Wieder ist ein Jahr vorübergezogen – aber keines wie jedes andere. Eher eines, das so wohl kaum einer von uns bisher erlebt hat. Das öffentliche Leben stand meist still, Kinos und Kultureinrichtungen mussten monatelang schließen, Filmstarts wurden entweder nach 2021 verschoben oder landeten direkt in unterschiedlichen Streaming-Angeboten in einer Zeit, wo die Konsumenten ohnehin überwiegend zuhause waren. Den obligatorischen Filmjahresrückblick soll es an dieser Stelle wie schon die letzten 14 Jahre trotz alledem geben, wenn auch vermutlich (womöglich?) der letzte dieser Art auf diesem Blog – gleichwohl ich mir das bereits das dritte Jahr in Folge denke und dennoch immer wieder aufs Neue diese Zeilen schreibe.
Kino – kann das weg? So postulierte ich vergangenes Jahr an dieser Stelle. Zumindest 2020 hat das Coronavirus uns hierzu die Antwort abgenommen, notgedrungen entfiel der Filmkonsum der meisten auf Streaming-Anbieter wie Netflix, Disney+, Amazon Prime, AppleTV+, HBO Max, Hulu und Co. Auch ich konsumierte meine 137 Filme dieses Jahr (2019: 166) primär digital, schaffte es immerhin vier Mal ins Kino. Hinfällig ist im Pandemie-Jahr der Blick auf Besucherzahlen, interessanter der auf die Abonnements bei den Streaming-Giganten. Netflix steigerte sich von 167 Millionen Kunden weltweit Ende 2019 auf 195 Millionen zum Ende des 3. Quartals 2020. Disney+ sprang sogar direkt in seinem ersten Jahr auf 86 Millionen Abonnenten.
Dass die Kinos in den meisten Ländern im vergangenen Jahr nicht geöffnet hatten oder selbst in der Zeit, wo sie zugänglich waren, das Platzangebot beschränken mussten, spiegelt sich auch bei den (sozusagen) erfolgreichsten Filmen des Jahres wider. Keine Milliarden-Dollar-Blockbuster weit und breit, nicht einmal die Hälfte davon nahm der (Pandemie-)Jahressieger ein, der angesichts der Umstände wenig überraschend aus China kommt. Das Epos
Ba bai [The Eight Hundred] spielte rund 461 Millionen Dollar ein – und damit 35 Millionen Dollar mehr als
Bad Boys for Life, dem einzigen namhafteren Film, der noch im ersten Quartal startete. Der dritte Platz geht wiederum erneut nach China mit
Wo He Wo De Jia Xiang [My People, My Homeland].
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Kinobesuche wie hier in Martin Eden waren im Corona-Jahr 2020 eher selten möglich. |
Christopher Nolans
Tenet wurde erst wochenweise verschoben, sollte dann aber im Sommer mit herrschender Corona-Ebbe doch das Kino als solches retten. Was ihm nur leidlich gelang, mit 362 Millionen Dollar reichte es letztlich zum vierterfolgreichsten Film des Jahres, so populär wie erhofft war Nolans jüngster Erguss also nicht. Auch die Nutzer der Internet Movie Database (IMDb) hatten andere Favoriten, kürten die Musical-Aufzeichnung
Hamilton mit 8.6/10 auf Disney+ zum beliebtesten Film des Jahres
(Stand: 03.01.2021). Sam Mendes Weltkriegs-Drama
1917 schaffte es mit 8.3/10 auf den zweiten Platz, knapp vor Pixars
Soul mit 8.2/10, der auf einen Kinostart verzichtete und zum Jahresende ebenfalls direkt auf Disney+ landete.
Ohnehin hievte Disney im vergangenen Jahr wenig Filme ins Kino, schielt sonst eher auf Releases im April/Mai, Sommer und Dezember. Unter diesen Vorzeichen erübrigt sich auch ein Blick auf die weiteren erfolgreichsten Filme inklusive Vorstellung, allenfalls lässt sich sporadisch schauen, was angesichts der Vorzeichen in vereinzelten Ländern noch am ehesten Anklang fand in den wenigen Kinomonaten. Grob gesagt machen zwei Filme das internationale Rennen unter sich aus.
Bad Boys for Life zog sowohl in den USA als auch in Deutschland am besten, auch die Schweden, Kolumbianer und Südafrikaner hielten es bei der begrenzten Auswahl mit Mike Lowry und Marcus Burnett im dritten Abenteuer der zwei Cops aus Miami – diesmal ohne Michael Bay.
Auf der anderen Seite fieberten viele Nationen mit dem Soldaten-Duo aus
1917 mit, sowohl in Großbritannien als auch in Australien war der Kriegsfilm erfolgreich, genauso in Spanien, Portugal, Finnland und den Niederlanden. Frankreich setzte seine Hoffnung auf
Tenet, während Italien mit der Komödie
Tolo Tolo einen einheimischen Film bevorzugte. Wie so oft kein Einzelfall, auch Norwegen (
Børning 3), Polen (
365 dni), die Türkei (
Eltilerin Savasi), Brasilien (
Minha Mãe é uma Peça 3: O Filme) sowie Südkorea (
Namsanui bujangdeul) zeigten sich patriotisch. Dito die Russen, wo
Lyod 2 [Ice 2] im Verlauf von 2020 reüssierte, obschon nominell die Komödie
Kholop mehr einspielte, den Großteil davon jedoch bereits bei ihrem Start Ende 2019.
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Streaming-Sieger: Unter den Releases der VOD-Anbieter war Hamilton am gefragtesten. |
In Japan avancierte
Demon Slayer: Mugen Train zum bis dato erfolgreichsten nationalen Film aller Zeiten, während Vietnam zu
Tiec Tiang Mau lachte, dem dortigen Remake des europäischen Massenexport-Films „Das perfekte Geheimnis“. Kino-Sonderfälle gab es auch erneut, so war
Sonic the Hedgehog in Mexiko der buchstäbliche Renner, das Disney-Live-Action-Remake
Mulan überzeugte in Thailand und die Ukrainer gefielen sich an Guy Ritchies
The Gentlemen. Filme aus 2019 waren auch teilweise verspätet im Einsatz, so überzeugte
Frozen II in Argentinien, während
Jumanji: The Next Level in Paraguay und Bolivien das Publikum für sich gewinnen konnte. Natürlich waren überall die Einspielergebnisse 2020 geringer als sonst.
Selbst wenn Disney kaum Kinostarts verzeichnete, zählt das Studio mit dem erfolgreichen Start von Disney+ und dem Lob für die zweite Staffel
The Mandalorian dennoch wie Netflix zu den Gewinnern des Jahres – wenn man von solchen sprechen mag. Auch Bong Joon-ho überstrahlte im Frühjahr mit vier Oscars für
Gisaengchun [Parasite] alles. Gut verlief 2020 für weibliche Regisseure, viel Lob heimsten Chloé Zhao (
Nomadland), Kelly Reichardt (
First Cow), Kirsten Johnson (
Dick Johnson Is Dead) und Eliza Hittman (
Never Rarely Sometimes Always) ein. Sacha Baron Cohen lieferte mit
Borat Subsequent Moviefilm einen Rekordstart für Amazon Prime ab und kann sich für seine Rolle in
The Trial of the Chicago 7 Oscar-Hoffnungen machen.
Auch der schwarze Film fand wie die weibliche Regie-Welt großen Anklang, die “Small Axe”-Filme
Mangrove und
Lovers Rock von Steve McQueen schmücken ebenso zahlreiche Kritiker-Listen wie Spike Lees Vietnam-Drama
Da 5 Bloods, Garret Bradleys Doku
Time, das von Denzel Washington produzierte Jazz-Biopic
Ma Rainey’s Black Bottom oder weitere Filme wie
Queen & Slim,
His House,
Miss Juneteeth und
Rocks. Überaus gefragt war auch die Netflix-Serie
The Queen’s Gambit, mit der sich Anya Taylor-Joy, zudem in
Emma. und
The New Mutants vertreten, weiter profiliert hat. Fleißig aktiv war mal wieder Kristen Stewart, die in gleich vier Filmen (
Charlie’s Angels,
Seberg,
Underwater,
Happiest Season) in 2020 auftauchte.
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Beste Darstellerleistungen: Viktoria Miroshnichenko, Lucas Jaye, Mark Ruffalo. |
Sehenswert waren 2020 auch die Darbietungen von Mark Ruffalo, der sowohl im Gerichts-Drama
Dark Waters überzeugen konnte als auch in einer Doppelrolle für die HBO-Serie
This Much I Know Is True. Eindrucksvoll war der körperliche Einsatz, den Chadwick Boseman mit schwerer Krankheit im letzten Jahr seines Schaffens für Filme wie
Da 5 Bloods,
21 Bridges und
Ma Rainey’s Black Bottom aufbrachte. Bei den Darstellerinnen wussten sowohl Evan Rachel Wood in
Kajillionaire als auch Imogen Poots in
Vivarium zu gefallen, minimal imposanter war dann aber doch Debütantin Viktoria Miroshnichenko in
Dylda [Beanpole]. Eine authentische Nachwuchsleistung lieferte derweil der junge Lucas Jaye im Indie-Drama
Driveways ab.
Ansonsten war es abseits von Corona und Kino-Shutdowns ein Jahr der Rückkehr: Josh Trank legte nach seinem
Fantastic Four-Desaster mit
Capone einen neuen Film vor, ebenso Miranda July mit
Kajillionaire sowie Benh Zeitlin nach jahrelanger Produktion in
Wendy. Andere Regie-Größen fielen durch eine Abkehr auf – zum Streaming-Service Netflix, wie bereits Martin Scorsese im Vorjahr. Ihm folgten nun Spike Lee (
Da 5 Bloods), Olivier Assayas (
Wasp Network), Gina Prince-Bythewood (
The Old Guard), Aaron Sorkin (
The Trial of the Chicago 7) und selbst David Fincher (
Mank). Ein Trend, der zunehmen dürfte, Pandemie hin oder her. Erfreulich auch: Nach vielen Jahren Post-Produktions-Hölle erschien endlich
The New Mutants.
Was bleibt, ist ein Jahr, das weniger durch seine Filme in Erinnerung bleiben wird, als die Umstände, die es begleitet haben. Zumindest haben manche Werke vielleicht mehr Aufmerksamkeit erhalten, die sonst überschattet worden wären. Nichtsdestotrotz gab es natürlich bei 137 gesehenen Filmen auch einige, die zumindest mir im Gedächtnis bleiben werden. Wie bereits im vergangenen Jahr wird erneut auf eine Flop-Liste verzichtet, einige Honorable Mentions machen wieder den Anfang, die vollständige Auflistung inklusive Ranking findet sich wie gehabt
auf Letterboxd. Und nun, um den vielleicht finalen Filmjahresrückblick dieses Blogs abzuschließen, möchte ich meine zehn favorisierten Filme aus dem Jahr 2020 vorstellen:
Honorable Mentions (in alphabetischer Reihenfolge):
The Assistant (Kitty Green, USA 2019),
Domangchin yeoja [The Woman Who Ran] (Hong Sang-soo, ROK 2020),
Kajillionaire (Miranda July, USA 2020),
Sorry We Missed You (Ken Loach, UK/F/B 2019),
Tabi no owari sekai no hajimari [To the Ends of the Earth] (Kurosawa Kiyoshi, J/UZ/Q 2019)
10. Vivarium (Lorcan Finnegan, IRL/B/DK/CDN 2019): Das Vorstadtleben als Eltern mit Nachwuchs lässt Lorcan Finnegan in seiner schwarzen Komödie
Vivarium buchstäblich zur Hölle werden, wenn sich ein junges Paar auf der Suche nach einem Eigenheim plötzlich wider Erwarten in einer Elternrolle wiederfindet, die sich für sie zum Fegefeuer entwickelt. In seiner Botschaft zwar durchweg sehr plakativ, gefällt der Film durch seine humorvolle Metapher und lebt allen voran von dem nuancierten Spiel Imogen Poots’.
9. A Hidden Life (Terrence Malick, USA/UK/D 2019): Kaum ein Regisseur widmet sich so sehr der existenziellen Frage nach dem Wieso und Warum unseres Daseins und dem vermeintlichen Widerspruch zwischen Gut und Böse wie Terrence Malick. In seinem jüngsten Drama
A Hidden Life geht es für die Hauptfigur des Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter in Zeiten des Zweiten Weltkriegs weniger um das Finden von Antworten, als das Abfinden mit einer getroffenen Entscheidung und ihren Konsequenzen.
8. Tenki no ko (Shinkai Makoto, J/CHN 2019): So unbeständig wie das Wetter kann manche Gefühlswelt sein. Licht am Horizont sieht Shinkai Makoto stets in seinen Filmen, so auch in
Tenki no Ko [Weathering With You], dem Nachfolger zu
Kimi no na wa. Der junge Ausreißer Hodoka lernt darin Hina kennen und lieben, die per Gebet den Regenschauern Tokios Einhalt gebietet – was jedoch nicht ohne Preis ist. Zwar entfaltet der Film nicht dieselbe emotionale Wucht wie sein Vorgänger, berührt aber dennoch ungemein.
7. Boże Ciało (Jan Komasa, PL/F 2019) Eine von Jesu Lehren war das Vergeben, von der Katholischen Kirche dann als Ablass kommerzialisiert. Zu Vergeben lernen ist eines der Themen in Jan Komasas Oscarnominiertem
Boże Ciało [Corpus Christi], in dem sich ein junger Straftäter nach der Haftentlassung in einer polnischen Gemeinde als Vertretungspriester ausgibt und im Zuge dessen nicht nur den sich von einer Tragödie erholenden Einwohnern bei der emotionalen Heilung hilft, sondern auch sich selbst.
6. Midnight Family (Luke Lorentzen, MEX 2019): In Mexiko-Stadt sind nur 45 städtische Krankenwagen für die neun Millionen Einwohner zuständig. Weshalb zusätzlich viele privatisierte Sanitärer versuchen, aus der Lücke zu profitieren. Luke Lorentzen begleitet in
Midnight Family mehrere Monate die Familie Ochoa, die einen Rettungsdienst betreibt. Seine Dokumentation zeigt ein trauriges Bild von Mexikos Notfallversorgung sowie den fragwürdigen Mitteln, zu denen Menschen gezwungen sind, um ihre Existenz zu sichern.
5. Wendy (Benh Zeitlin, USA 2020): In seinem Nachfolger zu
Beasts of the Southern Wild implementiert Benh Zeitlin viele Elemente des Vorgängers, wenn er J.M. Barries “Peter Pan” in
Wendy seinen eigenen Touch verleiht. In dessen Welt wird Erwachsenwerden assoziiert mit der Aufgabe von Träumen und Abenteuerdrang, was den Film mit Steven Spielberg Meisterwerk
Hook eint.
Wendy zelebriert dabei weniger ein Coming of Age als vielmehr ein Staying Young – ein liebevoller Film darüber, was es bedeutet, Kind zu sein.
4. La vérité (Koreeda Hirokazu, J/F/CH 2019): Erinnerungen können trügerisch sein – oder schlicht von einer Person aus Banalität narrativ etwas aufgepeppt werden. So wie in Koreeda Hirokazus erstem fremdsprachigen Drama
La vérité, in welchem Juliette Binoche als Tochter der von Catherine Deneuve gespielten alternden Filmdiva Fabienne mit ihrer Kindheit und Persönlichkeit der Mutter hadert, während diese in einem Filmprojekt quasi selbst von der Mutter- in die Tochterrolle gedrängt wird und ihr Leben reflektieren lernt.
3. Swallow (Carlo Mirabella-Davis, USA/F 2019): Selten geworden sind Filme, die Raum für Interpretationen lassen. Vergangenes Jahr lieferte Carlo Mirabella-Davis mit
Swallow einen solchen ab, erzählt darin augenscheinlich von der jungen Ehefrau Hunter mit Pica-Syndrom, dabei lässt sich Letzteres problemlos als Metapher für Hunters Situation und Leben lesen, in dem es Dinge gibt, die sie schlucken muss und die es zu verdauen gilt. Das Ergebnis ist die vielleicht zufriedenstellendste Emanzipationsgeschichte des Jahres.
2. I’m Thinking of Ending Things (Charlie Kaufman, USA 2020): Nichts bereuen – dazu sind Figuren von Charlie Kaufman in der Regel nicht fähig. Auch sein jüngster männlicher Protagonist schwelgt in
I’m Thinking of Ending Things im Gestrigen, während er mit seiner neuen Freundin zum Antrittsbesuch bei seinen Eltern fährt. In der Folge verschwimmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, verschmelzen Zeit und Raum. Das Ergebnis weist viel vom Humor des Auteurs auf, könnte letztlich aber durchaus etwas subtiler sein.

1. Bloody Nose, Empty Pockets (Bill Ross IV/Turner Ross, USA 2020): In ihrem jüngsten Werk
Bloody Nose, Empty Pockets inszenieren Turner und Bill Ross IV eine Totenwache für eine Kneipe, die einer Gruppe Abgehängter der Gesellschaft zum Zuhause wurde, als enorm unterhaltsames, eindringliches Dokument darüber, wie eine Umgebung Menschen definiert und Menschen ihre Umgebung.
“Sometimes you wanna go, where everybody knows your name, and they’re always glad you came”, wusste schon das
Cheers-Theme.