22. November 2019

Doubles vies [Zwischen den Zeilen]

Ist es besser sich im Elend zu suhlen, als es zu vermeiden?

Die Tageszeitungen kämpfen mit rückläufigen Auflagen und Abonnenten, die Menschen suchen Inhalte und Nachrichten verstärkt im Internet – idealerweise kostenfrei. Digitalisierung liegt im Trend, getreu Bernd Stromberg: Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen. Ähnliche Probleme plagen auch den Verleger Alain (Guillaume Canet) in Olivier Assayas’ diesjährigem Film Doubles vies (in Deutschland: Zwischen den Zeilen). Er hat zwar bereits begonnen, sein Angebot verstärkt auf E-Books umzustellen und mit Laure (Christa Théret) auch speziell jemand für die Digitalisierung des Contents engagiert, doch gewinnbringend scheint der Verlag dennoch nicht zu sein. Verschiedene Literaturpreise hin oder her.

„Das Verlagswesen ist nicht mehr erträglich“, urteilt Alains Chef und Verlagsleiter. Entgegen etwaiger Analysen gebe es bei E-Books einen Rückgang von 15 Prozent. Auch wenn dies in der Realität scheinbar nicht wirklich der Fall ist, wo der Absatz bei E-Books – zumindest in Deutschland – in 2018 zweistellig gegenüber dem Vorjahr wuchs. Stattdessen würden die Leser nun zu Hörbüchern wechseln, weiß Alains Chef. Vorgelesen von Prominenten. Klar, so müssen sie nicht mehr selber lesen, sondern können sich alles erzählen lassen. Für Alain und seinen Verlag stellt das Leben einen steten Existenzkampf dar, relevant zu bleiben in Zeiten der wandelnden Ansprüche an Konsumgüter und ihre Konsumierung. Mit unklarem Ausgang.

Inzwischen gebe es „weniger Leser und mehr Bücher“, fasst Alain eingangs in einer geselligen Runde mit Freunden und Literaten die paradoxe Marktlandschaft der Gegenwart zusammen. Heutzutage wird fast alles und jeder verlegt, hinzukommen dann noch verschiedene Blogger und Influencer. Ein mit Alain befreundeter Schriftsteller berichtet da, sein Blog werde täglich von 5.000 Lesern besucht. Menschen, die er mit seinen Büchern nicht erreiche, die allerdings über den Blog eventuell zu seinen Büchern finden. Die Blogs würden den Menschen mehr Redefreiheit geben, jeder könne seine Meinung kundtun. Aber ungefiltert – die Internetkultur, kritisiert ein Mitglied der Runde, würde in ihrem eigenen Universum voller Vorurteile leben.

„Der Verlag wird zur Website“, ätzt Alains Gattin und Schauspielerin Selena (Juliette Binoche). Und auch Alain räumt später bei einer Podiumsdiskussion ein, dass Bücher einen gewissen Wert haben müssen. Günstige Kitsch-Romane verkaufen sich für 4 Euro als E-Books natürlich besser als andere Werke zum dreifachem Preis wie von Schriftsteller Léonard (Vincent Macaigne). Der verarbeitet in seinen Büchern autofiktional ehemalige Liebesbeziehungen und Affären, zum Beispiel die zu Selena, der Gattin seines Verlegers. Eine literarische Vorgehensweise, die Doubles vies während einer Buchlesung zur Diskussion stellt: Dürfen Autoren das Leben anderer und deren „Recht am eigenen Erlebten“ für ihre Arbeit (aus-)nutzen?

Assayas widmet sich in seinem jüngsten Film vielen interessanten Fragen auf unterhaltsame, obgleich teils oberflächliche Art und Weise. In Doubles vies prallen Generationen und gesellschaftlich-technischer Wandel aufeinander. Laure vertritt die Ansicht, die kommende Veränderung zu „gestalten und nicht über einen ergehen [zu] lassen“. Aller Romantik zum Trotz führt dabei an der digitalen Revolution kein Weg vorbei. Was Literaturkritiker einschließt. Deren „subjektive Ansichten sind nicht die (..) des Zielpublikum“, stattdessen übernehmen schon jetzt Algorithmen in Suchmaschinen die auf den Nutzer optimierte Empfehlung. Das ist auf der einen Seite in gewisser Weise natürlich benutzerfreundlich, aber zugleich auch risikobehaftet.

Als Demokratisierungsprozess begreift Laure die Digitalisierung des Buchbestands für eine allgemeine Zugänglichkeit der Literatur auf Google. Tolstoi, Hemingway und Co. immer verfügbar, weil alles in der Cloud. Alain wiederum sieht hierbei die Gefahr, dass unser literarisches Erbe zur Geisel von Google werden könnte. Mehr Transparenz – auch so ein Punkt, dem sich Assayas in verschiedenen Facetten widmet. Transparent soll sich für seine Wähler der Politiker verhalten, dem Léonards Freundin Valérie (Nora Hamzawi) als Beraterin dient. Transparenz findet sie in ihrer Beziehung zu dem untreuen Schriftsteller aber allenfalls in seinen autofiktionalen Werken: „Du belügst nur mich“, sagt sie. „Die Wahrheit steht in deinen Büchern.“

Mit der Treue nimmt es in Doubles vies aber keine der Figuren ganz genau, vielmehr führt jeder eine Affäre hinter dem Rücken des anderen. „Begehren ist nicht das A und O in einer Beziehung“, meint Selena lapidar, als sie am Set ihrer Fernsehserie dem Regisseur ihren Verdacht von Alains Untreue gesteht. Die Figuren in Assayas’ Film nehmen die Würfel, wie sie fallen. Insofern sind sie also durchaus adaptiv, obgleich sie in ihren Berufen eher damit hadern, sich anzupassen. So entwickelt sich Léonard literarisch nicht weiter und zögert Selena mit der Verlängerung ihrer Krimi-Serie für eine neue Staffel, während Laure und Alain in den Fragen der Neuausrichtung ihres Verlags nicht vollends auf einer Augenhöhe zu sein scheinen.

Doubles vies ist ein oft durchdachter und zugleich charmanter Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bevölkert von Figuren, mit denen wir sympathisieren, selbst wenn wir ihre Ansichten nicht immer vollends teilen mögen. Das Ensemble ist punktgenau besetzt, obschon Vincent Macaignes tölpelhafter Frauenheld Léonard eventuell zu sehr einem Woody-Allen-Film entlehnt scheint. Assayas’ Kommentare zur Digitalisierung wirken thematisch zwar wenig tiefgründig, eignen sich in ihrer gebotenen Form aber allemal, um den Diskurs nach der Sichtung im eigenen Freundeskreis weiterzuspinnen. Und wenn es so viel Spaß macht, sich im Elend (anderer) zu suhlen wie in Doubles vies, warum sollte man es dann vermeiden?

7.5/10

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