Wird etwas erst dadurch zu Kunst, indem es in den Räumen eines Museums ausgestellt wird? Diese Frage wirft der Stockholmer Kurator Christian (Claes Bang) in einem Interview mit der Journalistin Anne (Elisabeth Moss) zu Beginn in den Raum, als er strauchelt, ihr eine Ausstellungsbeschreibung auf der Museums-Homepage sinnig zu erklären. Eine durchaus interessante Überlegung. So zeigt Christians Museum in einer seiner Ausstellungen unter anderem mehrere kleine Haufen Schutt, wie man sie auch auf einer Baustelle sehen könnte. Nur würde sie dort niemand als Kunst wahrnehmen. Ist es also erst die Institution des Museums, die einem Werk seinen künstlerischen Rahmen verleiht? Und kann in diesem Rahmen letztlich alles Kunst sein?
Ein vermeintliches Beziehungsgeflecht, das auch den Künstler Julian (Dominic West) nach eigenen Angaben in seiner Herangehensweise an seine Arbeit inspiriert: Wie verhält sich das Bild zum Rahmen und im Kontext seiner Ausstellungsfläche? Wenn dann während eines öffentlichen Gesprächs mit Julian unentwegt einer der Zuschauer obszöne Zurufe von sich gibt, scheint es gut möglich, dass dies weniger an dem erklärten Nachsatz, er habe das Tourette-Syndrom, liegt, als vielmehr eine Inszenierung sein könnte. Regisseur Ruben Östlund präsentiert in seinem jüngsten und in Cannes prämierten Film The Square mehrere solche vermeintlichen Meta-Vignetten, die losgelöst von der eigentlichen Haupthandlung passieren.
Eine Inszenierung erlebt der Zuschauer darin auch in ihrem ersten Akt. Während eines in die Öffentlichkeit getragenen Beziehungsdramas stellt sich heraus, dass dieses nur als Maske für zwei Taschendiebe diente, die Christian um seine Wertsachen erleichtern. Mittels Handy-Ortung kann Christian im Anschluss den Aufenthaltsort der Täter auf ein Sozialwohnhaus eingrenzen und lässt sich von seinem Mitarbeiter Michael (Christopher Læssø) dazu überreden, einen anonymen Drohbrief in jeden Briefkasten zu werfen, in welchem er sein Hab und Gut zurückfordert. Als er damit das Ehrgefühl eines unschuldigen Jungen verletzt, der nun vor seiner Familie als Dieb dasteht, ist dies schließlich der Auftakt für einige unglückliche Ereignisse.
Seinen Titel bezieht Ruben Östlunds Film dabei auf ein neues Kunstwerk, das sich Christians Museum der modernen Kunst gesichert hat. Ein beleuchtetes Quadrat, welches einen Raum des Vertrauens und Mitgefühls schaffen soll. Wer in dem Quadrat um Hilfe bitte, müsse von der Gesellschaft erhört werden, so das idealistische Konzept. Ob sie ein Leben retten wollen, fragt da morgendlich am Platz vor dem Hauptbahnhof eine Frau die Passanten – darunter Christian – nach einem finanziellen Beitrag oder einer Unterschrift. Und wird ebenso geflissentlich ignoriert wie die zahlreichen Obdachlosen und Bettler, die auf den Plätzen und vor den Läden sitzen. Und die in The Square als weiteres subtiles Thema mit brisantem Konfliktpotential dienen.
Rund 4.000 Bettler sollen sich nach Angaben inzwischen in Schweden aufhalten, bis zu 1.500 davon alleine in Stockholm. Wodurch die Stadt im Pro-Kopf-Vergleich mit zu den Städten mit den meisten Bettlern zählt. Wenn Christians Museum zur Vermarktung von The Square dann ihre hippe PR-Agentur mit einem viralen Video beauftragt und diese dafür letztlich als sozialen Kommentar auf die Lage in Schweden ein blondes Bettlerkind in den Fokus stellen wollen, ist der Ärger vorprogrammiert. Östlund nutzt die Reaktion auf das provokante Video später geschickt für eine Pressekonferenz – wieder eine Inszenierung –, in der das heuchlerische Echauffieren der Bürger ob eines Problems, das sie täglich selbst ignorieren, zu Tage tritt.
Es gibt noch andere solche satirisch demaskierenden Situationen, darunter die wohl einprägsamste Szene des Films während eines Bankett-Dinners des Museums. Eingeleitet von dem Perfomance-Künstler Oleg (Terry Notary), führt sich dieser als Gorilla inmitten der Gäste auf. Zuerst von diesen wie Julian humorvoll zur Kenntnis genommen, spannt sich der Akt mit der Zeit mehr und mehr an. Und es wird deutlich, dass weniger die Darbietung von Oleg als Primat das Werk seiner Kunst ist, sondern was dieses Schauspiel bei seiner Umgebung auslöst. Von Belustigung über Irritation hin zu Furcht und Aggression. Indem sich ein Mensch wie ein wildes Tier benimmt, lockt er letztlich dadurch aus den anderen Menschen ihren animalischen Trieb hervor.
Von einem Selbsterhaltungstrieb scheint auch Christian eingenommen. Wirkt der Verlust seiner Wertsachen zuerst für die Figur eher wenig dramatisch, ist er dann aber doch ursächlich für das weitere Drama im Verlauf des Films. Claes Bang spielt den bourgeoisen Christian nicht frei von Sympathien, aber doch mit erkennbaren Ecken und Kanten. Er steht hierbei im Fokus der Geschichte, in der die übrigen Charaktere wie Anne, Julian, Michael und Oleg nur am Rand auftauchen. Und hierin findet sich auch einer der Probleme von The Square, der immer wieder den Rahmen seiner Inszenierung erweitert, für jene die Kunst kommentierenden – und wohl auch teils persiflierenden – Szenen abseits von der Kernhandlung um Christian und den Drohbrief.
So könnte sowohl Julians durch den Tourette-Zuschauer torpediertes Künstlergespräch als auch die Dinner-Performance von Oleg im Prinzip genauso gut der Schere zum Opfer fallen, ohne dass dies die eigentliche Geschichte um Christians Drama beeinflussen würde. Jene Geschichte wiederum wäre zudem als Prämisse für einen Film von Jean-Pierre und Luc Dardenne eventuell besser aufgehoben gewesen, genauso wie die Künstler-Sequenzen in einer Vignetten-Inszenierung à la Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach. In der Folge wirkt The Square etwas unstrukturiert (was womöglich von Östlund auch intendiert war) durch den Wechsel aus Christians Erlebnissen und den Szenen mit dem Ensemble.
Löblich ist, dass der Film trotz der aufgeblähten Laufzeit von zweieinhalb Stunden keine wirklichen Längen entwickelt und durchweg zu unterhalten weiß. Gleichzeitig fehlt The Square jedoch etwas das Momentum und die Aussagekraft von Ruben Östlunds starkem Vorgänger Turist. Wo dieser unter anderem das traditionelle Familien- und Geschlechter-Bild sezierte, gerät The Square in dem mitunter subtilen Ansatz, was Kunst ist und was sie sich alles erlauben darf – zuvorderst in Olegs Performance und der Herangehensweise an das virale Marketingvideo dargestellt –, nicht fokussiert genug. „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt“, hatte Pablo Picasso einst gesagt. Das hätte Östlund vielleicht noch stärker berücksichtigen können.
Ein vermeintliches Beziehungsgeflecht, das auch den Künstler Julian (Dominic West) nach eigenen Angaben in seiner Herangehensweise an seine Arbeit inspiriert: Wie verhält sich das Bild zum Rahmen und im Kontext seiner Ausstellungsfläche? Wenn dann während eines öffentlichen Gesprächs mit Julian unentwegt einer der Zuschauer obszöne Zurufe von sich gibt, scheint es gut möglich, dass dies weniger an dem erklärten Nachsatz, er habe das Tourette-Syndrom, liegt, als vielmehr eine Inszenierung sein könnte. Regisseur Ruben Östlund präsentiert in seinem jüngsten und in Cannes prämierten Film The Square mehrere solche vermeintlichen Meta-Vignetten, die losgelöst von der eigentlichen Haupthandlung passieren.
Eine Inszenierung erlebt der Zuschauer darin auch in ihrem ersten Akt. Während eines in die Öffentlichkeit getragenen Beziehungsdramas stellt sich heraus, dass dieses nur als Maske für zwei Taschendiebe diente, die Christian um seine Wertsachen erleichtern. Mittels Handy-Ortung kann Christian im Anschluss den Aufenthaltsort der Täter auf ein Sozialwohnhaus eingrenzen und lässt sich von seinem Mitarbeiter Michael (Christopher Læssø) dazu überreden, einen anonymen Drohbrief in jeden Briefkasten zu werfen, in welchem er sein Hab und Gut zurückfordert. Als er damit das Ehrgefühl eines unschuldigen Jungen verletzt, der nun vor seiner Familie als Dieb dasteht, ist dies schließlich der Auftakt für einige unglückliche Ereignisse.
Seinen Titel bezieht Ruben Östlunds Film dabei auf ein neues Kunstwerk, das sich Christians Museum der modernen Kunst gesichert hat. Ein beleuchtetes Quadrat, welches einen Raum des Vertrauens und Mitgefühls schaffen soll. Wer in dem Quadrat um Hilfe bitte, müsse von der Gesellschaft erhört werden, so das idealistische Konzept. Ob sie ein Leben retten wollen, fragt da morgendlich am Platz vor dem Hauptbahnhof eine Frau die Passanten – darunter Christian – nach einem finanziellen Beitrag oder einer Unterschrift. Und wird ebenso geflissentlich ignoriert wie die zahlreichen Obdachlosen und Bettler, die auf den Plätzen und vor den Läden sitzen. Und die in The Square als weiteres subtiles Thema mit brisantem Konfliktpotential dienen.
Rund 4.000 Bettler sollen sich nach Angaben inzwischen in Schweden aufhalten, bis zu 1.500 davon alleine in Stockholm. Wodurch die Stadt im Pro-Kopf-Vergleich mit zu den Städten mit den meisten Bettlern zählt. Wenn Christians Museum zur Vermarktung von The Square dann ihre hippe PR-Agentur mit einem viralen Video beauftragt und diese dafür letztlich als sozialen Kommentar auf die Lage in Schweden ein blondes Bettlerkind in den Fokus stellen wollen, ist der Ärger vorprogrammiert. Östlund nutzt die Reaktion auf das provokante Video später geschickt für eine Pressekonferenz – wieder eine Inszenierung –, in der das heuchlerische Echauffieren der Bürger ob eines Problems, das sie täglich selbst ignorieren, zu Tage tritt.
Es gibt noch andere solche satirisch demaskierenden Situationen, darunter die wohl einprägsamste Szene des Films während eines Bankett-Dinners des Museums. Eingeleitet von dem Perfomance-Künstler Oleg (Terry Notary), führt sich dieser als Gorilla inmitten der Gäste auf. Zuerst von diesen wie Julian humorvoll zur Kenntnis genommen, spannt sich der Akt mit der Zeit mehr und mehr an. Und es wird deutlich, dass weniger die Darbietung von Oleg als Primat das Werk seiner Kunst ist, sondern was dieses Schauspiel bei seiner Umgebung auslöst. Von Belustigung über Irritation hin zu Furcht und Aggression. Indem sich ein Mensch wie ein wildes Tier benimmt, lockt er letztlich dadurch aus den anderen Menschen ihren animalischen Trieb hervor.
Von einem Selbsterhaltungstrieb scheint auch Christian eingenommen. Wirkt der Verlust seiner Wertsachen zuerst für die Figur eher wenig dramatisch, ist er dann aber doch ursächlich für das weitere Drama im Verlauf des Films. Claes Bang spielt den bourgeoisen Christian nicht frei von Sympathien, aber doch mit erkennbaren Ecken und Kanten. Er steht hierbei im Fokus der Geschichte, in der die übrigen Charaktere wie Anne, Julian, Michael und Oleg nur am Rand auftauchen. Und hierin findet sich auch einer der Probleme von The Square, der immer wieder den Rahmen seiner Inszenierung erweitert, für jene die Kunst kommentierenden – und wohl auch teils persiflierenden – Szenen abseits von der Kernhandlung um Christian und den Drohbrief.
So könnte sowohl Julians durch den Tourette-Zuschauer torpediertes Künstlergespräch als auch die Dinner-Performance von Oleg im Prinzip genauso gut der Schere zum Opfer fallen, ohne dass dies die eigentliche Geschichte um Christians Drama beeinflussen würde. Jene Geschichte wiederum wäre zudem als Prämisse für einen Film von Jean-Pierre und Luc Dardenne eventuell besser aufgehoben gewesen, genauso wie die Künstler-Sequenzen in einer Vignetten-Inszenierung à la Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach. In der Folge wirkt The Square etwas unstrukturiert (was womöglich von Östlund auch intendiert war) durch den Wechsel aus Christians Erlebnissen und den Szenen mit dem Ensemble.
Löblich ist, dass der Film trotz der aufgeblähten Laufzeit von zweieinhalb Stunden keine wirklichen Längen entwickelt und durchweg zu unterhalten weiß. Gleichzeitig fehlt The Square jedoch etwas das Momentum und die Aussagekraft von Ruben Östlunds starkem Vorgänger Turist. Wo dieser unter anderem das traditionelle Familien- und Geschlechter-Bild sezierte, gerät The Square in dem mitunter subtilen Ansatz, was Kunst ist und was sie sich alles erlauben darf – zuvorderst in Olegs Performance und der Herangehensweise an das virale Marketingvideo dargestellt –, nicht fokussiert genug. „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt“, hatte Pablo Picasso einst gesagt. Das hätte Östlund vielleicht noch stärker berücksichtigen können.
6/10
Zunächst mal vielen Dank für deine detaillierte Analyse (wenn sich jemand kluge Gedanken über den Film gemacht hat, dann sollte man das mal lobend erwähnen).
AntwortenLöschenDas ist "mein erster Östlund" und ich bin begeisterter als du. Allerdings auch schockierter. Von der Affen-Performance. Du schreibst, es geht dabei um den Mensch als Tier. Ich habe da noch etwas anderes darin gesehen. Der Film kam in Deutschland raus als der Harvey-Weinstein-Skandal gerade auf dem Höhepunkt war und ich habe die Szene, in der Oleg während der Performance mit einer Frau flirtet, ihr dann in die Haare fasst, auf ihren Protest nicht reagiert, auch sonst keiner in diesem großen Ballsaal reagiert, das habe ich in meinem Kopf irgendwie miteinander verknüpft.
Es ist ein schmaler Grat zwischen "Ich mache hier ja nur Kunst" und einer Grenzüberschreitung. Und wenn die Grenze überschritten ist, braucht es Leute, die eingreifen. Wie Östlund an mehreren Stellen in diesem Film aufzeigt, dauert es immer erst eine Weile sich aus der Schockstarre herauszuwinden und tatsächlich etwas zu tun.
Danke für deinen Kommentar!
AntwortenLöschenIch selbst würde ja behaupten, dass du in die Affenszene etwas mehr liest, als diese beabsichtigt. Dass der "Affe" mit dem Haar spielte, hat für mich weniger mit den Geschlechterrollen zu tun als damit, dass der Affe fasziniert von dem langen Haar ist. Und dass keiner reagiert damit, dass sie versuchen zu vermeiden, dass die Aufmerksamkeit auf sie fällt. Zumal sie eingangs dem Ganzen ja als Zuschauer beiwohnen und Oleg erst eine Grenze, wie du richtig schriebst, überschreiten muss, ehe sie zur Aktion gezwungen werden. In gewisser Weise kann ja auch erst durch die Grenzüberschreitung Kunst entstehen. Ich selbst deutete die Performance von Oleg wie im Text erwähnt durchaus so, dass er konkret auf das Ende der Szene abzielte, also bewusst so lange provoziert, bis es eskaliert. Aber eben durch sein animalisches Verhalten wiederum die übrigen Gäste letztlich zu einer eigenen animalischen bzw. nicht-zivilisierten Handlung "zwingt".
Wenn dir dieser Östlund gefiel, kann ich dir nur "Höhere Gewalt" ans Herz legen.
Es kann durchaus sein, dass ich da mehr reininterpretiert habe (Kunst ist ja dazu da, dass man sie interpretiert). Vielleicht hatte ich auch einfach nur Mitleid mit der armen Frau. Ich fand diese ganze Szene am Anfang noch lustig, gegen Ende ist es dann aber echt ins Schreckliche gekippt und ich saß einfach nur fassungslos da. Definitiv einer meiner persönlichen WTF-Momente des Kinojahres.
AntwortenLöschenDanke für den Tipp mit "Höhere Gewalt". Steht ab sofort auf meiner To-watch-Liste.