3. Januar 2020

Filmjahresrückblick 2019: Die Top Ten

Cinema is life itself. Life is cinema and cinema is life.
(Murata Joe, Ai-naki mori de sakebe [The Forest of Love])

Repetition führt zu Reputation – so soll es die US-Unternehmerin Elizabeth Arden einmal verlautet haben. Angesichts der darniederliegenden Besucherzahlen dieses Blogs aber eher ein leeres Versprechen und doch habe ich – wider Erwarten – auch für 2019 wieder den obligatorischen Filmjahresrückblick zu Stande gebracht. Wie schon in den vergangenen 13 Jahren. Der Habitus obsiegt, obschon ich mich jährlich frage, es nicht einfach gut sein zu lassen, wo sich die Bloggersphäre von vor zehn Jahren doch nun soweit gewandelt hat, dass Leserschaft sowie Interaktion kaum mehr der Rede wert sind. Geschweige denn der Mühe der Reviews. Gut möglich, dass dies auch nur die Konsequenz einer generellen filmischen Übersättigung ist.

Kino – brauchen wir das noch oder kann das weg? Die Welt spielt sich verstärkt online ab, jeder will dabei ein Stück vom Kuchen abhaben. Disney+, AppleTV+, Content+ – statt Netflix hortet jeder seine Filme und Serien als exklusives Angebot. Kein Wunder, dass nach dem Tiefstand von vergangenem Jahr die Kinobesuche in Deutschland in 2019 nochmals zurückgingen und nichtmal die 100-Millionen-Marke überschreiten. Ich selbst bin hier natürlich mitschuldig, von meinen insgesamt 166 Filmsichtungen aus 2019 (in 2018: 155 Filme) entfielen rund sieben Prozent auf Kinobesuche. 13 Mal suchte ich die Lichtspielhäuser auf, immerhin zweifach für James Grays Ad Astra. Dennoch ein erneuter Rückgang zum Vorjahr (15 Besuche).

Nach dem Tiefstwert in 2018 waren die deutschen Kinobesuche auch 2019 rückläufig.
Statt zur cineastischen Kathedrale avanciert das Kino immer stärker zum Event-Raum. Außer für die großen Blockbuster bequemen sich die Menschen kaum noch von ihrem Sofa weg – es sei denn, ein Film macht entsprechend Furore. Darunter Todd Phillips’ Scorsese-Hommage und DC-Prequel Joker, das den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig abräumte und mit einer Wertung von 8.7/10 auch für die Nutzer der Internet Movie Database (IMDb) den ersten Platz der beliebtesten Filme belegte (Stand: 01.01.2020). Dicht gefolgt von einem weiteren Festival-Sieger: Bong Joon-hos Gesellschaftssatire Gisaengchung [Parasite], Gewinner der Palme d’Or in Cannes 2019 und mit einer Bewertung von 8.6/10 auf dem zweiten Rang.

Der drittbeliebteste Film mit einer Wertung von 8.5/10 war 2019 Avengers: Endgame, der CGI-Bombast-Abschluss unter mehr als zehn Jahre und zwei Dutzend Filme umspannende Pixel-Penetration. Die jüngste narrative Nebelbombe aus dem Hause Disney avancierte zugleich zum erfolgreichsten Film des Jahres und aller Zeiten – und ließ mit einem Einspiel von fast 2,8 Milliarden Dollar auch James Camerons Avatar hinter sich. Den Kassen-Hattrick komplettiert das Mouse House dann mit seinem CGI-Remake The Lion King auf dem zweiten Rang und zugleich einer Milliarde weniger Einspiel sowie dem Pixar-Sequel Frozen II, das ebenfalls eine weitere Milliarde in die Taschen von Disney-CEO Bob Iger und Konsorten hievte.

Prequels, Sequels, Spin-offs, Remakes – originäre Filme ziehen beim Publikum nicht mehr.
Große Risiken geht kaum noch ein Studio ein – weshalb alle der zehn erfolgreichsten Filme aus 2019 ein Pre-, Sequel, Spin-Off oder Remake waren. Auf Platz 4 schob sich mit Spider-Man: Far From Home noch Sony Pictures, prinzipiell aber auch durch das MCU gepusht. Das findet sich auf Platz 5 mit Captain Marvel wieder, ehe auf Rang 6 mit Toy Story 4 die dritte Fortsetzung von Pixars Debüt landete. Warner Bros. schiebt sich mit Joker auf die sechste Position, ehe Disney mit der lieb- und leblosen Live-Action-Version von Aladdin den achten Film des Jahres ablieferte, der über eine Milliarde Dollar einnahm. Star Wars – Episode IX: Rise of Skywalker landet derzeit (passend) auf Platz 9, vor Fast & Furious Presents: Hobbs & Shaw.

Der erfolgreichste Film 2019, der auf keinem Franchise basierte, war auf Platz 11 dann der chinesische Animationsfilm Ne Zha, zugleich Jahressieger in seiner Heimat. Traditionell ziehen die Asiaten einheimische Filme denen des Westens vor, was sich auch in Südkorea in der Undercover-Komödie Geukhanjikeob [Extreme Job] sowie in Japan in Shinkai Makotos jüngsten Animationswerk Tenki no ko [Weathering With You] jeweils zeigte. Patriotisch sind stets auch die Türken, obgleich dort mit 7. Kogustaki Mucize wiederum ein Remake von Miracle in Cell No. 7 auf Platz 1 landete, sechs Jahre zuvor noch ein Kassenschlager in Südkorea. Nationale Ware goutierten ebenso Ägypter mit Kasablanka und Tschechen mit Ženy v běhu [Women on the Run].

Jahressieger der deutschen Kinocharts: das Pixar-Sequel Frozen II.
Dagegen teilte sich der Großteil der Welt in zwei Disney-Lager zwischen Superhelden und Löwenkönigen. Avengers: Endgame siegte naturgemäß in den USA, aber auch in den übrigen englischsprachigen Ländern wie Großbritannien, Australien oder Neuseeland. Auch in Indien, Vietnam und Thailand konnten Iron Man und Co. überzeugen, während in Südamerika Brasilianer, Kolumbianer, Bolivianer, Chilenen und die Besucher in Paraguay den Avengers die Treue hielten. In Europa traf dies darüber hinaus noch auf Länder wie Rumänien, Ukraine, Dänemark, Ungarn und die Slowakei zu. Ansonsten lauschten Europäer bevorzugt Löwengebrüll und ließen sich von Simba und seiner “Hakuna Matata”-Entourage in die Savanne entführen.

Den ersten Platz der Jahrescharts belegte The Lion King hierbei in Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, den Niederlanden, Belgien, Österreich und der Schweiz, Bulgarien, Slowenien, Russland, Polen sowie Schweden und Norwegen. Wenig überraschend kam das Spektakel um Löwen, Meerkatzen und Co. auch in Südafrika bestens an. In Deutschland thronte The Lion King ebenfalls auf Rang 1 (im übrigen mit fast halb so vielen Besuchern wie im Nachbarland Frankreich, trotz höherer Einwohnerzahl), es ist aber davon auszugehen, dass Frozen II in den ersten Wochen des Kalenderjahres 2020 noch die erforderliche Zuschauerzahlen generieren dürfte, um Elsa und ihre Familie letztlich zum erfolgreichsten Film 2019 bei uns zu machen.

Beste Serie des Jahres: Nicolas Winding Refns Too Old to Die Young auf Amazon.
Womit Deutschland quasi ein Ausreißer wäre, wie er 2019 eher selten der Fall war. Statt auf die Avengers setzten Peru, Ecuador, Jamaika, Jordanien, Bahrein, der Oman und Kenia lieber auf Spider-Man: Far From Home. Mit Joker hielten es derweil Finnland, Kroatien und Griechenland. Action der anderen Sorte zogen die Zuschauer in Honduras, Costa Rica und Nicaragua vor, die sich an John Wick: Chapter 3 – Parabellum begeisterten. Etwas extravaganter fielen die Ansprüche sowohl in Israel als auch in Trinidad & Tobago aus, die gemeinsam mit Fast & Furious Presents: Hobbs & Shaw aufs Gas traten. Toy Story 4 verzückte dafür Argentinien, Mexiko und Uruguay, während Panama lieber Dora and the City of Gold für sich entdeckte.

Großer Gewinner in 2019 ist fraglos erneut Disney, das sich inzwischen auch noch 20th Century Fox einverleibte. Allein mit den Filmen aus den Top 15 der weltweiten Charts nahm das Studio über 10 Milliarden Dollar ein – zum Vergleich: Sonys erfolgreichste zwei Filme spielten zusammen so viel ein wie The Lion King alleine. Als Gewinner können aber auch Brad Pitt, der viel Lob für seine Rollen in Ad Astra und Once Upon a Time… in Hollywood erhielt, sowie Keanu Reeves erachtet werden. Letzterer reitet weiterhin seine eigene McConaisance-Welle mit Gast-Auftritten in Toy Story 4 oder Always Be My Maybe. Auch Florence Pugh startete mit Rollen in Midsommar und Fighting with My Family durch – und stößt 2020 in Black Widow zum MCU dazu.

Beste Darsteller des Jahres: Willem Dafoe, Zain Al Rafeea, Glenn Close.
Danny Aiello soll Natalie Portman einst am Set von Léon – The Professional den Ratschlag gegeben haben “Don’t do television”. Ein Tipp, der heutzutage auch obsolet scheint, treibt es doch viele Kinostars inzwischen wieder in die Fernseher, bevorzugt in von ihnen selbst produzierten Serien. Fernsehen ist das neue Kino, könnte man fast meinen. Viel Budget wird in Shows wie Game of Thrones – Season Eight gebuttert, gedankt haben es deren meiste Fans den Machern eher nicht. Umjubelt waren dafür HBOs andere Serien Watchmen sowie Chernobyl – mir selbst gefiel 2019 eher Ben Stillers Escape at Dannemora, die TV-Serie des Jahres allerdings war dann jedoch Nicolas Winding Refns Style-as-Substance-Show Too Old to Die Young.

Beeindruckend waren 2019 auch wieder einige Schauspielleistungen. Zwar für einen Oscar als Beste Darstellerin nominiert, aber übergangen, trägt Glenn Close fast alleine das Ehedrama The Wife. Ebenfalls beeindruckend in kleinen Rollen waren zudem Gabriela Maria Schmeide in Systemsprenger sowie Margarete Tiesel in Der Goldene Handschuh. Bei den Herren gefiel Denis Ménochet in François Ozons Grâce à dieu [Gelobt sei Gott], mit zwei starken Leistungen in At Eternity’s Gate sowie The Lighthouse ist Willem Dafoe jedoch für mich der Darsteller des Jahres. Die vielversprechendste Nachwuchsleistung lieferte Zain Al Rafeea in dem Sozialdrama Capharnaüm [Capernaum] ab, knapp vor Newcomerin Tiffany Chu in Ms. Purple.

Viele große Meister legten neue Filme vor, von Scorsese (The Irishman) über Almodóvar (Dolor y gloria) und Boyle (Yesterday) hin zu Allen (A Rainy Day in New York) oder Burton (Dumbo). Wirklich begeisterte mich keiner von ihnen, was aber genauso persönliche Favoriten wie Asif Kapadia (Diego Maradona) oder Hosoda Mamoru (Mirai no mirai) betrifft. 2020 dürfte uns viel von dem erwarten, was bereits die letzten Jahre dominiert: lästige, leblose “Tentpole”-Filme. Ob ich das erneut begleiten werde, muss man noch sehen. Inspiriert von Elijah Wood verzichte ich dieses Jahr auf eine Flop Ten, Honorable Mentions folgen wiederum vorab, statt als erster Kommentar. Eine gesamte Auflistung ist wie üblich auf Letterboxd einsehbar. Und damit ohne weitere Umschweife, hier sind meine zehn favorisierten Filmen von 2019:


Honorable Mentions (in alphabetischer Reihenfolge): Ad Astra (James Gray USA/CN 2019), Batman vs. Teenage Mutant Ninja Turtles (Jake Castorena, USA 2019), Doubles vies (Olivier Assayas, F 2018), The Game Changers (Louie Psihoyos, USA 2018), Jiang hu er nü (Zhangke Jia, CN/F/J 2018).


10. Dragged Across Concrete (S. Craig Zahler, USA/CDN 2018): In seinem reaktionären Cop-Thriller besetzt S. Craig Zahler seine Hauptdarsteller Mel Gibson und Vince Vaughn punktgenau als abgehängte alte Männer, welche die Zeit und der gesellschaftliche Wandel über den Asphalt schleifen. Und erzählt zugleich von Masken, die wir uns alle aufsetzen, um es irgendwie lebend durch den Alltag zu schaffen. Dragged Across Concrete ist ein Film einer anderen Ära, den man mehr mag, als man heutzutage vielleicht sollte.

9. Minding the Gap (Bing Liu, USA 2018): Schickt sich Bing Lius Film zuerst als eine Dokumentation über die Skater-Szene von Illinois an, avanciert Minding the Gap schnell zur packenden Reflexion über Elternschaft und häusliche Gewalt. Lius Protagonisten um den ambivalenten Zack liefern tiefe Einblicke in den Zwiespalt von Erwartung und Realität, in die Diskrepanz zwischen einst unbeschwerter Jugend und den Herausforderungen als Erwachsener allgemein sowie als Elternteil speziell. Quasi eine Montage über das Leben.

8. The Dead Don’t Die (Jim Jarmusch, USA/SWE 2019): Wir ernten, was wir säen – so beschwört Jim Jarmusch in seiner Zombie-Satire The Dead Don’t Die die Untoten als menschengemachte Folge unserer Umweltsünden am Planeten. Zugleich nutzt der Regisseur seinen Genre-Beitrag als Breitseite gegen die konservative Rechte, inszeniert dies aber keineswegs bierernst, sondern derart launig und lakonisch, dass selbst Hauptdarsteller Bill Murray sich ein ums andere Mal vor der Kamera das Lachen verkneifen muss.

7. 63 Up (Michael Apted, UK 2019): Eigentlich nur als einmaliger Kurzfilm über die Klassenunterschiede in England vor 56 Jahren geplant, zählt Michael Apteds Up-Serie zu den langlebigsten Reihen der Filmlandschaft. 63 Up findet viele der Teilnehmer kurz vor der Rente, zugleich im Konflikt mit Krankheiten und ihrer Mortalität. Das alljährliche Wiedersehen erlaubt die Reflexion über das eigene Erlebte, denn wie Sue korrekt zusammenfasst: “The things we go through are what everyone’s going through.”

6. Rizu to aoi tori (Yamada Naoko, J 2018): Das sicher gelungenste Spin-off des Jahres (vor Hobbs & Shaw) fand sich in Yamada Naokos hinreißendem Rizu to aoi tori, der sich intensiv der Beziehung der Schülerinnen Nozomi und Mizore aus der Anime- bzw. Manga-Serie Hibike! Euphonium widmet. Gewohnt gekonnt inszeniert Yamada-sensei auf feinfühlige Weise diese Geschichte über Freundschaften, die im Verlauf des Erwachsenwerdens auf der Strecke bleiben können. Ein Film, den man einfach nur umarmen will.

5. The Beach Bum (Harmony Korine, USA/UK/F/CH 2019): Welche Erwartung an Künstler ist gerechtfertigt und was für Verpflichtungen hat der Urheber gegenüber den Rezipienten seiner Kunst? Fragen, die Harmony Korine auf typisch skurrile Weise in seiner Komödie The Beach Bum subtil aufgreift. Matthew McConaughey überzeugt darin nebst einem illustren Ensemble und begleitet von einem charmanten Soundtrack als Florida-Dichter und Hedonist Moondog, der um des Lebens willen lebt. Ein wahres Vorbild für uns alle.

4. Kamera o tomeru na! (Ueda Shin'ichirô, J 2017): In der zweiten gelungenen Zombie-Komödie des Jahres inszeniert Ueda Shin'ichirô in Kamera o tomeru na! den Angriff der lebenden Toten als Mise en abyme, wenn Dreharbeiten zu einem Zombie-Film plötzlich von echten Untoten heimgesucht werden. In bester William-Friedkin-Manier lässt der fordernde Regisseur Higurashi die Kamera für maximale Authentizität einfach weiterlaufen, während Ueda selbst seiner amüsanten Geschichte im zweiten Akt neues Leben einhaucht.

3. The Last Black Man in San Francisco (Joe Talbot, USA 2018): Gentrifikation in San Francisco und die Folgen auf die ursprünglichen Bewohner sowie was Heimat, Identifikation und Zugehörigkeit für Menschen ausmachen, behandelt Joe Talbot auf tiefsinnige und doch vereinnahmende Art in seinem Debütfilm The Last Black Man in San Francisco. Ein angespanntes Verhältnis von Gewesenem und Gegenwärtigem, die nostalgische Rückbesinnung als Weiterentwicklung, von Talbot mit hoffnungsvoller Melancholie inszeniert.

2. American Factory (Steven Bognar/Julia Reichert, USA 2019): Chinesen, die kapitalistischer denken als Amerikaner und diese zu YMCA unterlegt vor einer die Minions abspielenden Leinwand für sich tanzen lassen, bilden den Kern von Steven Bognar und Julia Reicherts Netflix-Dokumentation American Factory. Um der Arbeit willen heuern ehemalige GM-Angestellte für einen chinesischen Konzern an, der ihr altes Werk übernommen hat. Was folgt ist eine Culture-Clash-Komödie zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

1. Portrait de la jeune fille en feu (Céline Sciamma, F 2019): Manchmal sagen Blicke mehr als tausend Worte, zum Beispiel in Céline Sciammas Meisterwerk Portrait de la jeune fille en feu. Sciamma streicht dabei Rollenbilder und das Verständnis von Freiheit im ausgehenden 18. Jahrhundert an, erzählt aber prinzipiell eine universelle Romanze, in der die beiden Liebenden sich als Gegenentwurf zueinander begegnen. Dabei beobachten die Figuren nicht nur einander, sondern wir als Zuschauer auch starke Gefühle und großes Kino.

2 Kommentare:

  1. Mensch, wenn es du jetzt schon nicht mehr ins Kino schaffst, was soll dann auch die Zukunft des Kinos bringen? Immerhin 166 Filme. Respekt! Das ist doch mehr als ordentlich.

    Aus deinen Top 10 hat es immerhin "One Cut of the Dead" in meine Sammlung geschafft, den ich hoffentlich bald nachholen werde.

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  2. Gruselig, dass sich Disney einfach alles einverleibt... Danke für den schönen Rückblick!

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