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30. November 2018

Climax

What doesn’t kill me makes me stronger.

Der dumpfe Bass von Elektro-Musik bebt, sich vermischend mit dem flehenden Geheule eines Kindes und den verzweifelten Schreien einer jungen Frau. Wie ein Pulsschlag wabert die Geräuschkulisse durch den Zuschauer, während die Kamera sich durch dunkle Gänge bewegt, immer unstet, manchmal um 90 oder 180 Grad gedreht. Die Botschaft ist simpel: Hier ist alles außer Kontrolle geraten. Die Welt dreht sich, ist nicht klar wahrnehmbar. Völlig losgelöst. Alles kann, nichts muss für die Figuren in Climax, Gaspar Noés jüngster Tour de force. Einem Film über das Schaffen und das Scheitern. Über die Sehnsüchte und Abgründe der menschlichen Gesellschaft. Oder einfach nur über eine Party, die am Ende etwas ausartet.

Bevor sie sich aufmachen zu einer Tournee in den USA feiert die Tanzgruppe um Selva (Sofia Boutella) und Choreografin Emmanuelle (Claude Gajan Maull) zusammen in einer Schulhalle. Es wird geflirtet und getanzt. Getanzt und geflirtet. Dazwischen fleißig Sangria getrunken, die Emmanuelle vorbereitet hat, während sie bisweilen nach ihrem kleinen Sohn schaut. Für die männlichen Gruppenmitglieder wie David (Romain Guillermic) bietet das Ensemble die Chance auf verschiedene sexuelle Abenteuer. Doch was als simple Tanz-Party begann, droht plötzlich zu eskalieren, als sich herausstellt, dass jemand die Sangria heimlich mit LSD versetzt hat. Aufgestaute Emotionen und Gelüste brechen sich Bahn und steigern sich im Verlauf.

Wer Noés Filmografie folgt, hat in Irréversible bereits den Homosexuellen-Nachtclub Rectum betreten und in Enter the Void die Bordell-Absteige des Love Hotels. Beide können aber nicht darauf vorbereiten, was sie nun hier in Climax erwartet. Dabei beginnt der Film angesichts seines Regisseurs erstaunlich zurückgenommen. Das Tanzensemble wird via VHS-Interviews vorgestellt und mit Fragen konfrontiert, gefolgt von einer Performance als Single Take, die schließlich in die gemütliche Party übergeht. Und weil wir einen Film von Gaspar Noé sehen, wissen wir, dass die Kacke bald am Dampfen ist. Die Frage ist nur, wann er seinen typischen Wahnsinn von der Leine lässt. Was wiederum im Verlauf die Anspannung steigen lässt.

Jene Anspannung wird weniger durch die Bilder von Benoît Debie intensiviert, sondern im Versuch, sich auf die kommenden Entwicklungen vorzubereiten. Als hielte einen Climax über eine Brüstung und man ahnt nicht, wann der Film einen loslässt und in den Abgrund stürzen lässt. Und wenn er es dann tut, ist der Zuschauer bereits gefangen in einer Achterbahn der Bilder, rauschend durch ein Gruselkabinett der Seelen seiner Figuren. Debies Kamera ist überall, spuckt auf Steadycam-Gedöns und filmt Szenen von oben und unten oder schräg von der Seite. Die Desorientierung der Charaktere überträgt sich so geschickt aufs Publikum und erschafft mit dem Audio-Mix aus Musik, Geschrei und Echos eine einmalige Atmosphäre.

Climax ist übelerregend – im bestmöglichen Sinne. Als befinde man sich auf hoher See in einem Sturm während einem Wind und Wasser ins Gesicht klatschen. So intensiv war noch keine Sequenz des Regisseurs zuvor, auch nicht die zehnminütige Vergewaltigungsszene in Irréversible. Hier verlieren Kinder ihre Mütter, Mütter ihre Kinder, Geschwister ihre Unschuld und sowieso jeder ein wenig seiner selbst. Dass Climax kein Drehbuch besaß, sondern die zum Großteil aus Laien bestehenden Darsteller improvisieren durften, gerät dabei zum Vorteil. Die LSD-durchtränkte Schulhalle von Noé hat gar keinen Raum für große Worte, die ohnehin nicht ausdrücken können, was in den Figuren zu diesem Zeitpunkt wirklich vorzugehen scheint.

Für seinen Regisseur repräsentiert Climax einen Film über das gemeinsame Erschaffen und das unabdingbare Scheitern, das daraus resultiert. Und in gewisser Weise sinnbildlich für die Menschheit selbst steht (Noé zieht einen Vergleich zum Turmbau von Babel). Ironischerweise ist mit Sofia Boutella die einzige namhafte Darstellerin sein größtes Problem und scheint mit dem Fehlen eines Skripts leicht überfordert. Der eigentliche Star sind aber ohnehin Debies Kamera und Noés obligatorisch geniale Credits, unterstützt von einem 90er Jahre Soundtrack, der Daft Punk, Thomas Bangalter oder Aphex Twins vereint. Um Climax wirklich zu erleben, muss er wohl im Kino gesehen werden. Und wen er dabei nicht umbringt, den macht er stärker.

7.5/10

12. November 2015

Love

What is your ultimate fantasy?

Geht es nach dem Duden, bezeichnet das Wort „kontrovers“ alles, was umstritten ist. Was anfechtbar oder kritisierbar ist. Und das trifft letztlich eigentlich auf alles zu. Und dennoch gilt der französisch-argentinische Regisseur Gaspar Noé keineswegs wie jeder andere Filmemacher, sondern durchaus als kontrovers. Sein zweiter Spielfilm Irréversible avancierte 2002 zum Skandalfilm, bei dem nach wenigen Minuten die Zuschauer in Hundertschaften die Vorführung bei den Filmfestspielen in Cannes verlassen haben sollen. Weniger aufsehenerregend war vor sechs Jahren dann Enter the Void, eine drogeninduzierte Reinkarnationsphantasie. Ob über seinen neuen Film Love überhaupt diskutiert wird, muss sich auch erst noch zeigen.

Das Potential hierzu hätte der Film zumindest, angesichts dessen, dass er beinahe zur Hälfte nur aus improvisierten Sexszenen besteht, in denen seine jungen Darsteller kopulieren, masturbieren und einander oral befriedigen. Umrahmt werden die Sexszenen von einer Liebesgeschichte, die von dem in Paris lebenden aufstrebenden Filmemacher Murphy (Karl Glusman) und der extrovertierten Electra (Aomi Muyock) erzählt. Als sich das Paar eines Tages einer Ménage-à-trois mit seiner 17-jährigen Nachbarin Omi (Klara Kristin) hingibt und Murphy diese später in einer zweiten Begegnung versehentlich schwängert, zerbricht die zweijährige turbulente Romanze zwischen Murphy und Electra. Die wiederum verfügte über reichlich Höhen und Tiefen.

Als Murphy eingangs einen besorgten Anruf von Electras Mutter erhält, die länger nichts mehr von ihrer Tochter gehört hat, reflektiert Murphy, der nach der Schwangerschaft mit Omi zusammenblieb, seine Zeit mit Electra. Eine Beziehung nach dem Motto: Sie küssten und sie schlugen sich. Gaspar Noé erklärte, er wolle mit Love ein reales Abbild sexuellen Verlangens und damit der Liebe auf die Leinwand bannen. Die eben emotional, allumfassend und stürmisch ausfallen kann. All das trifft durchaus auf die Beziehung von Murphy und Electra zu, die nicht erst durch Omi vor einem Problem standen. Bereits in der Vergangenheit war ihre Liebe von Eifersucht und Untreue gekennzeichnet. Doch konnten beide scheinbar nicht ohne einander.

Wirklich etwas zu erzählen hat Noé allerdings nicht über Liebe oder was das anbelangt: Lust. Wir sehen zwei junge Menschen, die eine Beziehung eingehen, die – so implizieren es die Bilder – primär aus Ficken, Blasen und Wichsen besteht. Im Verlaufe von Love erleben wir dann, dass schon vor der – oder zeitgleich zur – Ménage-à-trois das Sexleben von Murphy und Electra ausgeweitet wurde. Sei es beim Besuch eines Transsexuellen oder in einem Sexclub, dessen von Schweiß und Sperma getriebene Bilder in einer – wortwörtlichen? – Höhepunktsequenz mit John Carpenters Theme zu Assault on Precinct 13 unterlegt werden. Genauso wenig über die Romanze der Figuren erfahren wir über diese selbst – mit kleineren Ausnahmen.

Während Omi weniger Charakter als dramaturgisches Mittel ist und Electra minimal skizziert wird, erhält Murphy einige Anstriche von Noé selbst. Sein Lieblingsfilm ist 2001: A Space Odyssey, er geht in Paris auf eine Filmschule und träumt davon, einen authentischen Film über Liebe und Sex zu drehen, wie er auf einer Party versichert – ehe er mit seiner Gesprächspartnerin für einen Quickie auf die Toilette verschwindet und hierzu Electra stehen lässt. Das Drama, das Noé hier kreiert, entspricht dem Inhalt einer Telenovela über ein Jahr gestreckt. Der Blick des Regisseurs auf sein Geschehen ist dabei konsequent oberflächlich und gerät nur dort penetrierend, wo männliche Geschlechtsteile ins Spiel kommen. Was im Verlauf oft genug der Fall ist.

Aufgrund der in unchronologischer Reihenfolge erzählten Rückblenden als Erinnerungsfetzen von Murphy verliert sich der Zuschauer beim Sehen etwas in dem teils faszinierenden Bildersog ähnlich einem Film von Terrence Malick. Der eigentliche Star des Films ist Benoît Debies überzeugende Kameraarbeit, die weitaus nachdrücklicher in Erinnerung bleibt als das Schauspiel der drei Laiendarsteller oder das prosaische Drehbuch. Insofern hat Love dem Zuschauer weitaus weniger mitzuteilen als noch in Enter the Void der Fall, ungeachtet der mannigfaltigen, expliziten pornografischen Szenen ist er aber womöglich Gaspar Noés bislang zugänglichster Film. Keineswegs kontrovers also – selbst wenn das nicht heißt, dass nichts an Love kritisierbar wäre.

6/10