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23. Februar 2018

Lucky

Realism is a thing.

Es gibt nicht so viele Charakterdarsteller, die wahrlich als solche zu sehen sind. Harry Dean Stanton gehörte dazu, mit einer eindrucksvollen Karriere, die sich oft – mit Ausnahmen wie Wim Wenders Paris, Texas – auf Nebenrollen beschränkte. Es zeichnet einen großen Darsteller wie es Harry Dean Stanton war aus, sich auch in Kurzauftritten wie in Escape from New York oder in Nebenrollen wie in Alien ins Bewusstsein des Zuschauers zu spielen. Und auch wenn seine Darbietung in John Carroll Lynchs Lucky nicht der finale Abgesang unter eine Karriere mit über 200 Filmauftritten vor seinem Tod vergangenes Jahr war, so ist Lucky doch der ideale Schlusspunkt unter das 60 Jahre währende Schaffen von Harry Dean Stanton.

In gewisser Weise mag er sich darin selbst gespielt haben. Der Alltag des 90-jährigen Lucky (Harry Dean Stanton) besteht aus Gewohnheitsabläufen. Auf die kurze Morgengymnastik folgt die erste Tasse Kaffee im lokalen Diner seiner Kleinstadt, einhergehend mit dem Ausfüllen seines Kreuzworträtsels, ehe es über einen Besuch im Lebensmittelladen zurück nach Hause geht und der Tag seinen Abschluss auf eine Margarita in der Bar von Elaine (Beth Grant) findet. Erst als Lucky eines Morgens unerwartet stürzt, sein Arzt (Ed Begley, Jr.) jedoch keine andere Diagnose außer das fortgeschrittene Alter seines Patienten nennen kann, beginnt Lucky mit dem Gedanken an seine eigene, nahende Sterblichkeit und sein Umfeld konfrontiert zu werden.

Lucky ist ein Mann geringer Ansprüche. In seinem Kühlschrank stehen lediglich drei Milchkartons, im Kleiderschrank hängen derweil drei Flanellhemden. Der Ausflug ins Diner von Joe (Barry Shabaka Henley) ist wie der in die Bar von Elaine das Mindest- und zugleich Maximalmaß an sozialer Interaktion, die sich der 90-Jährige, der dennoch von allen Stadtbewohnern sehr geschätzt wird, aufbürdet. Seinem Kaffee und Kreuzworträtsel geht er schließlich auch zuhause nach. “There’s a difference between lonely and alone”, stellt Lucky später einmal klar, als seine Lebenssituation nach seinem Sturz Fragen aufwirft. Lucky lebt zwar einerseits für sich, ist andererseits auf seine Art und Weise aber auch Teil des sozialen Lebens seiner Stadt.

Eine Art Gegenentwurf zu Lucky findet der Film in David Lynchs Figur von Howard. Der reagiert reichlich aufgescheucht, als ihm eines Tages seine Landschildkröte und zugleich bester Freund President Roosevelt abhanden kommt. Dabei wollte er jüngst mit seinem Anwalt (Ron Livingston) noch sein Testament derart anpassen, dass das Reptil alles erben würde. Lynch spielt eine derer schrulligen Figuren, mit denen er seine eigenen Filme füllt, und stiehlt hier mit seiner herrlichen Darbietung Harry Dean Stanton beinahe die Show. Lucky ist ein wunderbar zurückgenommener Film, unaufgeregt und doch aufrichtig, humorvoll und stellenweise bewegend – zum Beispiel als Lucky in einer Szene Carlos Gardels und Alfredo La Peras „Volver“ anstimmt.

Es gibt ein paar solcher Momente, darunter eine kurze Alien-Reunion zwischen Harry Dean Stanton und Tom Skerritt oder jener Arztbesuch von Lucky, bei dem mit Stanton und Ed Begley, Jr. (ebenfalls bereits über 300 Filmauftritte im CV) zwei Mittelgewichte des Kinos aufeinander treffen. Meckerte zuvor Diner-Chef Joe noch, Luckys Zigarettenkonsum würde ihn ins Grab bringen (“If they could’ve, they would’ve”, lautet dessen lapidare Antwort), mutmaßt sein Arzt später gar, dass er besser nicht damit aufhöre, wenn er trotz seiner Schachtel am Tag bereits so alt geworden ist. Lucky hat dabei gar nicht so viel über das Altern oder das Leben zu sagen, sondern beschränkt sich zuvorderst schlicht auf die Interaktion seiner Figuren.

“You have to learn to die before you die. You give up, surrender to the void, to nothingness”, hat Harry Dean Stanton einst gesagt. Ähnlich mag es Lucky halten, selbst wenn er kurzzeitig doch überrascht scheint, dass die Veränderung seines Gesundheitszustandes ein nahendes Ende anzukündigen scheint. Harry Dean Stanton dürfte von seinem eigenen Ende vermutlich weniger überrascht gewesen sein. Sein Film sollte eine Ovation für seinen Hauptdarsteller sein, sagte John Carroll Lynch in einem Interview. Lucky steht nicht nur für die Art von Rollen, die Harry Dean Stanton seine Karriere hindurch gespielt hat, sondern fängt auch etwas seiner eigenen Persönlichkeit ein. Etwas jenes Charakters eines großen Charakterdarstellers.

6.5/10

12. November 2016

Paterson

Would you rather be a fish?

Unterschiede, so heißt es im Volksmund immer, ziehen sich an. Gerade in Beziehungen. Insofern sind Paterson (Adam Driver) und Ehefrau Laura (Golshifteh Farahani) ein mustergültiges Paar für diese These. Während er sich der Macht der Gewohnheit hingibt, gibt sie sich derweil extrem experimentierfreudig und offen für Neues. Und aus diesem Kontrast bezieht Paterson, der jüngste Film vom Regisseur Jim Jarmusch, einen Großteil seines subtilen Humors. Wie dieser allgemein durch die Charakterzeichnung seiner Hauptfigur in seinem Umfeld generiert wird. Ruhig und relativ ereignislos schickt sich Paterson dabei mit der Zeit an, ein neues kleines Meisterwerk in der Filmografie des US-amerikanischen Auteurs zu sein.

Jeder Werktag im Leben von Paterson beginnt dabei gleich: im Bett, zwischen 6:15 und 6:30 Uhr. Mal liegen er und Gattin einander zugewandt auf der Matratze, mal mit dem Rücken aneinander. Während Laura sich daheim in Gedankenspielen eines Cupcake-Imperiums oder einer Karriere als Country-Star hingibt, sieht Patersons Alltag als Busfahrer in Paterson, New Jersey immerzu gleich aus. Das Leben des jungen Mannes und Hobby-Dichters folgt stets denselben Abläufen. Vom Gedankenniederschrieb in sein Notizbuch, ehe ihn sein Chef Donny (Rizwan Manji) auf die Fahrt schickt, bis zum abendlichen Spaziergang mit Bulldogge Marvin, die beide zur Nachbarschaftskneipe von Barbesitzer Doc (Barry Shabaka Henley) führt.

„In der Gewohnheit ruht das einzige Behagen der Menschen“, wusste bereits Goethe. Und Paterson lebt diesen Ausspruch aus jeder Pore. Mit seinen täglichen Ritualen hat der junge Busfahrer etwas von einem alten Mann, wie auch sein Leben, frei von Smartphone und Computer, erfreulich entschleunigt daherkommt. Patersons Passion ist die Poesie, sowohl als Konsument wie Produzent. Auch das hat natürlich Kalkül, bedenkt man, dass Allen Ginsberg in Paterson aufgewachsen ist und sein Dichterkollege William Carlos Williams einst sein in fünf Bänden erschienenes Poesie-Epos nach der Stadt in New Jersey benannte. In gewisser Weise ist Paterson nicht nur eine Ode an die Ode, sondern auch an jene Dichter-Stadt in New Jersey.

Nicht nur, weil Jarmusch seine Figur als Bewohner jener Stadt nach dieser benennt (amüsant, wenn getreu Gertrude Stein hier Paterson die Paterson-Linie durch Paterson fährt). Der Film referiert neben William Carlos Williams und Allen Ginsberg auch Stadtidol Lou Costello, spricht die Verhaftung von Boxer Rubin “Hurricane” Carter an und lässt die Hauptfigur am Wasserfall des Passaic Rivers Kreativität sammeln. Da passt es, dass Drivers Figur als potenzieller weiterer berühmter Sohn dieser Stadt ankündigt wird – zumindest in den Augen von Gattin Laura. Die wird konsequenter Weise mit Golshifteh Farahani von einer iranischen Darstellerin gespielt, besitzt Paterson doch die zweitgrößte muslimische Bevölkerung in den USA.

Herrlich lebensfroh zelebriert Laura dabei ihre Träume und täglichen Dekorationsdrang im eigenen Haus. „Die Poesie der Dichter bedürfen Frauen weniger, weil ihr eigenstes Wesen die Poesie ist“, sagte der deutsche Kulturphilosoph Friedrich von Schlegel. Und die Poesie spielt in Paterson zumindest eine Nebenrolle, wenn Drivers Busfahrer in seinen Versen von Streichhölzern schwärmt oder über die Zahl physikalischer Dimensionen sinniert. Bezeichnend, dass er sich hier weniger von den wahrgenommenen Gesprächen seiner Fahrgäste inspirieren lässt, als er in seiner Distanziertheit badet. Einfluss nimmt er nur durch Gleichgesinnte auf, sei es ein kleines Mädchen oder auch ein japanischer Tourist (Masatoshi Nagase).

Patersons Gedichte, die dem Film von Dichter Ron Padgett zur Verfügung gestellt wurden, sind dabei oberflächlich betrachtet recht belanglos – aber gerade in ihrer Gewöhnlichkeit liegt in gewisser Weise ihre wahre Schönheit. Und das trifft wiederum auch auf Jarmuschs Film zu, der in seinen nach Wochentagen unterteilten Kapiteln stets demselben Rhythmus folgt und damit etwas von einer Zeitschleife hat. Was eingangs noch befremdlich erscheint, zieht den Zuschauer schnell in seinen Bann, nicht zuletzt dadurch, da Jarmusch durch einen Wechsel zwischen Repetition und Wandel immer wieder amüsanten Nuancen zu setzen vermag. Auch das teils hölzerne Spiel des Ensembles um den stark aufspielenden Adam Driver fügt sich ins Bild.

Ohnehin ist Paterson eine der herzlichsten Komödien des Filmjahres 2016, was einerseits dem Zusammenspiel der Hauptfigur mit ihrer Umwelt im Allgemeinen wie ihrer Beziehung zu Dogge Marvin im Speziellen geschuldet ist. Für den Hund ist das Herrchen ein Widersacher in der Gunst seines Frauchens, weshalb Marvin versucht, Patersons Leben so schwer wie möglich zu machen. Jeder für sich ist bereits eine außergewöhnliche cineastische Figur, in Kombination miteinander avancieren Paterson und Marvin jedoch leicht zu einem der sympathischsten Leinwandpaare aller Zeiten. Hier findet sich in der Folge auch das einzige wirklich dramatische Element des Films, welches zu Beginn des Schlussaktes eine mögliche Katharsis einläutet.

Jarmuschs jüngster Film ist aber auch deswegen so amüsant, weil Paterson ganz anders ist als die anderen Figuren. Stoisch erträgt er die morgendlichen Klagen von Donny und abends die von Bar-Gast Marie (Chasten Harmon), die sich mit ihrem anhänglichen Ex-Freund Everett (William Jackson Harper) herumplagen muss. Auch die vermeintlichen Probleme seiner Fahrgäste, vom Anarchisten-Aufkommen in Paterson bis hin zu sich aufspielenden Männern auf Brautschau, sind dem dichtenden Busfahrer fremd. Laut Konfuzius sind die Menschen von Natur aus fast gleich, „erst die Gewohnheiten entfernen sie voneinander“. Insofern machen seine Gewohnheiten Paterson weniger langweilig als er eigentlich erst durch sie richtig interessant wird.

Ähnlich wie die jüngeren Werke von Terrence Malick gewinnt Jim Jarmuschs aktueller Film durch seine praktisch inhaltsleeren Bilder einen meditativen Charakter. Allerdings muss man sich in diesen erst einfinden – und ihm wohlgesonnen sein. Für Fans des Regisseurs ist Paterson folglich genauso empfehlenswert wie für Freunde ruhiger, bedachter Charakterporträts à la Koreeda Hirokazus Umimachy Diary aus dem vergangenen Jahr. “This is very poetic”, realisiert da auch der japanische Tourist, seines Zeichens selbst ein Dichter. Insofern schließt sich der Kreis, auf eine nahezu poetische Art, wenn Paterson nicht nur ein Film über Dichter im Plural wie Singular ist, sondern im Zuge seiner Laufzeit selbst zum cineastischen Gedicht avanciert.

8.5/10