 1992, Mark Patrick Carducci)
7/10

THE HOUSE I LIVE IN
(USA/UK/AUS/D/J/NL 2012, Eugene Jarecki)
7/10

THE HOUSE OF THE DEVIL
(USA 2009, Ti West)
7/10

HOW TO SURVIVE A PLAGUE
(USA 2012, David France)
7/10

JUDGMENT NIGHT
(USA/J 1993, Stephen Hopkins)
6/10

THE LAST GLADIATORS
(USA 2011, Alex Gibney)
7/10

MOON
(UK 2009, Duncan Jones)
9/10

THE OSCARS
(USA 2013, Don Mischer)
3/10

SHERLOCK HOLMES: A GAME OF SHADOWS
(USA 2011, Guy Ritchie)
5/10

THE PAPERBOY
(USA 2012, Lee Daniels)
6/10

PAPERMAN [KURZFILM]
(USA 2012, John Kahrs)
8/10

PLAN 9 FROM OUTER SPACE
(USA 1959, Edward D. Wood Jr.)
7.5/10

WRONG TURN
(USA/D 2003, Rob Schmidt)
5.5/10