21. Juli 2023

Fumer fait tousser [Smoking Causes Coughing]

All’s well that ends well.

Obschon Superhelden außergewöhnliche Personen darstellen, gebären sich Superhelden-Filme auch dank des ermüdend-repetitiven MCU heutzutage mehr als gewöhnlich. Da braucht es schon ein wenig Kreativität, um diesem Genre-Golem wieder Leben einzuhauchen. Bei Quentin Dupieux ist man hier sicher an der richtigen Adresse, ist der Franzose doch alles andere als unoriginell. In Fumer fait tousser – in Englisch: Smoking Causes Coughing – inszeniert er seine ganz eigene Version der „Avengers“. Das Quintett der Tobacco Force schlägt sich buchstäblich jede Woche mit extraterrestrischen Widersachern, von anthropomorphen Reptilien bis hin zu Lézardin (Benoît Poelvoorde), der plant, bis zum Jahresende die Erde zu zerstören.

Eine ernstzunehmende Bedrohung, weshalb es umso beunruhigender ist, dass der soziale Zusammenhalt innerhalb der Tobacco Force nicht gerade zum besten bestellt ist. Nur mit Ach und Krach gelang es Teammitglied Mercure (Jean-Paul Zadi) im letzten Konflikt noch, seine Spezialkraft freizuschalten. Weshalb Tobacco-Force-Leader Chief Didier (Alain Chabat), eine sprechende Ratte, kurzerhand seine Truppe zu einer Arbeitsklausur-Woche verdonnert, um an ihrer Teamfähigkeit zu arbeiten. Dort beginnt sich das Team abends, pseudo-gruselige Lagerfeuer-Geschichten zu erzählen, während Mitglied Nicotine (Anaïs Demoustier) mit ihren aufwellenden romantischen Gefühlen für Chief Didier klarzukommen versucht.

Fumer fait tousser ist eine charmante Persiflage auf das Super-Sentai- und Tokusatsu-Genre mit spürbar französischem Anstrich. Eingewoben in das große Ganze werden hierbei die Lagerfeuer-Erzählungen als amüsante Vignette-Elemente, zum einen zwei Pärchen, die ein Wochenende in einem Ferienhaus verbringen wollen, ehe die Entdeckung eines meditativen altmodischen Huts die Ereignisse auf den Kopf stellt. In einer anderen Erzählung steht wiederum ein Arbeitsunfall in einem Sägewerk im Fokus und seine Folgen innerhalb eines Familiengeflechts. Was die vermeintlichen Gruselgeschichten mit der Haupthandlung eint, ist die fortschreitende Abkopplung innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Menschen.

Der Film thematisiert dies an vielen Stellen, beispielsweise wenn Team-Leader Benzène (Gilles Lellouche) dem Kollegen Méthanol (Vincent Lacoste) am Rande eines Kampfes von seinem Malheur berichtet, in Anwesenheit eines Veganers über Salami philosophiert zu haben. Auch die Kommunikation des Teams mit seinem Roboter Norbert (Ferdinand Canaud) wirkt zunehmend „lost in translation“, während Nicotine falsche Signale von Chief Didier zu empfangen scheint und nur augenscheinlich von ihrer Kameradin Ammoniaque (Oulaya Amamra) getröstet wird. Auch die Paare in der Ferienhaus-Vignette oder Sägewerk-Leiterin Tony (Blanche Gardin) sowie ihre Schwester und Neffe Michaël (Anthony Sonigo) haben Gesprächsbedarf.

Da passt es ins Bild, dass das Team in seinem Untergrund-Bunker im dortigen Kühlschrank einen ganzen Supermarkt inklusive Bedienung vorfindet, an der später Méthanol vorbeireden wird. “What am I doing with these people?”, fragt sich Agathe (Doria Tiller) nach dem Aufsetzen des Denkhutes in Hinblick auf ihre Beziehung und die gemeinsamen Freunde. Und im Grunde könnte sich das auch jedes Mitglied der Tobacco Force beim Anblick von einander fragen. Fumer fait tousser bewegt sich dabei stets in gewisser Weise auf einer Metaebene, wenn Agathes Mann ihr sagt “You can’t wear that dumb thing all day”, während sich gleichzeitig die Tobacco Force nie ihrer Super-Sentai-Anzüge entledigt – nicht einmal zum Schlafen.

“I still think it’s crap”, kommentiert an einer Stelle ein junges Mädchen (Thémis Terrier-Thiebaux) einen Videoclip von Benzène in Aktion – und könnte damit in gewisser Weise auch Dupieux’ Film selbst meinen. Die Tobacco Force ist dabei ein buntes Gemisch aus scheinbar ausgebrannten und wiederum jungen und dynamischen Mitgliedern, die zwar wöchentlich die Welt retten, dann aber dennoch verschreckt sind, wenn sie nachts ein Geräusch im Gebüsch hören. “Let me tell you something life-changing”, klärt Benzène zu Beginn einen jungen Fan auf. Und lebensverändernd sind auch die Erlebnisse, denen sich alle Figuren gegenübersehen, insofern sie es nicht schaffen, wieder eine gemeinsame Linie der Kommunikation zu finden.

Entsprechend dem Tokusatsu-Genre sind die Effekte entsprechend gestaltet. Das Grundgerüst wirkt wie ein Mash-up aus Power Rangers, denen Marvin the Paranoid Android aus A Hitchhiker’s Guide to the Galaxy an die Seite gestellt wird. Chief Didier ist ein Highlight für sich, als unentwegt grünen Schleim sabbernde und offenbar notgeile Puppe, während das gesamte Ensemble durch die Bank in seinen Rollen zu überzeugen vermag, obgleich manche von ihnen wie Anaïs Demoustier oder Jean-Paul Zadi etwas bessere Szenen erhalten als ein Vincent Lacoste. Auch die Vignetten-Darsteller gefallen, allen voran Adèle Exarchopoulos untermauert ihr komödiantisches Talent, aber auch Raphaël Quenard holt das Maximum aus seinem Part. 

Aller Argumentation zum Trotz ist Fumer fait tousser natürlich kein allzu tief schürfender oder nachdenklich stimmender Film, der dem Publikum eine bestimmte Botschaft subtil mitgeben möchte. Primär ist es eine überzeichnete Blödelei, deren Vergnügungsfaktor davon abhängt, wie sehr man sich mit dem Humor von Quentin Dupieux arrangiert. Hilfreich ist da, dass sich die Tobacco Force durchweg selbst ernst nimmt, auch wenn es die übrigen Figuren nur bedingt tun. Dass der Film nur knapp 80 Minuten lang ist, trägt seinen Teil zur Kurzweil bei, verleiht dem Ganzen den Charme einer längeren Sitcom-Folge. Unabhängig davon, wie viel Spaß man mit Fumer fait tousser hat, dürfte eins klar sein: Außergewöhnlich ist der Film allemal.

8.5/10

20. März 2023

Beurokeo [Broker]

Thank you for being born.

Seine Familie, so besagt es ein Sprichwort, kann man sich nicht aussuchen. Hiervon können die Figuren in Kore-eda Hirokazus Filmen wie Aruitemo aruitemo [Still Walking], Umi yori mo mada fukaku [After the Storm] oder La vérité ein Lied singen, hadern Eltern doch mit den Personen, zu denen ihre Kinder geworden sind und umgekehrt die Kinder mit jenen Charakteren, die ihre Eltern schon immer waren. Zuletzt hatte Kore-eda aber mit Manbiki kazoku [Shoplifters] eine neue Perspektive auf dieses Familienbild geworfen, war jene Familie doch weniger auf Blut basiert, als vielmehr ein Zusammenschluss von Gleichgesinnten. Eine Behelfs-Familie ist es auch, der wir in Beurokeo [Broker] begegnen, den Kore-eda in Südkorea inszeniert hat.

In diesem verkaufen die Kleinkriminellen Sang-hyun (Song Kang-ho) und Dong-soo (Gang Dong-won) Neugeborene, die sie aus einer Babyklappe stehlen, an Pärchen, die selbst keine Kinder haben können. Darunter auch Woo-song, den dessen Mutter, die Prostituierte Moon So-young (Ji-eun Lee), in einer regnerischen Nacht vor einer Babyklappe aufgibt – nur um tags darauf doch nach ihrem Sohn zu suchen. Kurzerhand holen Sang-hyun und Dong-soo also die junge Mutter mit ins Boot und machen sie zur Partnerin in ihrem Geschäft. Gleichzeitig sind die beiden Polizistinnen Su-jin (Bae Doona) und Lee (Lee Joo-young) dem Trio auf der Spur – und dabei nicht die einzigen Beamten, die sich wegen So-young in Ermittlungen wiederfinden.

“I’ll come back for you” hatte So-young dabei in einer Notiz Woo-song versprochen. Kein Einzelfall, erzählt ihr später Dong-soo. Aber nur eine von 40 Müttern würde tatsächlich wieder zurückkehren. Dong-soo weiß das nur zu gut, stammt selbst aus einem Waisenheim, in dem die Figuren später einen Zwischenstopp machen. Auch seine Mutter hatte ihm eine solche Notiz hinterlassen, sporadisch schaut er selbst nach Jahrzehnten noch in seinem Heim nach, ob sie inzwischen tatsächlich für ihn zurückgekehrt ist. Das Heim avancierte zum Zuhause, die anderen Kinder quasi zu einer ersten Ersatzfamilie. Dong-soo spricht dabei nicht von „zurückgelassenen“ oder „aufgegebenen“ Kindern, sondern sehr viel härter von „weggeworfenen“.

Auch Sang-hyun kennt nach eigenen Angaben “nothing but rejection” – er ist selbst Vater einer Tochter, die ihn aber scheinbar nicht in ihrem Leben haben will. Der junge Hae-jin (Seung-soo Im) aus Dong-soos Heim wiederum hätte gerne eine Familie, schließt sich kurzerhand dem Trio und Wong-soo an. Als Amoretten beschreibt Sang-hyun sich und Dong-soo gegenüber So-young, ihr Tun als Fürsorge, Dong-soo hingegen nennt es Schutz. Während die junge Mutter derartige Beschreibungen sarkastisch kommentiert, sind sie vom Kern nicht so weit weg, erwecken Sang-hyun und Dong-soo doch die Liebe zwischen kinderlosen Eltern und elternlosen Kindern, anstatt dass sie in Waisenhäusern zu jungen verbitterten Erwachsenen heranreifen.

Über So-youngs Hintergründe lernen wir nicht viel, immerhin, dass sie neben anderen Mädchen und jungen Frauen bei einer Dame unterkommt, die von allen „Mama“ genannt wird. Auch hier begegnet uns also wieder diese Form der Behelfs-Familie wieder, die So-young im Laufe des Films gegen eine andere solche eintauscht. “Let’s be happy with us”, begrüßt Sang-hyun eingangs Woo-song, dem er sich so erzieherisch widmet, wie er es bei seiner leiblichen Tochter nicht darf. Letztlich weitet sich diese Einladung über das Neugeborene hinaus aus, schließt auch dessen Mutter und Hae-jin ein. Es ist eine Sammlung von Abgelehnten, die erst durch- und miteinander die Wertschätzung erfahren, die ihnen zuvor lange verwehrt geblieben war.

Fehlende Wertschätzung ist zugleich etwas, das Ermittlerin Su-jin ihrem fürsorglichen Ehemann entgegenbringt, der sie und Lee bekocht oder mit frischen Klamotten versieht. Fehlende Wertschätzung erfuhr auch jene Ehefrau von So-youngs Freier, der zum Vater von Woo-song avancierte. Es handelt sich um C-Handlungsstränge, die Kore-eda noch in die Handlung verstrickt, denen sich das Drehbuch aber nicht wirklich widmet – ähnlich jenen Schulden, die Sang-hyun gegenüber einer Bande begleichen muss. Weniger wäre in Beurokeo mehr gewesen, zumal die Dramatisierung in die eigentliche Handlung im Grunde genommen gar nicht reinspielt, selbst wenn im Finale doch noch Zusammenhänge untereinander hergestellt werden.

Ähnlich unzureichend homogen gerät mit Abstrichen auch die Verortung nach Südkorea. Wie zuletzt La vérité sehr französisch ausfiel, gebiert sich Beurokeo durchweg koreanisch – was einerseits für Kore-eda Hirokazus Anpassungsfähigkeit an die fremden Kulturen spricht, andererseits fühlen sich seine beiden ersten ausländischen Filme aber zweifelsohne weniger „kore-edaesk“ an gegenüber seinem vorangegangenen japanischen Œuvre. Gewisse Elemente scheinen somit “lost in translation” und nicht übertragbar – da fügt sich gut ein, dass Bae Doona berichtet hat, dass sie das ins Koreanische übersetzte Drehbuch doch vorzog, im japanischen Original zu lesen, um alle Nuancen ihrer Figur und Dialoge korrekt erfassen zu können.

Beurokeo untersucht deutlich oberflächlicher als Manbiki kazoku oder Soshite chichi ni naru [Like Father, Like Son], wie ein Familienkonstrukt aussieht und sich losgelöst von Blutsbande zusammensetzen kann. Die Figuren sind weniger eine Einheit, als dass sie aneinander Halt finden, aber im Kern dann doch sehr auf sich fokussiert sind, während sie sich der Frage stellen müssen, was richtig und was falsch ist. Innerhalb seiner Filmografie markiert Beurokeo damit alles andere als Kore-edas Oberklasse, doch selbst ein eher gewöhnlicher Kore-eda ist im Vergleich mit dem, was sonst im Kino landet (oder mit Filmpreisen bedacht wird) noch höherrangig anzusiedeln. Sodass man dem Regisseur einen Zettel beilegen würde: I’ll come back for you.

7/10

8. Januar 2023

Filmjahresrückblick 2022: Die Top Ten

To the power of independent cinema. 
(RJ, X

Ewan McGregor würde sicher sagen: “Hello there.” Wo sich Jahre früher mitunter zogen, vergehen sie mit fortschreitendem Alter immer schneller. Ehe man sich versieht, sind also zwölf Monate ins Land gezogen, ein Kalender- und Filmjahr damit zu seinem erneuten Ende gekommen. Hier im Blog gab es derweil keine Veränderungen, es blieb ein weiteres Jahr ohne Reviews, aus den bereits genannten Gründen, dass aufgrund etwaiger Verpflichtungen schlicht die Zeit fehlt. Zumindest für den traditionellen Jahresrückblick soll aber dann doch Raum sein, dieses Mal auch wieder etwas ausführlicher als 2021, nachdem die Corona-Pandemie im Frühjahr für beendet erklärt wurde (obschon sie bis heute munter weiter grassiert).

Die vermeintliche Rückkehr zur Normalität zeigt sich auch in meinem Filmkonsum, der im Vorjahr auf 106 Filme gefallen war, während ich aus dem aktuellen Filmjahr diesmal nun immerhin 155 Filme gesehen habe. Aufgrund der anhaltenden Pandemie jedoch wie gehabt zuvorderst in den eigenen vier Wänden und primär via iTunes, Mubi und Co., obschon ich doch auch in 2022 erneut drei Mal den Weg ins Kino fand (bzw. drei Werke aus dem Filmjahr im Kino sah, den Dritten nominell vergangene Woche und somit 2023), um mit The Batman und Avatar: The Way of Water lobgepreistem Bombast-Kino bzw. CGI-Technik-Spektakel beizuwohnen, aber ebenso mit Jerzy Skolimowskis EO einem Arthouse-Liebling der Filmkritiker.

Wie Marilyn Monroe in Blonde zog es das Publikum 2022 zurück ins Kino.
Schaffte es im Vorjahr bereits Spider-Man: No Way Home finanztechnisch an die Zeiten vor der Pandemie anzuknüpfen, so normalisierte sich die Lage an den Kinokassen weitestgehend in 2023. Als Retter des Kinos wurde im Sommer dabei Joseph Kosinskis Legacysequel-Remake Top Gun: Maverick gefeiert, das mit Mach-10 jenseits eines Einspiels von 1,4 Milliarden Dollar flog. Was aber dennoch nur zu Platz 2 der ertragreichsten Filme des Jahres reicht, da James “King of the World” Cameron zum Jahresende nach 13 Jahren Produktionszeit Avatar: The Way of Water veröffentlichte, innerhalb von rund einem Monat an Tom Cruises Karriere-Hit vorbeizog. Auf Platz 3 schaffte es Colin Trevorrows Trilogie-Abschluss Jurassic World: Dominion.

Alle drei von ihnen vermochten die Milliarden-Dollar-Grenze zu reißen, 45 Millionen fehlten am Ende Dr. Strange and the Multiverse of Madness hierzu, der sich knapp vor Minions: The Rise of Gru behaupten konnte. An den Erfolg seines Vorgängers konnte Black Panther: Wakanda Forever nach Chadwick Bosemans Ableben nicht anknüpfen – und spielte rund eine halbe Milliarde weniger ein als dieser. Der siebterfolgreichste Film des Jahres war der viel gelobte The Batman (weit entfernt vom Erfolg eines Aquaman), gefolgt von Thor: Love and Thunder sowie den chinesischen Filmen Chang Jin Hu Zhi Shui Men Qiao [Water Gate Bridge], der Fortsetzung des Vorjahres-Hits Battle at Lake Changjin, und der Sci-Fi-Komödie  Du Xing Yue Qiu [Moon Man].

Sequels dominierten auch 2022 die weltweiten Kinokassen.
Die Tendenz, dass Top Gun: Maverick kurz vor knapp als erfolgreichster Film des Jahres abgefangen wurde, zieht sich dann auch durch einige Länder-Jahrescharts (Quelle: Box Office Mojo). So war er in Frankreich, den Niederlanden, Portugal, Ungarn, Tschechien, der Schweiz und Finnland lange auf dem ersten Platz, musste jedoch letztlich Avatar: The Way of Water weichen. Auch in Deutschland, Spanien, Bulgarien und Vietnam verdrängte das Avatar-Sequel den vorherigen Spitzenreiter, in diesem Fall Minions: The Rise of Gru. Doch auch in Belgien, Dänemark, Italien, Thailand und Österreich markierte The Way of Water den Jahressieger. Auffällig ist dabei, dass es Top Gun: Maverick in Österreich nur auf Platz 10 schaffte.

Behaupten konnte sich Top Gun: Maverick – Stand heute (8. Januar) – dafür in Großbritannien, Australien, Neuseeland, Südafrika, Schweden, Norwegen und Kroatien. Wo er in Deutschland noch das Nachsehen hatte, blieb Minions: The Rise of Gru in Griechenland, Polen, Argentinien, Israel, Chile, Peru, der Slowakei und Island ungeschlagen. Jurassic World: Dominion setzte sich in Mexiko, Ecuador, Venezuela, Bolivien, Uruguay, Ägypten und Nigeria durch. Länder, die eher Einheimisches bevorzugen, taten dies auch dieses Jahr: In diesem Fall sind das Südkorea (Beomjoidosi 2), Japan (One Piece Film Red), Indien (RRR), China (Water Gate Bridge), die Türkei (Bergen) und Rumänien (Teambuilding, bislang noch vor Avatar).

Jahressieger: Fast fünf Millionen Deutsche wollten Avatar: The Way of Water sehen.
Ausreißer aus diesem Schema waren nur zwei Länder: Brasilien bevorzugte Dr. Strange and the Multiverse of Madness, während Russland scheinbar am meisten Gefallen an Uncharted fand (unklar ist, wie viele Filme dort überhaupt veröffentlicht wurden im Verbund mit dem Ukrainekrieg). Unklar bleibt auch die Frage nach den beliebtesten Filmen des Jahres gemäß der Internet Movie Datebase (IMDb), da dort inzwischen verstärkt indische Fans zugegen sind, die einheimische Filme stark bewerten. In Hinblick auf die Zahl der abgegebenen Stimmen (Voraussetzung: sechsstellig) dürfte The Kashmir Files (8.7/10) hier die Nase vorn haben (Stand: 8. Januar), vor Top Gun: Maverick (8.3/10) und Everything Everywhere All at Once (8.1/10).

Zumindest bei der Popularität hat Tom Cruise also James Cameron ein Schnippchen geschlagen, gehört mit dem größten Filmerfolg seiner Karriere zu den Gewinnern des Jahres. Wie auch James Cameron selbst, der es den Zweiflern wenn schon nicht inhaltlich, dann zumindest an den Kassen zeigte, die nicht daran glauben wollten, dass sein Avatar-Sequel auf Nachfrage stoßen wird. Ein gutes Jahr hatten zudem Colin Farrell (The Banshees of Inisherin, After Yang, The Batman, Thirteen Lives) und Tilda Swinton (The Souvenir: Part II, The Eternal Daughter, Three Thousand Years of Longing, Memoria) mit gleich vier Filmen sowie Jenna Ortega (The Fallout, X, Scream sowie Wednesday). Auch Brendan Fraser ist wieder ein gefragter Mann.

Beste Darstellerleistungen: Fedja van Huêt, Frankie Corio, Seidi Haarla.
Frasers Rolle in The Whale brachte ihm eine Golden-Globe-Nominierung für die Preisverleihung kommende Woche ein. Wenn es um überzeugende Schauspielleistungen im vergangenen Jahr geht, ist natürlich aufgrund seiner Versatilität auch Colin Farrell zu nennen, im Gedächtnis blieb mir jedoch vor allem Fedja van Huêt in Gæsterne [Speak No Evil], nicht zuletzt auch, weil er mich an einen jungen Christopher McDonald erinnert. Bei den Darstellerinnen erfreute ich mich am natürlichen und authentischen Spiel von Seidi Haarla in Hytti nro 6 [Compartment No. 6]. Bei den Jungschauspielern bewies Jonas Carpignano mit Swamy Rotolo in A Chiara mal wieder ein Händchen, doch Frankie Corio beeindruckte in Aftersun ein wenig mehr.

Es war wieder ein durchwachsenes Filmjahr, gefühlt noch schwächer als das vorherige, auch wenn der allgemeine Tenor einen der besten Jahrgänge seit langem ausgemacht haben will. Kreativität und Originalität nehmen weiter ab – bestes Beispiel: die Vielzahl an Filmen (Bardo, Belfast, Armageddon Time, demnächst The Fabelmans), in denen alte Regisseure sich an ihrem Leben bzw. ihrer Kindheit ergötzen. Ein Loch, das leider auch von den Streaming-Portalen um AppleTV+, Disney+ und Netflix nicht gestopft wird, die sich eher darin überbieten, wer die schlimmeren Filme produziert. Keine Meisterwerke, aber immerhin die zehn Filme, die mich noch am meisten überzeugen konnten, stelle ich nun jedenfalls in meiner Top Ten des Jahres 2022 vor (das vollständige Ranking findet sich wie gehabt auf Letterboxd): 


10.
X (Ti West, USA/CDN 2022): Zwar alles andere als Ti Wests bester Film (in seiner Reduktion aber stringenter als das dazugehörige Prequel Pearl), gefällt der Ansatz, Elemente von The Texas Chain Saw Massacre mit einer Hommage an Vintage-Sexfilme zu kreuzen. In gewisser Weise zugleich auch Metakommentar, lässt X die künstlerischen Ansprüche, Sehnsucht nach Ruhm sowie Gier der Kommerzialisierung seiner Figuren aufeinanderprallen, während diese junge Gruppe der womöglich hilfsbereitesten und freundlichsten Porno-Crew in letzter Konsequenz mit der Unbarmherzigkeit des Alters und dem Echo ihrer Begierdenerweckung konfrontiert wird.

9.
After Blue (Paradise Sale) (Bertrand Mandico, F 2021): Im Grunde gebiert sich After Blue (Paradise Sale) als eine Nouvelle-Vague-Version von Mad Max Beyond Thunderdome, erinnert an Hollywoods Sci-Fi-B-Movies der 1980er Jahre in seinen liebevoll billigen Kostümen und Art Direction, gewürzt mit einer Prise Lewis Carroll. Bertrand Mandico bleibt dabei weitestgehend der Ästhetik und Motive aus seinem Meisterwerk Les garçons sauvages treu, lässt die Männlichkeit kurzerhand sterben, hebt das weibliche Geschlecht auf ein Podest und lässt seine Hauptfigur Unheil über ihre Welt bringen, wenn sie quasi buchstäblich ihre Gelüste in Person von Kate Bush zutage fördert.

8.
Crimes of the Future (David Cronenberg, CDN/GR/UK 2022): David Cronenberg hält uns als Gesellschaft in Crimes of the Future den Spiegel vor – alles ist eine Performance, jeder strebt danach, sich zu inszenieren. Das Leben ist unverdaulich geworden, die Gegenwart ein Verbrechen, Lust und Begierde nur noch in öffentlich zur Schau gestellter Selbstverstümmelung zu finden. Amouröse Avancen werden abgewiesen, weil ein Ding der Vergangenheit. Der Kanadier greift Ideen aus seinem Œuvre (prominent: Videodrome und eXistenZ) auf, wenn Schmerz zu Kunst und Kunst zu Schmerz wird, der Körper die Realität markiert. Lang lebe das neue Fleisch.

7.
Escape from Kabul (Jamie Roberts, USA/UK/F 2022): Rund zwei Wochen dauerte im August 2021 die Evakuierung der US-Streitkräfte aus Kabul, gleichbedeutend mit der Aufgabe des seit Jahrzehnten währenden Krieges vor Ort – und letztlich der Freiheit und Liberalität der Afghanen. Jamie Roberts skizziert in Escape from Kabul kompakt das Drama und den Wahnsinn, der sich am Kabuler Flughafen abgespielt hat. Talking Heads mit geretteten und zurückgelassenen Afghanen, verantwortlichen US-Militärs und sogar Taliban-Mitgliedern – es fehlen lediglich Vertreter der zuständigen Biden-Administration – runden diese ergreifende Dokumentation ab.

6.
Heojil kyolshim (Park Chan-wook, ROK 2022): Einem Déjà-vu sieht sich Mordermittler Jang Hae-jun (Park Hae-il) in Park Chan-wooks Heojil kyolshim [Decision to Leave] gegenüber, wenn er innerhalb eines Jahres gleich zwei Mal zu einem Tatort mit der Leiche von Song Seo-raes (Tang Wei) Ehemann gerufen wird. Was sich daraus entspinnt, ist vermutlich die einfühlsamste Liebesgeschichte des Jahres zwischen einem Polizisten, der mehr mit seinem Beruf denn seiner Frau verheiratet ist, und einer Exil-Chinesin, die nur als Mordverdächtige ihr Liebesglück finden zu können scheint. Das Ende steht dieser romantischen Tragik in nichts nach, setzt ihr vielmehr die Krone auf.

5.
Les Amours d’Anaïs (Charline Bourgeois-Tacquet, F 2021): Selten sieht man einen Film, der gänzlich vom Charme und Charisma seiner Hauptfigur allein getragen wird. Les Amours d’Anaïs [Der Sommer mit Anaïs] präsentiert dem Publikum ein Anaïs-zentrisches Weltbild, in welchem alle anderen Figuren sich an Anaïs Demoustiers Hauptfigur auszurichten haben, einem egozentrischen Millennial, dem keiner wirklich böse sein kann. Charline Bourgeois-Tacquets Regiedebüt erinnert zu Beginn noch an Noah Baumbachs Frances Ha, widmet sich dann aber weniger der Orientierungslosigkeit seiner Protagonistin als der Flüchtigkeit der Dinge und der Relevanz von Egoismen.

4.
Madres paralelas (Pedro Almodóvar, ES/F 2021): Die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen, ist eine der subtil-vordergründigen Botschaften von Pedro Almodóvars jüngstem Film Madres paralelas [Parallele Mütter]. In diesem sehnt sich Penélope Cruz’ Fotografin nicht nur nach Frieden für die von Falangisten ermordeten Vorfahren ihres Heimatdorfes, sondern sieht sich obendrein mit einer bei der Geburt vertauschten Tochter und den daraus für sie und die andere Mutter, Ana (Milena Smit), resultierenden Folgen jeweils für sich und ihre Beziehung zueinander konfrontiert. Ein Film darüber, wie uns Schmerz definiert und durch Akzeptanz vollends überwunden wird.

3.
Red Rocket (Sean Baker, USA 2021): Egozentrik, Pornographie und der Drang zum Kommerz sind auch allesamt Elemente in Sean Bakers vergnüglichem Red Rocket, in dem der abgehalfterte Pornostar Mikey (Simon Rex) in seine texanische Heimatstadt zurückkehrt, um einen zweiten Anlauf zu starten. Der Film vermag dabei weniger über die Branche zu sagen als Bakers Starlet, verschafft zugleich nicht dieselben Eindrücke in die Lebenswelt seiner Protagonisten wie zuvor in The Florida Project, fasziniert jedoch aufgrund der optimistischen Energie seiner narzisstischen Hauptfigur, die sich fast schon parasitär an andere heftet, um voranzukommen.

2.
Les Olympiades (Jacques Audiard, F 2021): In Les Olympiades [Wo in Paris die Sonne aufgeht] widmet sich Jacques Audiard, basierend auf Werken des Cartoonisten Adrian Tomine und unterstützt von einem superben Soundtrack durch Rone, drei verflochtenen Handlungssträngen über vier junge Menschen auf der Suche nach Liebe, Sex und Zugehörigkeit im 13. Arrondissement von Paris. Das stärkste Segment – für sich genommen die beste Geschichte des Filmjahres – lässt eine von Noémie Merlant gespielte Immobilienmaklerin sich verstärkt in der Online-Beziehung zu ihrer Camgirl-Doppelgängerin (Jehnny Beth) verlieren. Manchmal ist Liebe nur eine Verwechslung entfernt.

1.
Cow (Andrea Arnold, UK 2021): Versklavt, vergewaltigt, des Nachwuchses beraubt, prostituiert und letztlich eigentlich weniger getötet als vielmehr erlöst – Andrea Arnold liefert mit ihrer Dokumentation Cow über das Leben und den Tod einer Milchkuh ein schonungsloses und doch stellenweise durchaus poetisches Porträt über die Herzlosigkeit der Massentierhaltung einerseits. Gleichzeitig lässt sich Cow aber nicht nur als Film über das Leben einer Kuh, sondern unsere Existenz im Allgemeinen lesen: ein trostloses Dasein, angetrieben von der Ausbeutung durch Arbeit, definiert durch die Beziehung zu unseren Kindern. Und am Ende sterben wir doch alleine.

10. Januar 2022

Filmjahresrückblick 2021: Die Top Ten

Cinema is the greatest mirror of humanity’s struggle. 
(Lav Diaz)

Hello again: Entgegen aller Hoffnungen, hielt sich die Corona-Pandemie auch im vergangenen Jahr 2021 wacker, bestimmte das gesellschaftliche Leben überall, unter anderem auch in Form von monatelangen Lockdowns sowie Ein- und Beschränkungen für den kulturellen Bereich. Hier im Blog war ebenfalls nichts los, weniger der Pandemie geschuldet als ein Mangel an Zeit, um jene Reviews zu fabrizieren, die in den jüngsten Jahren ohnehin eher als privates Selbstdokument dienten, denn rezipiert wurden. Obschon das Blog zuletzt verharrte, soll doch nun wieder der Filmjahresrückblick mit seiner obligatorischen Top Ten Würdigung finden. Obgleich stark aufs Essentielle reduziert, ohne jenen Umfang, der ihn seit 2007 ausgezeichnet hatte.

Mit 106 Filmen habe ich vergleichsweise wenige, zumindest gegenüber früher – selbst 2020 waren es 137 –, aktuelle Werke gesehen. Lockdowns und 2G+-Regelungen zum Trotz kam ich doch auf zumindest drei Kinobesuche, nur einen weniger als im Jahr davor. Das cineastische Leben spielte sich überwiegend im Streaming-Bereich ab und doch vermochte immerhin Spider-Man: No Way Home im Dezember mit einem Einspiel von über 1,5 Milliarden Dollar an die „gute alte“ Zeit anzuknüpfen, schwang sich damit zum erfolgreichsten Film des Kinojahres auf. Es folgen – wie 2020 – aus China der Historienfilm Zhang jin hu [The Battle at Lake Changjin] und die Fantasy-Komödie Ni hao, Li Huan Ying [Hi, Mom] auf den Plätzen 2 und 3. 

Wirklich Tempo nahm das Kino im Westen erst zum Jahresende auf, angesichts lang erwarteter Veröffentlichungen wie Daniel Craigs Bond-Abschied No Time to Die oder Blockbuster-Spektakel wie das jüngste MCU-Vehikel um Spider-Man. In der Publikumsgunst der Internet Movie Database (IMDb) lag aber ein indisches Justiz-Drama mit Jai Bhim (9.4/10) auf Platz Eins, gefolgt von Spider-Man: No Way Home (8.8/10) und dem Alzheimer-Drama The Father (8.3/10). Ein eher durchwachsenes Jahr, was sich auch bei meinen zehn Favoriten zeigt, die nicht alle besonders herausragende Werke sind, aber nichtsdestotrotz im abgelaufenen Jahr für mich (noch) die zehn besten Filme von 2021 markierten (das ganze Ranking bei Letterboxd):


10.
Synchronic (Justin Benson/Aaron Moorhead, USA 2019): Eine Designerdroge lässt Menschen im neuesten Science-Fiction-Film von Justin Benson und Aaron Moorhead Zeit non-linear erleben – meist mit tödlichem Ausgang. Ein solcher erwartet in Synchronic auch Anthony Mackies Rettungssanitäter aufgrund einer Hirntumor-Diagnose, weshalb er sich wagemutig auf die Suche nach der vermissten Tochter seines Kollegen und Freundes macht. Die Chemie zwischen den Hauptdarstellern und die meist gefälligen visuellen Spielereien trösten in diesem innovativen Zeitreisefilm über die ein oder andere unausgegorene Drehbuchstelle inklusive Rassismuskritik hinweg.

9.
Mass (Fran Kranz, USA 2021): In Fran Kranz’ Debütfilm Mass treffen sich zwei Paare in einem Kirchenhinterzimmer zur Traumabewältigung eines tragischen Vorfalls einige Jahre zuvor. Schuld und Sühne, Vergebung und Vergessen stehen im Raum, um eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden, einen Verantwortlichen für den Schmerz im Leben aller Beteiligten. Gerade in seinem ersten Akt ist das kongenial mit bedacht inszeniert, verliert sich dann allerdings in seinem Mittelteil ein wenig zu sehr in Klischees und dramatischem Übereifer, bleibt jedoch aufgrund seines überzeugenden fünfköpfigen Ensembles bis zum Schluss durchweg großes Schauspielkino.

8. Quo vadis, Aida? (Jasmila Žbanić, BIH/D/NL 2020): Hilfsbereitschaft trifft auf Machtlosigkeit, Engagement auf Unwillen in Žbanićs historisch inspiriertem Drama Quo vadis, Aida? über das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, wenn niederländische Blauhelm-Soldaten den Völkermord an über 8.000 Bosniaken geschehen lassen, rekonstruiert um die Erlebnisse der einzelnen Familie von Jasna Đuričićs gespielter Dolmetscherin, die buchstäblich zwischen den Fronten steht. Frustrierend, erschütternd, erzürnend, betrübend – die Spannbreite an Emotionen ist breitgefächert, zumal sich am Schluss zeigt, dass die eigentliche Tragik mit dem Krieg nicht ihr Ende fand.

7. The French Dispatch (Wes Anderson, USA/D 2021): Auch in seinem jüngsten Film bleibt sich Wes Anderson seinem inzwischen etablierten Stil treu, indem er schrullige Figuren dieses Mal in einer Ode an den Magazinjournalismus dem Wahnsinn Herr werden lässt. Mehrere kleinere Segmente hätten die Facetten von The French Dispatch womöglich mehr bereichert als der Fokus auf drei in der Folge etwas langatmigere Geschichten (und auch Elisabeth Moss mehr zu tun gegeben), doch das charmante Flair und der bekannte Style tragen das Konzept auch hier, während von den vier Geschichten vermutlich die ersten beiden noch die stärksten Beiträge markieren. 

6. The Rescue (Jimmy Chin/Elizabeth Chai Vasarhelyi UK/USA 2021): Die meisten Menschen werden vor drei Jahren vermutlich mitbekommen haben, dass während der Monsun-Saison eine thailändische Jugend-Fußballmannschaft im überschwemmten Tham-Luang-Höhlensystem eingesperrt war. Jimmy Chin und Elizabeth Chai Vasarhelyi gelingt es in The Rescue mittels geschicktem Reenactment und Talking Heads die entscheidende Rolle und den Einfluss einer Gruppe britischer privater Höhlentaucher spannend mit der Rettungsaktion von damals zu verknüpfen und dabei Hintergründe und Zusammenhänge zu beleuchten, die (zumindest mir) unbekannt waren.

5. The Card Counter (Paul Schrader, USA/UK/RC/S 2021): Paul Schraders zwischenmenschliches Drama über die charakterliche Resozialisierung eines Kriegsverbrecher-Sündenbocks, charismatisch-kühl porträtiert von Oscar Isaac, gerät weitestgehend zurückgenommen. Würde The Card Counter nicht der vermeintlichen Pflichtschuldigkeit verfallen, Laien das Konzept von Poker erklären zu wollen (zumal der Spielverlauf für das Narrativ keine Relevanz hat) und sich zugleich mit klischeebehafteten sowie wenig aufschlussreichen Rückblenden zu seinem Abu-Ghuraib-Subplot aufhalten, deren Inhalt rein referenziell genügt hätten, wäre das Ergebnis noch runder ausgefallen.

4. Gûzen to sôzô (Hamaguchi Ryûsuke, J 2021): In drei separaten Erzählungen lässt Hamaguchi in seinem Episodenfilm Gûzen to sôzô [Wheel of Fortune and Fantasy] über Zufälle und Vorstellungen jeweils zwei Menschen einander konfrontieren, die nicht sind, wer sie zu sein vorgeben, und gleichzeitig ihrem Gegenüber durch ihre Interaktion neue Erkenntnisse nicht nur über ihre Beziehung zu sich, sondern auch zu ihrem Gesprächspartner vermitteln. Gerät das Mittelstück “Door Wide Open” wahrscheinlich am interessantesten, bildet “Once Again” auf tonaler Ebene im Vergleich zu den beiden vorherigen Anekdoten einen deutlich humaneren und harmonischeren Abschluss.

3. Retfærdighedens ryttere (Anders Thomas Jensen, S/DK/FIN 2020): Auch Anders Thomas Jensens jüngste schwarze Komödie Retfærdighedens ryttere [Riders of Justice] wird von Zufällen bestimmt, wenn Soldat Markus (Mads Mikkelsen) den plötzlichen Unfalltod seiner Frau nur dadurch zu verarbeiten vermag, indem er sich in einen Rachefeldzug gegen eine hiesige Biker-Gang verstricken lässt. Im Kern geht es hier natürlich um Traumaverarbeitung, nicht nur für den wie immer großartigen Mikkelsen und seine Filmtochter, sondern auch jene Gruppe scheinbar sozial abgehängter Männer, die über Markus’ Vendetta mit ihrer eigenen Vergangenheit abzuschließen lernen.

2. Pig (Michael Sarnoski, USA/UK 2021): Man muss es zu schätzen wissen, dass bei der inzwischen fast Handvoll Filmen, die Nicolas Cage jährlich eher als Arbeits-, denn Künstlerpflicht in seine Vita einträgt, der selbsternannte Thespier doch noch nuanciert schauspielern kann, wenn er entsprechend angeleitet wird. So wie in Michael Sarnoskis Pig, in dem sich Cages Figur verbal wie allgemein auf das Mindeste beschränkt, während sie mit ihrem Trüffelschwein im Wald lebt. Bis das Tier entführt wird – und damit die Welt der Figur, nicht zum ersten Mal, aus den Fugen gerät. Das Resultat erinnert an einen John Wick-Film, der gänzlich von der Last seiner Action befreit ist. 

1. Doraibu mai kâ (Hamaguchi Ryûsuke, J 2021): Den Verlust der Ehefrau gilt es ebenso in Hamaguchis zweiten Film dieses Jahr aufzuarbeiten. In Doraibu mai kâ [Drive My Car] inszeniert Theaterregisseur Kafuku ein international besetztes Stück in Hiroshima – dass es sich dabei um Tschechows „Onkel Wanja“ handelt, mag nicht von ungefähr kommen, ähneln Figuren wie Misaki, Takatsuki und Co. doch jenen des Stücks, die abseits ihres Potentials scheinst lethargisch in ihrem Status quo verharren – am meisten wohl Regisseur Kafuku, gefangen in Wiederholungsinszenierungen von Tschechow. Zumindest Hamaguchi-san hat 2021 sein Potential ausgeschöpft.

7. Januar 2021

Filmjahresrückblick 2020: Die Top Ten

“To make a film is easy; to make a good film is war. To make a very good film is a miracle.”

(Alejandro González Iñárritu)


Wieder ist ein Jahr vorübergezogen – aber keines wie jedes andere. Eher eines, das so wohl kaum einer von uns bisher erlebt hat. Das öffentliche Leben stand meist still, Kinos und Kultureinrichtungen mussten monatelang schließen, Filmstarts wurden entweder nach 2021 verschoben oder landeten direkt in unterschiedlichen Streaming-Angeboten in einer Zeit, wo die Konsumenten ohnehin überwiegend zuhause waren. Den obligatorischen Filmjahresrückblick soll es an dieser Stelle wie schon die letzten 14 Jahre trotz alledem geben, wenn auch vermutlich (womöglich?) der letzte dieser Art auf diesem Blog – gleichwohl ich mir das bereits das dritte Jahr in Folge denke und dennoch immer wieder aufs Neue diese Zeilen schreibe.

Kino – kann das weg? So postulierte ich vergangenes Jahr an dieser Stelle. Zumindest 2020 hat das Coronavirus uns hierzu die Antwort abgenommen, notgedrungen entfiel der Filmkonsum der meisten auf Streaming-Anbieter wie Netflix, Disney+, Amazon Prime, AppleTV+, HBO Max, Hulu und Co. Auch ich konsumierte meine 137 Filme dieses Jahr (2019: 166) primär digital, schaffte es immerhin vier Mal ins Kino. Hinfällig ist im Pandemie-Jahr der Blick auf Besucherzahlen, interessanter der auf die Abonnements bei den Streaming-Giganten. Netflix steigerte sich von 167 Millionen Kunden weltweit Ende 2019 auf 195 Millionen zum Ende des 3. Quartals 2020. Disney+ sprang sogar direkt in seinem ersten Jahr auf 86 Millionen Abonnenten.

Dass die Kinos in den meisten Ländern im vergangenen Jahr nicht geöffnet hatten oder selbst in der Zeit, wo sie zugänglich waren, das Platzangebot beschränken mussten, spiegelt sich auch bei den (sozusagen) erfolgreichsten Filmen des Jahres wider. Keine Milliarden-Dollar-Blockbuster weit und breit, nicht einmal die Hälfte davon nahm der (Pandemie-)Jahressieger ein, der angesichts der Umstände wenig überraschend aus China kommt. Das Epos Ba bai [The Eight Hundred] spielte rund 461 Millionen Dollar ein – und damit 35 Millionen Dollar mehr als Bad Boys for Life, dem einzigen namhafteren Film, der noch im ersten Quartal startete. Der dritte Platz geht wiederum erneut nach China mit Wo He Wo De Jia Xiang [My People, My Homeland].

Kinobesuche wie hier in Martin Eden waren im Corona-Jahr 2020 eher selten möglich.
Christopher Nolans Tenet wurde erst wochenweise verschoben, sollte dann aber im Sommer mit herrschender Corona-Ebbe doch das Kino als solches retten. Was ihm nur leidlich gelang, mit 362 Millionen Dollar reichte es letztlich zum vierterfolgreichsten Film des Jahres, so populär wie erhofft war Nolans jüngster Erguss also nicht. Auch die Nutzer der Internet Movie Database (IMDb) hatten andere Favoriten, kürten die Musical-Aufzeichnung Hamilton mit 8.6/10 auf Disney+ zum beliebtesten Film des Jahres (Stand: 03.01.2021). Sam Mendes Weltkriegs-Drama 1917 schaffte es mit 8.3/10 auf den zweiten Platz, knapp vor Pixars Soul mit 8.2/10, der auf einen Kinostart verzichtete und zum Jahresende ebenfalls direkt auf Disney+ landete.

Ohnehin hievte Disney im vergangenen Jahr wenig Filme ins Kino, schielt sonst eher auf Releases im April/Mai, Sommer und Dezember. Unter diesen Vorzeichen erübrigt sich auch ein Blick auf die weiteren erfolgreichsten Filme inklusive Vorstellung, allenfalls lässt sich sporadisch schauen, was angesichts der Vorzeichen in vereinzelten Ländern noch am ehesten Anklang fand in den wenigen Kinomonaten. Grob gesagt machen zwei Filme das internationale Rennen unter sich aus. Bad Boys for Life zog sowohl in den USA als auch in Deutschland am besten, auch die Schweden, Kolumbianer und Südafrikaner hielten es bei der begrenzten Auswahl mit Mike Lowry und Marcus Burnett im dritten Abenteuer der zwei Cops aus Miami – diesmal ohne Michael Bay.

Auf der anderen Seite fieberten viele Nationen mit dem Soldaten-Duo aus 1917 mit, sowohl in Großbritannien als auch in Australien war der Kriegsfilm erfolgreich, genauso in Spanien, Portugal, Finnland und den Niederlanden. Frankreich setzte seine Hoffnung auf Tenet, während Italien mit der Komödie Tolo Tolo einen einheimischen Film bevorzugte. Wie so oft kein Einzelfall, auch Norwegen (Børning 3), Polen (365 dni), die Türkei (Eltilerin Savasi), Brasilien (Minha Mãe é uma Peça 3: O Filme) sowie Südkorea (Namsanui bujangdeul) zeigten sich patriotisch. Dito die Russen, wo Lyod 2 [Ice 2] im Verlauf von 2020 reüssierte, obschon nominell die Komödie Kholop mehr einspielte, den Großteil davon jedoch bereits bei ihrem Start Ende 2019.

Streaming-Sieger: Unter den Releases der VOD-Anbieter war Hamilton am gefragtesten.
In Japan avancierte Demon Slayer: Mugen Train zum bis dato erfolgreichsten nationalen Film aller Zeiten, während Vietnam zu Tiec Tiang Mau lachte, dem dortigen Remake des europäischen Massenexport-Films „Das perfekte Geheimnis“. Kino-Sonderfälle gab es auch erneut, so war Sonic the Hedgehog in Mexiko der buchstäbliche Renner, das Disney-Live-Action-Remake Mulan überzeugte in Thailand und die Ukrainer gefielen sich an Guy Ritchies The Gentlemen. Filme aus 2019 waren auch teilweise verspätet im Einsatz, so überzeugte Frozen II in Argentinien, während Jumanji: The Next Level in Paraguay und Bolivien das Publikum für sich gewinnen konnte. Natürlich waren überall die Einspielergebnisse 2020 geringer als sonst.

Selbst wenn Disney kaum Kinostarts verzeichnete, zählt das Studio mit dem erfolgreichen Start von Disney+ und dem Lob für die zweite Staffel The Mandalorian dennoch wie Netflix zu den Gewinnern des Jahres – wenn man von solchen sprechen mag. Auch Bong Joon-ho überstrahlte im Frühjahr mit vier Oscars für Gisaengchun [Parasite] alles. Gut verlief 2020 für weibliche Regisseure, viel Lob heimsten Chloé Zhao (Nomadland), Kelly Reichardt (First Cow), Kirsten Johnson (Dick Johnson Is Dead) und Eliza Hittman (Never Rarely Sometimes Always) ein. Sacha Baron Cohen lieferte mit Borat Subsequent Moviefilm einen Rekordstart für Amazon Prime ab und kann sich für seine Rolle in The Trial of the Chicago 7 Oscar-Hoffnungen machen.

Auch der schwarze Film fand wie die weibliche Regie-Welt großen Anklang, die “Small Axe”-Filme Mangrove und Lovers Rock von Steve McQueen schmücken ebenso zahlreiche Kritiker-Listen wie Spike Lees Vietnam-Drama Da 5 Bloods, Garret Bradleys Doku Time, das von Denzel Washington produzierte Jazz-Biopic Ma Rainey’s Black Bottom oder weitere Filme wie Queen & Slim, His House, Miss Juneteeth und Rocks. Überaus gefragt war auch die Netflix-Serie The Queen’s Gambit, mit der sich Anya Taylor-Joy, zudem in Emma. und The New Mutants vertreten, weiter profiliert hat. Fleißig aktiv war mal wieder Kristen Stewart, die in gleich vier Filmen (Charlie’s Angels, Seberg, Underwater, Happiest Season) in 2020 auftauchte.

Beste Darstellerleistungen: Viktoria Miroshnichenko, Lucas Jaye, Mark Ruffalo.
Sehenswert waren 2020 auch die Darbietungen von Mark Ruffalo, der sowohl im Gerichts-Drama Dark Waters überzeugen konnte als auch in einer Doppelrolle für die HBO-Serie This Much I Know Is True. Eindrucksvoll war der körperliche Einsatz, den Chadwick Boseman mit schwerer Krankheit im letzten Jahr seines Schaffens für Filme wie Da 5 Bloods, 21 Bridges und Ma Rainey’s Black Bottom aufbrachte. Bei den Darstellerinnen wussten sowohl Evan Rachel Wood in Kajillionaire als auch Imogen Poots in Vivarium zu gefallen, minimal imposanter war dann aber doch Debütantin Viktoria Miroshnichenko in Dylda [Beanpole]. Eine authentische Nachwuchsleistung lieferte derweil der junge Lucas Jaye im Indie-Drama Driveways ab.

Ansonsten war es abseits von Corona und Kino-Shutdowns ein Jahr der Rückkehr: Josh Trank legte nach seinem Fantastic Four-Desaster mit Capone einen neuen Film vor, ebenso Miranda July mit Kajillionaire sowie Benh Zeitlin nach jahrelanger Produktion in Wendy. Andere Regie-Größen fielen durch eine Abkehr auf – zum Streaming-Service Netflix, wie bereits Martin Scorsese im Vorjahr. Ihm folgten nun Spike Lee (Da 5 Bloods), Olivier Assayas (Wasp Network), Gina Prince-Bythewood (The Old Guard), Aaron Sorkin (The Trial of the Chicago 7) und selbst David Fincher (Mank). Ein Trend, der zunehmen dürfte, Pandemie hin oder her. Erfreulich auch: Nach vielen Jahren Post-Produktions-Hölle erschien endlich The New Mutants.

Was bleibt, ist ein Jahr, das weniger durch seine Filme in Erinnerung bleiben wird, als die Umstände, die es begleitet haben. Zumindest haben manche Werke vielleicht mehr Aufmerksamkeit erhalten, die sonst überschattet worden wären. Nichtsdestotrotz gab es natürlich bei 137 gesehenen Filmen auch einige, die zumindest mir im Gedächtnis bleiben werden. Wie bereits im vergangenen Jahr wird erneut auf eine Flop-Liste verzichtet, einige Honorable Mentions machen wieder den Anfang, die vollständige Auflistung inklusive Ranking findet sich wie gehabt auf Letterboxd. Und nun, um den vielleicht finalen Filmjahresrückblick dieses Blogs abzuschließen, möchte ich meine zehn favorisierten Filme aus dem Jahr 2020 vorstellen:


Honorable Mentions (in alphabetischer Reihenfolge): The Assistant (Kitty Green, USA 2019), Domangchin yeoja [The Woman Who Ran] (Hong Sang-soo, ROK 2020), Kajillionaire (Miranda July, USA 2020), Sorry We Missed You (Ken Loach, UK/F/B 2019), Tabi no owari sekai no hajimari [To the Ends of the Earth] (Kurosawa Kiyoshi, J/UZ/Q 2019)

 
10.
Vivarium (Lorcan Finnegan, IRL/B/DK/CDN 2019): Das Vorstadtleben als Eltern mit Nachwuchs lässt Lorcan Finnegan in seiner schwarzen Komödie Vivarium buchstäblich zur Hölle werden, wenn sich ein junges Paar auf der Suche nach einem Eigenheim plötzlich wider Erwarten in einer Elternrolle wiederfindet, die sich für sie zum Fegefeuer entwickelt. In seiner Botschaft zwar durchweg sehr plakativ, gefällt der Film durch seine humorvolle Metapher und lebt allen voran von dem nuancierten Spiel Imogen Poots’.

9.
A Hidden Life (Terrence Malick, USA/UK/D 2019): Kaum ein Regisseur widmet sich so sehr der existenziellen Frage nach dem Wieso und Warum unseres Daseins und dem vermeintlichen Widerspruch zwischen Gut und Böse wie Terrence Malick. In seinem jüngsten Drama A Hidden Life geht es für die Hauptfigur des Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter in Zeiten des Zweiten Weltkriegs weniger um das Finden von Antworten, als das Abfinden mit einer getroffenen Entscheidung und ihren Konsequenzen.

8.
Tenki no ko (Shinkai Makoto, J/CHN 2019): So unbeständig wie das Wetter kann manche Gefühlswelt sein. Licht am Horizont sieht Shinkai Makoto stets in seinen Filmen, so auch in Tenki no Ko [Weathering With You], dem Nachfolger zu Kimi no na wa. Der junge Ausreißer Hodoka lernt darin Hina kennen und lieben, die per Gebet den Regenschauern Tokios Einhalt gebietet – was jedoch nicht ohne Preis ist. Zwar entfaltet der Film nicht dieselbe emotionale Wucht wie sein Vorgänger, berührt aber dennoch ungemein.

7.
Boże Ciało (Jan Komasa, PL/F 2019) Eine von Jesu Lehren war das Vergeben, von der Katholischen Kirche dann als Ablass kommerzialisiert. Zu Vergeben lernen ist eines der Themen in Jan Komasas Oscarnominiertem Boże Ciało [Corpus Christi], in dem sich ein junger Straftäter nach der Haftentlassung in einer polnischen Gemeinde als Vertretungspriester ausgibt und im Zuge dessen nicht nur den sich von einer Tragödie erholenden Einwohnern bei der emotionalen Heilung hilft, sondern auch sich selbst.

6.
Midnight Family (Luke Lorentzen, MEX 2019): In Mexiko-Stadt sind nur 45 städtische Krankenwagen für die neun Millionen Einwohner zuständig. Weshalb zusätzlich viele privatisierte Sanitärer versuchen, aus der Lücke zu profitieren. Luke Lorentzen begleitet in Midnight Family mehrere Monate die Familie Ochoa, die einen Rettungsdienst betreibt. Seine Dokumentation zeigt ein trauriges Bild von Mexikos Notfallversorgung sowie den fragwürdigen Mitteln, zu denen Menschen gezwungen sind, um ihre Existenz zu sichern.

5.
Wendy (Benh Zeitlin, USA 2020): In seinem Nachfolger zu Beasts of the Southern Wild implementiert Benh Zeitlin viele Elemente des Vorgängers, wenn er J.M. Barries “Peter Pan” in Wendy seinen eigenen Touch verleiht. In dessen Welt wird Erwachsenwerden assoziiert mit der Aufgabe von Träumen und Abenteuerdrang, was den Film mit Steven Spielberg Meisterwerk Hook eint. Wendy zelebriert dabei weniger ein Coming of Age als vielmehr ein Staying Young – ein liebevoller Film darüber, was es bedeutet, Kind zu sein.

4.
La vérité (Koreeda Hirokazu, J/F/CH 2019): Erinnerungen können trügerisch sein – oder schlicht von einer Person aus Banalität narrativ etwas aufgepeppt werden. So wie in Koreeda Hirokazus erstem fremdsprachigen Drama La vérité, in welchem Juliette Binoche als Tochter der von Catherine Deneuve gespielten alternden Filmdiva Fabienne mit ihrer Kindheit und Persönlichkeit der Mutter hadert, während diese in einem Filmprojekt quasi selbst von der Mutter- in die Tochterrolle gedrängt wird und ihr Leben reflektieren lernt.

3.
Swallow (Carlo Mirabella-Davis, USA/F 2019): Selten geworden sind Filme, die Raum für Interpretationen lassen. Vergangenes Jahr lieferte Carlo Mirabella-Davis mit Swallow einen solchen ab, erzählt darin augenscheinlich von der jungen Ehefrau Hunter mit Pica-Syndrom, dabei lässt sich Letzteres problemlos als Metapher für Hunters Situation und Leben lesen, in dem es Dinge gibt, die sie schlucken muss und die es zu verdauen gilt. Das Ergebnis ist die vielleicht zufriedenstellendste Emanzipationsgeschichte des Jahres.

2.
I’m Thinking of Ending Things (Charlie Kaufman, USA 2020): Nichts bereuen – dazu sind Figuren von Charlie Kaufman in der Regel nicht fähig. Auch sein jüngster männlicher Protagonist schwelgt in I’m Thinking of Ending Things im Gestrigen, während er mit seiner neuen Freundin zum Antrittsbesuch bei seinen Eltern fährt. In der Folge verschwimmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, verschmelzen Zeit und Raum. Das Ergebnis weist viel vom Humor des Auteurs auf, könnte letztlich aber durchaus etwas subtiler sein.

1. Bloody Nose, Empty Pockets (Bill Ross IV/Turner Ross, USA 2020): In ihrem jüngsten Werk Bloody Nose, Empty Pockets inszenieren Turner und Bill Ross IV eine Totenwache für eine Kneipe, die einer Gruppe Abgehängter der Gesellschaft zum Zuhause wurde, als enorm unterhaltsames, eindringliches Dokument darüber, wie eine Umgebung Menschen definiert und Menschen ihre Umgebung. “Sometimes you wanna go, where everybody knows your name, and they’re always glad you came”, wusste schon das Cheers-Theme.

31. Dezember 2020

I’m Thinking of Ending Things

I suppose I watch too many movies.


« Non, je ne regrette rien », singt Édith Piaf in ihrem gleichnamigen Lied. Sie bereue nichts – etwas, das die Figuren in Charlie Kaufmans Filmen nicht unbedingt von sich sagen. So auch in seinem jüngsten Werk I’m Thinking of Ending Things, das dieses Jahr direkt auf dem Streaming-Dienst Netflix landete und sich wie immer um Einsamkeit, Liebe, Beziehungen und personelle Leere dreht. Nominell wird darin vom Antrittsbesuch einer jungen Frau bei den Eltern ihres neuen Freundes erzählt. Im Kern geht es Kaufman jedoch weniger um das Spezielle, sondern wie immer das Allgemeine. Nicht um das Leben einer einzelnen Person, vielmehr das Leben generell. All seine Höhen und Tiefen – kompakt kondensiert in einem einzigen Abend.

Eine junge Liebe ist es, die Lucy (Jessie Buckley) und Jake (Jesse Plemons) ein. Vor einem Monat lernten sie sich erst bei einem Bar-Quiz kennen, doch Lucy – wie der Filmtitel vorwegnimmt – denkt bereits jetzt daran, einen Schlussstrich zu ziehen. “The idea is new. But it feels old at the same time”, fasst sie ihr Dilemma oxymoronisch zusammen. Ähnlich verhält es sich mit dem Besuch bei Jakes Eltern, dem ersten gemeinsamen Trip des Paares, der dennoch zugleich Nostalgie erwecke, wie Lucy sinniert. Die aufkommende Stille während der Fahrt versucht Jake dadurch im Keim zu ersticken, indem er seine Freundin nach deren Biologie-Studium und ihrer Ganglien-Forschung befragt oder Lucy von ihr selbstverfasste Gedichte zum Besten geben lässt.

Der Ausflug zu Jakes Elternhaus führt nicht nur zur Vorstellung bei seinen Erzeugern, sondern unweigerlich auch in seine Kindheit. Gegenwart und Vergangenheit treffen aufeinander und werfen Schatten auf die Zukunft. Kaufman beginnt im Verlauf verstärkt, die Realitätsschrauben zu lockern – was ist Schein, was Sein? Handelt es sich um einen unzuverlässigen Erzähler, ein unzuverlässiges Publikum oder vielleicht beides? Lucys Name ändert sich zuerst in Louisa, dann in Lucia und wieder zur Lucy; ihr Studienfach wiederum wechselt im Laufe des Abends von Biologie zu Quantenphysik und Gerontologie. “I’m feeling confused”, gesteht Jakes Vater (David Thewlis) später einmal – womöglich wie auch mancher Zuschauer.

Zeit und Raum verschmelzen mehr und mehr. In einer Szene ist Jakes Mutter (Toni Collette) jung, in der nächsten ein Pflegefall. Sein Vater erst gewitzt, dann dement. Wahrnehmen kann dies nur das Publikum. “We’re stationary and time passes through us”, sagt Lucy mal. “Time is another thing that exists only in the brain”, philosophiert Jake an einer anderen. Dass Zeit im Geiste wahrgenommen werden, beschrieb bereits Augustinus. In dieses Verständnis fügt sich gut ein, dass wir die Anfänge von Lucys und Jakes Beziehung erleben, die gleichzeitig deren Ende markieren. Alles ist im Fluss, das Spiel mit Zeit zeichnete bereits Charlie Kaufmans meisterhaftes Regie-Debüt Synecdoche, New York, das vor elf Jahren erschien, aus.

I’m Thinking of Ending Things
fokussiert sich zwar weitestgehend auf Lucy, erzählt aber im Grunde von Jake. Von seinem Selbstbild und seiner Einordnung von diesem in seiner Umwelt. Jake liebt Musicals, allen voran Okalahoma!, besitzt rudimentäres Wissen über Ganglien, kennt die Werke von Anna Gavon, Leo Tolstoi oder David Foster Wallace und schätzt die Gedichte von William Wordsworth. Letzterer hatte viele von ihnen einer Dame, die ebenfalls Lucy hieß, gewidmet – “a beautiful, idealized woman”, wie Jake weiß. Er hat hohe Ansprüche an sich selbst, scheint diese aber nie entsprechend verwirklicht zu haben. Wovon auch gewisse Anspannungen während des Abendessens im Beisein seiner beiden Eltern zeugen.

Bestimmt, entnervt und aggressiv gebiert sich Jake. Nervös, gar ängstlich wirken die Blicke, die seine Mutter wandern lässt. “Jake can be controlling”, sagt sie und die Atmosphäre erinnert an Joe Dantes Segment “It’s a Good Life” aus Twilight Zone: The Movie. Bloß kein falsches Wort sagen, bloß keinen Zorn auf sich ziehen. Jakes Eltern wirken bereits abverurteilt in dieser lebenslangen Haft jenes emotionalen Gefängnisses, für Lucy, so suggeriert der Film, besteht noch Hoffnung – “I’m thinking of ending things”. Wenn nicht jetzt, wann dann? Lieber jetzt, als nie. Oder wie es Lucy nennt: “the lie of it all”, all diese Platitüden. Gott hat einen Plan, alles wird gut, es ist nie zu spät. Die Hoffnung ruht auf der Zukunft, wenn Heute zu Gestern wird.

Nur: Menschen können nicht in der Gegenwart leben, wirft Lucy ein. “So they invented hope.” Darin begründet liegt der Glaube, der Monotonie des Alltags zu entkommen, in einer Nebenhandlung in einem Schulhausmeister (Guy Boyd) personifiziert. Dessen Tage sind immer gleich, ein stagnierendes Manifest in einem Meer an Pubertät und Erwachsenwerden. Wo die Schüler der Einrichtung entkommen, zählt der Hausmeister zum Inventar. Wo die Jugendlichen weiterziehen, in eine erwartungsvolle Zukunft, markiert der Hausmeister mit seiner Gegenwart ihre Vergangenheit. “The onslought of identical days” beschrieb Lucy in ihrem rezitierten Gedicht. “It’s like you wrote it about me”, bemerkt Jake, ohne die Tragik zu erkennen.

Lucy, erwidert sie, zielte auf “universality in the specific” ab. Pars pro toto oder, um wieder auf Kaufman zu verweisen, eine Synekdoche. I’m Thinking of Ending Things besitzt viel vom Humor seines Auteurs, obgleich weniger subtil als in seinen früheren Werken. Gerade dann, wenn sich bei Wiederholungssichtungen zeigt, wie eindeutig der Film im Grunde in seiner ursprünglichen vermeintlichen Uneindeutigkeit ist. Wenn Jake hinweist, dass die Menschen von David Foster Wallaces Selbstmord mehr wissen als seinen Büchern (“suicide becomes the story”) oder ein Zitat von Pauline Kael zu A Woman Under the Influence sich auf Lucy und ihre vielen Interessen münzen ließe (“nothing that she does is memorable because she does so much”).

“We hope for the future, and then we turn to the past, and then we begin slowly and desperately to hope for the past”
, beschrieb Henri Barbusse in seinem Werk Light. Eine Zeile, die Jake gefallen könnte. “So many wrong turns” habe er in seinem Leben genommen, bedauert Jake dann auf der nächtlichen Heimfahrt. “The world is larger... than the inside of your head”, realisiert er – allerdings womöglich zu spät. Hätte, wäre, wenn... – die Rückbesinnung auf das Vergangene mit Hoffnung für die Gegenwart bildete bereits das Fundament in Kaufmans jüngstem Film Anomalisa. Prinzipiell fügt sich Jake ganz gut ein in die männliche Galerie an Protagonisten, denen ihr Ego(zentrismus) im Leben am meisten im Weg zum Glück steht.

Glücklich ist im Universum von Charlie Kaufman keine Figur, gefangen in Repetition, bis eine Erlösung erfolgt. Ein trostloses Bild, nicht unähnlich der verschneiten Landschaft, die Lucy und Jake passieren. “Beautiful... in a bleak kind of way”, beschreibt Lucy diese – und könnte zugleich über I’m Thinking of Ending Things sprechen. Der verliert sich in seinen Schlussminuten ein wenig in seinen vielen Referenzen, ist letztlich – zumindest nach der ersten Sichtung – vielleicht etwas zu verkopft und durchgeplant, als dass seine Kreativität einen vollends einnimmt (ähnlich haderte auch Anomalisa). “Do it or do not do it – you will regret both”, wusste schon Søren Kierkegaard in seinem Buch Either/Or. Folglich kann man am Ende also nur verlieren.

8.5/10