30. Oktober 2015

Umimachi Diary [Unsere kleine Schwester]

You can stay right here. Forever.

Jean-Jacques Rousseau schrieb einst: „Das süßeste Glück, das es gibt, ist das des häuslichen Lebens, das uns enger zusammenhält als ein andres. Nichts identifiziert sich stärker, beständiger mit uns, als unsere Familie, unsere Kinder.“ Das stille Familiendrama beherrscht vielleicht kaum ein Land so gut wie Japan, das Heimatland von Ozu Yasujirō und seinem filmgeistigen Nachfolger Kore-eda Hirokazu. Letzterer liefert mit seiner Manga-Adaption Umimachi Diary – in Deutschland als Unsere kleine Schwester vertrieben – ein neues Meisterstück ab. Ein beobachtendes Dokument einer von Frauen bestimmten Familie, ihren Beziehungen zueinander als Individuen, aber auch als Kollektiv. Und zugleich eine Geschichte über Zerfall und Zusammenhalt.

Als Erstgeborene/r hat man es nicht leicht, liegt die Erwartungshaltung doch auf den Schultern der Ältesten. Das merkte in Kore-edas Vorgänger Aruitemo aruitemo auch der zweitälteste Sohn, nachdem sein großer Bruder starb und der elterliche Anspruch an diesen plötzlich auf ihn übertragen wurde. In Umimachi Diary ist es der Vater, der stirbt, und damit die Handlung in Gang bringt. Einst verließ er seine Frau und ihre drei gemeinsamen Töchter, zeugte mit seiner Affäre ein neues Kind und heiratete als Witwer später erneut. Plötzlich also hat das Schwestern-Trio um Sachi (Ayase Haruka), Yoshino (Nagasawa Masami) und Chika (Kaho) nicht nur einen toten Vater, sondern auch eine kleine Schwester – von der sie zuvor gar nichts wussten.

Aus einer Art familiärem Pflichtbewusstsein heraus bietet die Älteste, Sachi, der Jüngsten, Suzu (Hirose Suzu), an, zu ihren älteren Halbschwestern zu ziehen. „Die Tochter der Frau die eure Familie zerstört hat?“, wird die Entscheidung von der Großtante (Kiki Kirin) der Schwestern skeptisch gesehen. In der Tat liegt der Verdacht nahe, dass durch die Anwesenheit des personifizierten Ehebruchs der Haussegen der Schwestern schiefhängen könnte. Doch selbst wenn Kore-edas Fach das Drama ist, interessiert sich der Regisseur nicht für Drama à la Hollywood. Vielmehr kommt Umimachi Diary ein beobachtendes Element zu Gute, wenn der Film beliebig in den Alltag von Suzu und ihrer großen Schwestern eindringt und wieder abschweift.

Eine besondere Beziehung fällt dabei Sachi und Suzu zu. Beide mussten durch ihren Vater ein Stück ihrer Kindheit opfern. Sachi, um die jüngeren Geschwister aufzuziehen, nachdem ihre Mutter nach der Trennung das Weite suchte. Und Suzu, da sie den kränkelnden Vater pflegte, weil ihre Stiefmutter mit dieser ehelichen Pflicht überfordert war. Entsprechend reif sei Suzu für ihr Alter, wie im Film mehrfach bemerkt wird. „Reifer als wir“, stellt auch die dem Alkohol nicht abgeneigte Yoshino gleich zu Beginn fest. Wo sich Suzu gegenüber Sachi etwas verpflichteter fühlt, geht die 13-Jährige gerade in Gegenwart der etwas infantileren Chika mehr auf. Doch auch wenn Suzu in gewisser Weise die Hauptfigur ist, werden die anderen nicht vergessen.

So hadert die junge Chika teils damit, dass sie weder an den Vater noch an die Mutter, die ebenfalls ihre Töchter verließ, richtige Erinnerungen hat. Auch beruflich und beziehungstechnisch ist es bei den Schwestern nicht zum Besten bestellt. Yoshino hat Pech mit ihrem Freund und Sachi verkommt selbst zu einer „anderen Frau“, als sie eine Affäre mit einem verheirateten Kollegen eingeht. Nicht zuletzt deswegen, gemeinsam mit dem Aspekt der verlorenen Kindheit, nimmt ihre Beziehung zu Suzu eine Sonderstellung ein. Dass Umimachi Diary hierbei trotz einer Laufzeit von zwei Stunden keine wirkliche Geschichte erzählt, liegt wohl auch daran, dass es sich um die Verfilmung von Yoshida Akimis Comic-Serie Umimachi Diary handelt.

Insofern begleitet Kore-eda Hirokazu mit seinem jüngsten Film mehr Szenen aus dem Leben seiner vier Charaktere als dass er einer kohärenten Dramaturgie folgt. Es geht nicht darum, Konflikte zu lösen, sondern schlicht darum, den Zuschauer am Leben seiner Figuren teilhaben zu lassen. Gerade auch an den nichtigen Momenten, beispielsweise wenn Suzu im Regen nach Hause läuft oder zum neuen Schuljahr prüft, in welcher Klasse sie gelandet ist. Erfrischend unaufgeregt und hinreißend natürlich ist das Ergebnis, ein weiteres, (be-)ruhig(end)es Meisterstück von Kore-eda-san. Weshalb man nach zwei Stunden beinahe etwas traurig ist, das Schwesternquartett um Sachi, Yoshino, Chika und Suzu schon wieder verlassen zu müssen.

9/10

24. Oktober 2015

Me and Earl and the Dying Girl

Summer...what does that word even mean, right?

Übung macht den Meister – wohl insbesondere dann, wenn man selbst unter Meistern lernt. So wie Regisseur Alfonso Gomez-Rejon, der zuvor Second Unit Director unter anderem bei Babel von Alejandro Gonzáles Iñárritu, Andrew Macdonalds State of Play oder Argo von Ben Affleck war (allesamt Oscarpreisträger), ehe er 2014 mit The Town That Dreaded Sundown sein Debüt feierte. So vergessenswert dieses geraten sein dürfte, so eindrucksvoll bleibt nun seine Romanadaption Me and Earl and the Dying Girl in Erinnerung. Eine Krebs-Dramödie im Mumblecore-Stil, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Jesse Andrews, die zu Jahresbeginn einen der begehrten Hauptpreise beim Sundance-Filmfestival einheimsen konnte.

Ähnlich wie in Josh Boones Teenie-Schmonzette The Fault in Our Stars nach dem Roman von John Green erzählt Me and Earl and the Dying Girl im Kern die Geschichte einer Jugendlichen, die an Krebs erkrankt. Nur: Die Hauptfigur ist weniger die an Leukämie erkrankte Rachel (Olivia Cooke), sondern vielmehr der verschlossene Greg (Thomas Mann). Da seine Mutter mit der von Rachel bekannt ist, nötigt sie ihn dazu, Rachel Gesellschaft zu leisten, nachdem diese ihre Diagnose erhalten hat. Etwas, wofür Greg wenig Lust hegt, hat er doch jahrelang seinen Status als Schulhof-Diplomat zementiert, eine “carefully-cultivated invisibility”, die es ihm ermöglichte, zugleich am Schulalltag teilzunehmen, ohne an ihm richtig teilzunehmen.

Aus der widerwilligen Begegnung entwickelt sich schließlich zögerlich eine enge Freundschaft – und damit sogleich eine Ausnahmebeziehung in Gregs Leben. Selbst seinen einzigen Jugendfreund Earl (Ronald Cyler II) bezeichnet dieser lediglich als “co-worker”, drehen die beiden Teenager, die Fans des internationalen Kinos sind, doch persiflierende Hommage-Filme. “Breathe Less”, “The 400 Bros” oder “A Sockwork Orange” beispielsweise. Jene Filme sind es dann, die nach Erwähnung ihrer Existenz durch Earl für Rachel, die fortan während ihrer Chemotherapie der Schule fernbleibt, etwas nötige Ablenkung verschaffen. Und die für Madison (Catherine C. Hughes), einen Schulschwarm von Greg, Anlass für eine Geschenkidee an Rachel sind.

Greg und Earl sollen einen Film explizit für Rachel drehen – etwas, worauf Greg nur bedingt Lust hat. Ihre Filme seien schließlich Mist und sowieso er selbst nur jemand ohne Talent mit dem Gesicht eines Murmeltiers. Hinter Gregs albern-extrovertierter Fassade verbirgt sich eine verlorene Seele. Oder wie es Earl gegenüber Rachel formuliert: “Dude got issues.” Gregs Mutter (Connie Britton) ist enorm vereinnahmend und der Vater (Nick Offerman), ein Soziologieprofessor ohne soziale Kontakte, ein wenig geeignetes Vorbild. Als Stimme der Vernunft taugt höchstens Jon Bernthals Geschichtslehrer Mr. McCarthy (“Respect the reserach!”), selbst wenn im Fall von Greg, wie die meisten Menschen seiner Umwelt merken, guter Rat teuer ist.

Dass die Geschichte weniger um Rachel als um Greg kreist, vernachlässigt Erstere und ihr Schicksal als Folge teils. Wie ihre Krebstherapie ihr zusetzt, nimmt das Publikum zwar nur oberflächlich, aber ausreichend zur Kenntnis. Auch die anderen, etwas dünn gezeichneten Figuren – darunter auch Greg selbst –, vermögen im Kontext des Films ausreichend Luft zum Atmen zu erhalten, um über den Status einer Karikatur hinaus zu kommen. Gomez-Rejon stattet Me and Earl and the Dying Girl vielmehr mit Nuancen aus, die manche Akzente setzen. So wie der aufkommende Alkoholismus von Rachels Mutter (Molly Shannon), die nach dem Weggang des Ehemanns nun auch ihre Tochter und damit irgendwie ihre eigene Identität zu verlieren droht.

Wo The Fault in Our Stars ein kitschiges Beziehungsdrama ist, avanciert Me and Earl and the Dying Earl mehr zum Coming-of-Age-Film. Mittels exzellenter Musik von Brian Eno und Nico Muhly sowie einigen visuellen Vignetten wie Stop-Motion-Szenen oder Greg und Earls „geschwedete“ Amateurfilme sorgen mit dem schrulligen Ensemble für genug Auflockerung. Zwar durchaus ein klassisches Sundance-Feelgood-Produkt entwickelt Alfonso Gomez-Rejons zweiter Film genug Charme, um ungeachtet einiger Klischees zu überzeugen. Fast durchweg komisch und stellenweise berührend entspricht die Geschichte dann durchaus Gregs ironischer Einschätzung zu Beginn des Films: “It was the best of times; it was the worst of times.”

7.5/10

17. Oktober 2015

Saga – Volume Five | Bitch Planet #4-5

Family reunions can be complicated things.

In einem Interview mit dem Stern über sein jüngstes Buch darauf angesprochen, wieso die Handlung in einer Fantasiewelt spielt, antwortete Autor Salman Rushdie: „Ich wollte nicht in engem Sinne über reale Konflikte schreiben.“ Wie sein Roman zeigen aber auch andere Fantasy-Werke wie J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings, dass gegenwärtige Probleme durchaus als Fundament für Märchenausflüge dienen können. Ähnlich verhält es sich mit dem innewohnenden Kernkonflikt von Brian K. Vaughans und Fiona Staples’ Fantasy-Comic Saga. Zu Beginn des fünften Sammelbandes Volume Five erhalten die Leser eine kurze Rückschau auf den Krieg zwischen dem Planeten Landfall und seinem Mond Wreath, die erstaunlich real wirkt.

Rekrutierte Landfall zu Beginn des Krieges seine Soldaten per Lotterie, wich dies bald einer Freiwilligenarmee – der es jedoch nicht an Truppenstärke fehlte. Einige meldeten sich “out of a genuine sense of duty. Others were merely looking for adventure”. Mit der Zeit verlagerten die Parteien ihren Konflikt, der sich unweigerlich auf andere Planeten ausgeweitet hat, weg von sich selbst. Ruhe kehrte für die Zurückgebliebenen in der Heimat ein. “For most folk back on Landfall, war was something that would never directly impact their lives”, legt Vaughan seiner Erzählstimme Hazel in den Mund. Und somit (womöglich) zugleich ein Echo für seine US-amerikanischen Leser, deren Nation gerne Kriege vor der Haustür von anderen Ländern führt.

Doch der Konflikt, um den es derzeit in Saga geht, ist nicht das große Ganze, sondern im Kleinen zu finden. Roboter-Proletarier Dengo hat nicht nur den Sprössling von Prince Robot IV entführt, sondern als potentielles Faustpfand auch noch Alana und ihre Tochter Hazel. Letztere will er der rebellischen Splittergruppe The Last Revolution überlassen, die das Mischlingskind für Kriegsgefangene eintauschen möchte. Prince Robot IV hat derweil mit Marko sowie Ghüs und Yuma im Schlepptau die Verfolgung aufgenommen, die jedoch noch ihre eigenen Probleme mit sich bringt. Unterdessen suchen Gwendolyn, Sophie und The Brand auf dem von Drachen bewohnten buchstäblichen Halbplaneten Demimonde nach einem Heilmittel für The Will.

Eine Dreiteilung der Handlung, die den ganzen Band hindurch beibehalten wird – was alle Charaktere eint, ist die vermeintliche Hilflosigkeit, der sie sich gegenwärtig ausgesetzt sehen. Alana und Klara suchen nach einem Weg, wie sie sich Dengos Zugriff entreißen können – und versuchen es schließlich mit gutem Zureden. Kommunikation wiederum ist etwas, das zwischen den beiden Vätern Robot IV und Marko nur bedingt funktioniert. Was nicht besser wird, als sich Marko und Yuma fataler Weise in einer Überdosis Fadeaway verlieren, als Marko erneut mit seinem Temperament und seinen Trauma hadert. Es ist bezeichnend für Vaughan, dass man just in diesem Moment erfährt, dass Vater und Tochter sich Jahrelang nicht sehen werden.

Und wie bereits in der Vergangenheit kommt die Serie auch diesmal nicht umhin, sich von einigen Charakteren zu verabschieden. So überraschend zumindest einer der Todesfälle auch sein mag, fehlt dem Verlust hier irgendwie die Gravitas, da es Figuren betrifft, mit denen man zuvor nicht allzu viel Zeit verbracht hat, in der sie einem ans Herz wachsen könnten. Selbiges ließe sich da natürlich auch über The Stalk sagen und dennoch bildet deren Ableben einen bezeichnenden Kontrast zum aktuellen Verlauf. Figuren verlassen die Bildfläche so schnell sie diese betreten haben, Izabel sowie Upsher und Doff tauchen in Volume Five sogar überhaupt nicht auf. Dafür erweist sich Ghüs weiter als Humor-Geheimwaffe (“What did I do?”).

Am Ende bleibt somit ein Band, der sich generell – trotz der dramatischen Ereignisse in den letzten beiden Ausgaben – wie die Ruhe vor dem Sturm anfühlt. Was allerdings in gewisser Weise schon für den Vorgänger galt. Das Tempo der ersten drei Bände scheint derzeit irgendwie zu fehlen, manches Potential verheizt, womöglich mag dies auch bloß an den etwaigen Zeitsprüngen liegen. Ein solcher weiterer, das impliziert der Schluss von Volume Five, wird die Leser auch im kommenden Band erwarten. Was Saga aber dafür weiter auszeichnet, ist die (zurecht) hochgelobte Kunst von Fiona Staples, mit ihren vielen liebevollen und oft bewegenden wie amüsanten Detailaufnahmen. Selten waren reale Konflikte wohl schöner dargestellt.

7.5/10


Everybody likes a good story.

Die USA sind ein Land von Recht und Ordnung. Wer hier einmal die Fahrspur wechselt ohne zu Blinken, landet schnurstracks im Gefängnis – zumindest wenn die betreffende Person schwarz ist. So geschehen am 10. Juli dieses Jahres, als die 28-jährige Sandra Bland in Texas von einem weißen Polizisten angehalten wurde. Nach drei Tagen wurde Bland tot in ihrer Zelle gefunden. Neun Tage später erschoss ein weißer Polizist in Cincinnati den 43-jährigen Schwarzen Samuel DuBose, nachdem er diesen wegen eines fehlenden Autokennzeichens anhielt. Zwei Ereignisse, die Kelly Sue DeConnick, Autorin des Sci-Fi-Comics Bitch Planet, in ihrem Editorial der fünften Ausgabe aufgreift, da Realität und Themen des Comics sich nicht unähnlich sind.

Schon in ihrem Essay in Ausgabe #4 ging Journalistin Mikki Kendall darauf ein, dass auf schwarze Schülerinnen weitaus schlimmere Bestrafungen warten als auf ihre weißen Kameradinnen für dieselben Vergehen. Was wiederum eine Spirale lostritt, die letztlich im Gefängnis enden kann. Dort befinden sich natürlich auch weiterhin die Protagonistinnen von Bitch Planet rund um Kamau Kogo, die wir in den Ausgaben #1 bis #3 kennenlernten. Bezeichnete ich diese bereits als Exposition, geht diese auch in den jüngsten Ausgaben weiter. Inhaltlich legen DeConnick und Zeichner Valentine De Landro den Fokus auf Duemila aka Megaton. “Duemila for Dummies (Women)” heißt ein Medien-Segment, dass den Figuren das Event erläutert.

Was ich zuvor als mediales Sportereignis à la Running Man vermutete, offenbart sich weitaus simpler: die Macher übernehmen schlicht den Calcio Fiorentino, einen gewalttätigen Hybrid aus Fußball und Rugby, der in Florenz gespielt wird. Kein ungefährliches Unterfangen für unsere Damen, worauf Kamau auch von Mithäftling Fanny hingewiesen wird. “You’re making a hit list”, bezeichnet diese Kamaus Kaderzusammenstellung, während wir das Ganze in der “obligatory shower scene” miterleben. DeConnick und De Landro spielen hier gekonnt mit ihrem Exploitation-Genre, die Leser werden dabei ebenso zu Spannern wie eine Gefängniswärter-Figur. Doch Kamau, so scheint es zumindest, bereitet insgeheim ihren ganz eigenen Plan vor.

Dient Ausgabe #4 also dazu, uns Duemila/Megaton zu erklären und Details von Kamaus Plan zu erfahren, dreht sich Ausgabe #5 um ein Übungsspiel zwischen Kamaus Team und einigen Wärtern. Ein Hauch The Longest Yard, wenn man so will. Für die Insassen um Penny Rolle zugleich die Gelegenheit, ihre Unterdrücker körperlich anzugehen – Regeln werden während der Einheit ausgesetzt. Was jedoch nicht ohne Folgen bleibt – und das ist noch gelinde gesagt. Mit Hinblick auf einen Nebenplot um einen Stadiondesigner in Ausgabe #5, der sich für einen Duemila Court auf zum Bitch Planet macht, und einen ersten Plan, der zum Ende von Ausgabe #2 angedeutet wurde, scheint die Richtung von Bitch Planet im Moment ungewisser denn je.

Hinsichtlich des dem Comic innewohnenden Feminismus-Themas halten sich etwaige Sexismus-Tendenzen aufgrund der Duemila-Exposition diesmal in Grenzen. Interesse am Spiel soll Frauen helfen, ihren Partner glücklicher zu machen, in der Nachrichten-Berichterstattung muss sich ein weiblicher News Anchor von einem Reporter unentwegt mit “sweetheart” adressieren lassen und ein Häftling von Bitch Planet, erfahren wir, verdankt dies “disrespect”. Weitaus prägnanter sind derweil wieder die falschen Werbeanzeigen von Laurenn McCubbin auf dem Buchrücken, die uns “Niagra” anpreisen (“from the makers of Agreenex™”), zur künstlichen weiblichen Erregung oder Vaginalparfüm, damit man(n) sich erbarmt, mit seiner Frau Sex zu haben.

Bis auf den dramatischen Schluss von Ausgabe #5 hält sich die Fortentwicklung von Bitch Planet somit in Grenzen, was sich aber womöglich schon bald ändern könnte. Der nähere Blick auf Duemila schadet jedoch nicht und zumindest unterschwellig verdichtet sich das sozio-kulturelle Ausmaß im Universum des Comics. Ähnlich wie in Saga sehen wir hier wohl (hoffentlich?) die Ruhe vor dem Sturm. Stürmisch geraten inzwischen auch die Leserzuschriften und Tattoodebatte, die sich in Ausgabe #5 auf mehrere Seiten erstrecken (und im Sammelband wie die Essays fehlen dürften) – für meinen Geschmack fast schon etwas ausufernd. Aber eben zugleich wohl auch Ausdruck, wie weit Unterdrückung in unserer Gesellschaft noch reicht.

7.5/10

11. Oktober 2015

Sicario

The Fourth of July on steroids.

Unter Präsident Nixon avancierte der Drogenmissbrauch in den USA im Jahr 1971 zum „Staatsfeind Nummer Eins“, im Jahr darauf investierte seine Regierung bereits 600 Millionen Dollar (Inflationsbereinigt also zirka 3,5 Milliarden Dollar). Eine Summe, die seither auf gut 50 Milliarden für das laufende Jahr angehoben wurde. Fast so hoch wird der Umsatz geschätzt, den die mexikanischen Drogenkartelle jährlich mit ihrem Drogenhandel einnehmen. Denkt man an die Präsenz des Drogenkriegs in Mexiko, der gut 90 Prozent der Drogen in den USA besorgt, in den Werken aus Hollywood, fällt einem wohl höchstens Steven Soderberghs Traffic ein. Eine Rolle, die diesem ab sofort Denis Villeneuves Thriller Sicario streitig machen dürfte.

In diesem wird FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt) für eine Sondereinheit von Matt Graver (Josh Brolin) angefragt, der als Berater für das Verteidigungsministeriums im Drogenkrieg fungiert. Sie begleitet Graver und dessen Kollegen Alejandro (Benicio del Toro) zu einem vermeintlichen Einsatz in El Paso, der sie tatsächlich auf die andere Seite der Grenze nach Juárez führt. Dort sollen sie einen der Männer des führenden Kartells in die USA überführen. Komplikationen unterwegs wecken in Kate erste Zweifel an der Legalität des Unterfangens, während der Einsatz selbst Graver und Co. auf eine heiße Fährte führt: ein Tunnel zwischen beiden Ländern, den das Kartell für seinen Drogenschmuggel nutzt. Aber heiligt der Zweck die Mittel?

Das gesamte Ausmaß des Drogenkriegs reißt Denis Villeneuve in seinem jüngsten Werk nicht mal im Ansatz an. Ein FBI-Einsatz zu Beginn, der einige Gräuel zu Tage fördert, dient für Macer als Motivation für Gravers Mission. Sein Interesse an der FBI-Agentin, deren Rechtsraum sich nur auf eine Seite der Grenze beschränkt, wird erst im Verlauf des Schlussaktes vollends klar. Die Kernhandlung von Sicario ist derweil relativ simpel gehalten, mit dem Tunnel als Bindeglied und zugleich Zugang zum größten Widersacher der Regierungsvertreter im Film. Viel mehr als von der Geschichte oder ihren Figuren lebt Sicario von seiner Atmosphäre und Intensität. Genauer gesagt von seiner Anspannung, die er mit Beginn evoziert und bis zum Ende hält.

Villeneuve schafft – mit herausragender Mithilfe seines Komponisten Jóhann Jóhannsson – über die zweistündige Laufzeit eine bedrohliche Atmosphäre, in der man das Gefühl hat, es könnte in jeder Sekunde zu allem Möglichen kommen. Und selbst wenn bisweilen, wie im Verlauf des ersten Akts, die Kamera derart offensichtlich platziert wird, dass die folgende Ereignisse vorhersehbar sind, nimmt dies Sicario wenig von seiner nüchternen Rauheit. Dieser Tonfall, dieses von den meisten Figuren zelebrierte Kalkül, ist der eigentliche Star des Films, der so manche Nachlässigkeit in der Ausarbeitung der Handlung oder in der Figurenzeichnung – Macer und Co. kommen nie wirklich über den Status als menschliche Schachfiguren hinaus – ausgleicht.

Hinzu kommt, dass etwaige Szenen für die mexikanische Nebenfigur Silvio (Maximiliano Hernández) aufgewandt werden, die diese Aufmerksamkeit wie sich herausstellen soll nur bedingt, falls überhaupt, verdient. Diese wie auch die ein oder andere weitere Szene hätte Villeneuve vielleicht opfern sollen, um dafür die Wirkung des finalen „Twists“ – falls man diesen überhaupt so nennen kann – etwas mehr zur Geltung zu bringen. Nicht zuletzt, da Sicario ähnlich wie Villeneuves Prisoners einen Tick länger gerät als er unbedingt hätte sein müssen. Auch etwas mehr Einbettung ins größere Ganze des Drogenkriegs und sein Ausmaß hätte nicht geschadet und dem Film sich hierfür fraglos Gelegenheiten geboten, darunter auch in Bezug auf Silvio.

Ungeachtet dessen untermauert Villeneuve sein vielversprechendes Talent, mit dem er bereits Prisoners und den exzellenten Enemy inszenierte. Ein intensiv-packender Thriller, in dem das Schicksal seiner Figuren sich zu jedem Zeitpunkt ändern kann – etwas, das sich auch nicht über jeden Kinobeitrag sagen lässt. Vielleicht inhaltlich etwas weniger kommentierend zum Drogenkrieg wie Soderberghs thematisch dichterer – zugleich jedoch auch mehr belehrender – Traffic, gehört Sicario dennoch zu den positiveren Kinoerlebnissen des Filmjahres 2015. Was ihm an Handlung abgeht, macht er mit Stimmung wieder weg. Vielleicht ja der Auftakt zu mehr Filmen zum Thema Krieg gegen die Drogen – inhaltlich wäre das durchaus gerechtfertigt.

7.5/10

5. Oktober 2015

The Martian

Fuck you, Mars.

Wenn schon, denn schon – scheinen sich zuletzt Ridley Scott, Matt Damon und Jessica Chastain zu denken. Nachdem Ridley Scott 30 Jahre nach Blade Runner mit Prometheus zum Sci-Fi-Genre zurückkehrte und derzeit dessen Fortsetzung Alien: Paradise Lost plant, greift er nun mit der Romanadaption The Martian erneut nach den Sternen. Auch Jessica Chastain mimt erneut ein NASA-Mitglied nach Interstellar, in dem sich Matt Damon wie hier bereits in einen Raumanzug zwängte, um den einzigen Menschen auf einen fremden Planeten zu spielen. Im Vergleich zu Prometheus und Interstellar legt The Martian allerdings den Fokus auf „Science“ statt „Fiction“ – selbst wenn sich der Film speziell in seinem letzten Drittel vollends Hollywood ergibt.

Die Handlung setzt auf dem Mars, genauer der Ebene Acidalia Planitia, ein. Die bemannte Ares-III-Mission rund um ihren Commander Lewis (Jessica Chastain) sieht sich durch einen nahenden Sturm gezwungen, gut zehn Tage früher als geplant die Heimreise gen Erde anzutreten. Auf dem Weg zu ihrer Landefähre verlieren die Crew-Mitglieder ihren Botaniker Mark Watney (Matt Damon), den sie für tot halten und daraufhin zurücklassen. Nur: Watney hat den Sturm überlebt – und sieht sich nun allein auf Mars mit der Suche nach Lebensmittel und Sauerstoff konfrontiert. Eine Kommunikation zur Erde scheint nicht möglich, doch dort bleiben Watneys Überlebensversuche auf dem roten Planeten nicht verborgen. Aber wie kann NASA ihm helfen?

Fortan wechselt The Martian die Schauplätze zwischen Watney in der Ares-Station auf dem Mars und den NASA-Einrichtungen auf der Erde. Dort debattieren NASA-Direktor Teddy Sanders (Jeff Daniels), Marsmissions-Leiter Vincent Kapoor (Chiwetel Ejiofur), Ares-Flugdirektor Mitch Henderson (Sean Bean) sowie NASA-Sprecherin Annie Montrose (Kristen Wiig) über den Umgang mit Watneys Überleben. Während dieser auf der Erde öffentlich wird, hält NASA Watneys Crew (Michael Peña, Kate Mara, Sebastian Stan, Aksel Hennie) im Dunkeln. Der Botaniker installiert derweil ein Grünhaus in der Stationsküche und sucht nach Mitteln und Wegen, wie er so lange überleben kann, bis die nächste Ares-Mission in vier Jahren eintreffen wird.

Im wissenschaftlichen Aspekt dieses Umstands findet sich die große Stärke des Films, ungeachtet dessen, dass natürlich alles, was in The Martian passiert, dennoch klar der gängigen Hollywood-Dramaturgie folgt. Wenn Watney jedoch tüftelt, wie er genug Kartoffeln anbauen kann und seinen Rover mit ausreichend Energie ausstattet oder mit der Erde kommuniziert, liegt all dem klar eine wissenschaftliche Basis zugrunde. Selbst wenn diese nach und nach und insbesondere im Schlussakt vollends den Pathos-Gesetzen des Blockbuster-Kinos geopfert wird. Und auch wenn man The Martian nicht wirklich vorhalten kann, zu verkopft an seine Geschichte heranzugehen, stellen sich gerade in der zweiten Hälfte Längen ein.

Hinzu kommt ein Überfluss an Figuren, die teils wie Kristen Wiigs PR-Tante oder Donald Glover in einer “Troy goes Abed”-Gedächtnisperformance als NASA-Schreibtisch-Nerd Rich Purnell nicht wirklich nötig gewesen wären, da selbst für die anderen Charaktere wie die Ares-Crew oder NASA-Leiter außer Kapoor wenig im Film zu tun ist. The Martian ist vielmehr die Mark Watney Show – was dieser dadurch untermauert, dass er sich selbst per Kamera dokumentiert und dabei quälend-schlechte Einzeiler auf SchleFaZ-Niveau raushaut (“With cool, dry wit like that, I could be an action hero”, wussten schon die Simpsons). Auch sonst geraten die Dialoge im Film wenig eindrücklich, dafür gefällt das jordanische Wadi Rum erneut als Mars-Kulisse.

Selbst wenn wenig Erinnerungswürdiges im Film geschieht und die Figuren – selbst Watney – kaum über eine eindimensionale Zeichnung hinauskommen, wissen die Beteiligtem mit ihrem Produkt mehr zu überzeugen als in ihren Sci-Fi-Vorgängerproduktionen. Weniger Figuren und eine geringere Laufzeit mit einem ausgefeilteren Skript hätten Ridley Scotts jüngstem Werk wohl gut zu Gesicht gestanden. An dem kitschigen Ende führt derweil wohl kein Weg vorbei, wobei die Prämisse von The Martian natürlich auch wenig Raum für Alternativen lässt, die für einen Blockbuster dieser Größenordnung rentabel wären. Womöglich haben sich die Beteiligten angesichts des Sci-Fi-Genres in anderen Worten aber auch bloß gedacht: Wenn schon, denn schon.

7/10