7. Juli 2025

On Falling

Either you run the day or the day runs you.

Für Karl Marx trugen der Kapitalismus und die Arbeit zur Entfremdung der Menschen von sich selbst und einander bei, wird der Arbeiter doch zu einem Knecht jenes Gegenstands, den er für die „Sachenwelt“ produziert. „Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu“, schrieb Karl Marx in seinen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844“. Den Menschen wird die Arbeit zur Lebenstätigkeit, um ihre physische Existenz zu erhalten. Sie werden entindividualisiert, vermutlich nirgends mehr als in der industriellen Warenproduktion. Laura Carreira widmet sich in ihrem Debütfilm On Falling dem Schicksal einer solchen schleichenden Entfremdung durch Arbeit.

Der Film handelt von Aurora (Joana Santos), einer portugiesischen Arbeitsmigrantin, die sich im schottischen Edinburgh als Kommissioniererin im Lager eines Versandhändlers verdingt. Sie ist auf der Suche nach einem besseren Job – und damit nach einem besseren Leben. Ein Sozialleben hat sie eigentlich nicht, von Small Talk mit ihrer Landsfrau Vera (Inês Vaz), die sie morgens zur Arbeit mitnimmt, und ihren Mitbewohnern, ebenfalls ausländische Arbeiter, abgesehen. Versuche, soziale Kontakte zu knüpfen und zu stärken, laufen ins Leere und steigern mit der Monotonie ihres Jobs die Entfremdung von Aurora, deren letzter Rettungsring ihr Smartphone scheint, bis dieses eines Tages bei einem Sturz plötzlich den Geist aufgibt.

Nicht nur für Aurora ist das Handy von zentraler Bedeutung, fast alle Figuren hängen nonstop an diesem, suchen den Kontakt mit dem Internet mehr als zueinander. Gleichzeitig sehen wir Aurora nie Telefonate oder Videochats in ihre Heimat führen, es scheint also auch dort kein soziales Netz für sie zu geben. Versuche zur Interaktion scheitern, sei es wenn Vera eine Einladung zum Abendessen ablehnt oder Aurora eine solche Einladung an eine Mitbewohnerin gar nicht erst ausformulieren kann, da diese sie nicht ausreden lässt. Anders der neue polnische Mitbewohner Kris (Piotr Sikora), der Aurora wiederholt Dinge anbietet, von Trauben über Bier hin zu Clubbesuchen oder Mahlzeiten. Aber eben nur oberflächlichen Sozialkontakt.

Es birgt eine gewisse Ironie, dass Aurora, Kris und Co. in einer Wohnung leben, die einst eine Familie beherbergte, ehe sie zur Migranten-WG umfunktioniert wurde. Deren Bewohner haben eigentlich nur einander als eine Art Zweck-Familie, leben aber doch letztlich jeder für sich. Auroras Misere ist somit nur zum Teil ihrem Job als Kommissioniererin in einer Sachenwelt geschuldet, aber auch dem Umstand, eine Fremde in einem fremden Land zu sein, was ihr die Integration nicht erleichtert. Thematisch ähnelt On Falling dabei den Filmen von Ken Loach, der hier wiederum als einer der Produzenten auftritt, vor wenigen Jahren mit Sorry We Missed You selbst ein Schicksal innerhalb der Logistikbranche beleuchtete.

In einer Szene sehen wir im Lager ein Paket, das auf einem Laufband nicht vorankommt, obwohl es in Bewegung ist. Es tritt quasi auf der Stelle und steht sinnbildlich für Aurora selbst. Indem einer ihrer Lagerkollegen sich das Leben nimmt, sie später in einem Kosmetikgeschäft von einer Mitarbeiterin beraten wird, die Narben an den Handgelenken aufweist, deutet Carreira an, welches Schicksal auch Aurora drohen könnte, wenn die Entfremdung kein Ende findet, sondern irgendwann ihren Tribut einfordert. Als Aurora schließlich das ersehnte Bewerbungsgespräch erhält, wird sie emotional überwältigt von den Fragen zu ihrer Persönlichkeit und der Schilderung des Lebens, das sie behauptet zu haben, in Wirklichkeit aber nur gerne hätte.

Santos spielt diese Momente der inneren Leere sehr überzeugend, stets ergreifend gerät es, wenn Aurora in ihrem Zimmer Geräusche in der Küche hört, diese unter einem Vorwand aufsucht, um wenige Sekunden sozialer Interaktion zu erleben. Laura Carreiras Film ist weniger Kapitalismus- als Gesellschaftskritik, ein Appell für mehr Miteinander, statt gemeinsam einsam zu sein. On Falling wirkt inspiriert durch Bruce Springsteens Song „Human Touch“, worin dieser davon singt, kein Lob, Mitleid oder eine Stütze zu suchen: “I just want someone to talk to / And a little of that Human Touch / Just a little of that Human Touch.” Damit könnte er Aurora aus der Seele sprechen, sehnt doch auch sie sich nur nach etwas menschlicher Wärme.

7/10

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