15. Januar 2011

La Bête humaine

Il faut penser à dégager la voie.

Auf den römischen Komödiendichter Titus Maccius Plautus geht der Ausspruch „Homo homini lupus“ (dt. Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf) zurück. Der bestialischen Natur des Menschen widmete sich auch Émile Zola in seinem 1890 erschienenen Roman La Bête humaine, der von der destruktiven Natur des Zugführers Jacques Lantier und der übrigen Figuren erzählt. Zu der Verfilmung des Romans kam es 1938 hauptsächlich deswegen, weil sich Jean Gabin auf der Höhe seiner Karriere einen Kindheitstraum erfüllen und einen Zugführer spielen wollte [1]. Für seinen La grande illusion-Regisseur Jean Renoir war La Bête humaine dagegen eine weitere Chance, im Poetischen Realismus zu schwelgen.

„Die Stahlmasse der Lokomotive wurde in meiner Vorstellung zum fliegenden Teppich der orientalischen Märchen“, schreibt Renoir in seiner Autobiographie über La Bête humaine [2]. Das Eisenbahnmotiv ist es auch, das den Film „mit seiner sensationellen Eröffnungssequenz“ beginnt [3]. Aus der Perspektive der beiden Lokführer Jacques Lantier (Jean Gabin) und Pecqueux (Julien Carette) verfolgt der Zuschauer die Fahrt des Paris-Le Havre-Expresses. Eine Ende der 1930er Jahre kinematographisch herausragende Leistung, die Renoirs Bruder und Kameramann Claude, der mit seiner Kamera auf einem an der Lokomotive befestigten Gestell filmte, bei einer Tunneldurchfahrt fast mit seinem Leben bezahlte [4].

Und so sehr die Lokomotive - Lantier erachtet sich mit ihr „verheiratet“ und nennt sie liebevoll „la Lison“ - eine eigene Rolle in Renoirs Film einnimmt, sind es doch die menschlichen Charaktere, die im Vordergrund stehen. Allen voran natürlich Gabins Jacques Lantier, der tragische Held dieser Geschichte. Der Lokführer leidet an einer angeblichen Erbkrankheit, entstammt er doch laut Vorspann Generationen von Trinkern. „Ihretwegen bin ich menschenscheu geworden“, verrät Lantier im ersten Akt gegenüber Flore (Blanchette Brunoy). Als Resultat leidet er an wahnhaften Anfällen, ausgelöst durch Frauen, die in ihm Verlangen erregen [5], die Lantier in poetischer Sentimentalität als „Anfälle von Traurigkeit“ beschreibt.

„Als ob mir eine Wolke in den Kopf steigt und auf einmal alles verändert“, beschreibt Lantier seine Attacken und ihre Folgen: „Dann bin ich wie ein tollwütiger Hund, der zubeißen muss.“ Die Szene mit Flore führt zum einen nun Lantiers Erbkrankheit ein, die letztlich mit für den tragischen Verlauf von La Bête humaine verantwortlich sein wird. Zugleich zeigt sie Lantier jedoch auch emotional mit Flore involviert. Beide versichern sich ihre Liebe zueinander, doch der Lokführer stößt die hübsche Blondine aus Angst, sie zu verletzen von sich. Als er später die Femme fatale Séverine (Simone Simon) kennenlernt, scheint seine Erbkrankheit jedoch plötzlich kein Problem mehr zu sein. Ebenso seine zuvor verkündete Liebe zu Flore.

Für O’Shaughnessy sind Lantier und Séverine mehr Opfer als Verursacher ihrer Schicksale [6], was jedoch im Zweifel steht. Séverine leidet sichtlich unter ihrem äußeren Erscheinungsbild und bildet damit eine Achse zu Flore, die ebenfalls ihre Schönheit verflucht. Beide Frauen werden - soweit es Renoirs Film angeht - auf ihr Äußeres reduziert. „Das, was ich brauche, ist kein Verliebter, sondern ein guter Kamerad“, erklärt Séverine später Lantier dann in einem Moment offensichtlicher Wahrheit. Ihr gesäuseltes „außer dir habe ich nie jemanden geliebt“ wirkt dagegen mehr als Mittel zum Zweck, um Lantier dazu zu bringen, ihren Ehemann, den Bahnhofsvorsteher Roubaud (Fernand Ledoux), für sie zu ermorden.

Roubaud wiederum lernt der Zuschauer als sympathische und idealistische Figur kennen. Er zeigt sich als Rächer der Entrechteten, wenn er sich für eine Dame und die Bahnregeln gegen einen Zuckertycoon einsetzt. „Ich mache zwischen den Reisenden keine Unterschiede“, erklärt Roubaud bestimmt. Auf dem Weg nach Hause lehnt er die Einladung zu einem Kartenspiel ab, um die Zeit mit seiner Frau zu verbringen, weshalb er als „glücklicher Mensch“ bezeichnet wird. Doch in einer Gesellschaft, die von der korrupten und reichen Elite dominiert wird [7], kann es sich Roubaud nicht leisten, einen der ihren zu vergrätzen. „Du musst deinen Patenonkel besuchen“, bittet er schließlich Séverine und tritt die Handlung los.

Sie reagiert widerwillig („Also gut, ich geh zu ihm“), da sie den Preis kennt, den ihr wohlhabender Patenonkel für seine Einflussnahme verlangt. Über die Konsequenzen zeigt sich Roubaud hinterher entsetzt und wütend, der Mord erscheint ihm die einzige Alternative, um die Ehe zu retten („So bleiben wir zusammen. Ich schwöre dir, das wird uns für immer verbinden“). In wenigen Szenen avanciert Roubaud vom Sympathikus plötzlich zum übereifersüchtigen Kontrollfreak („Es ist nur, weil ich dich liebe“). Er hat ziemlich offensichtlich Angst, Séverine zu verlieren, wobei sich der Zuschauer sowieso fragt, warum sie eigentlich mit ihm, der über kein Geld zu verfügen und sehr viel älter zu sein scheint, verheiratet ist.

Das Innenleben der Figuren verschließt sich jedoch dem Publikum. Der Mord von Roubaud bringt ihn nicht enger mit seiner Frau zusammen, sondern entzweit sie endgültig. Die Affäre von Séverine mit Lantier bekommt er zwar mit, doch ist sie dem Bahnhofsvorsteher egal. Er verliert sich in jenem Kartenspiel, dem er sich zuvor versagt hat. „Sie haben kein Glück“, resümiert sein Gegenüber als Roubaud Runde um Runde verliert. „Nein, ich habe kein Glück“, lautet dessen Echo in jenem Spiegelbild zu Beginn. Roubaud, der aufrechte Mann, der alle gleich behandelt, mutiert zum gebrochenen Mann. Der Versuch, seinen Job zu retten, resultierte im scheinbaren Ehebruch, der Versuch die Ehe zu retten, im definitiven Mord.

Ob Sèverine wirklich so verrucht ist, wie Renoir sie inszeniert, bleibt offen. Einen Beweis für ihre Untreue gibt es nicht, ihr unter Prügel geschaffenes Geständnis lässt ebenso Zweifel offen. Dem Ruf als Femme fatale wird sie allerdings spätestens nach dem Mord an ihrem Patenonkel gerecht, wenn sie versucht, Lantier auf subtile Weise zur Ermordung ihres Mannes anzustiften („Am Morgen lebt man noch und am Abend ist man tot“). Als dieser die Tat jedoch nicht übers Herz bringt, schiebt Séverine ihm die Schuld für das nun nicht zu Stande kommende gemeinsame Glück in die Schuhe. „Dieses Glück, das einzig von dir abhing“, urteilt sie schließlich und nimmt damit die Position ein, die Roubaud vor ihr inne hatte.

Ihr verhängnisvoller Charakter war vermutlich der Grund, weshalb La Bête humaine seiner Zeit in Großbritannien unter dem Titel Judas Was a Woman vertrieben wurde [8]. Lantier zeigt sich moralisch jedenfalls stärker als Séverine, wenn er ihr entgegnet: „Man kann sein Glück nicht auf einem Verbrechen aufbauen“. Aber angesichts einer möglichen Versagung der Beziehung erklärt er sich letztlich doch bereit, Roubaud zu töten. Wieso er allerdings jetzt einen seiner „Anfälle von Traurigkeit“ erleidet, wo er schließlich bis hierhin sogar Geschlechtsverkehr mit Séverine haben konnte, ohne auch nur einen Anflug von Gewalt zu zeigen, ist wohl weniger dem Versuch von Authentizität als vielmehr der Dramaturgie geschuldet.

So löst Renoir „die Implikationen von Zolas Romantitel nicht ein“ beziehungsweise allenfalls bedingt [9]. Im Zuge der filmischen Erzählung verkommen die Figuren zu Sympathieträgern und Identifikationsfiguren [10], dennoch bewegt sich Renoir in ihrer Charakterisierung zumeist nur an der Oberfläche. Indem deutlich wird, dass Lantiers Anfälle unvorhersehbar scheinen und somit nicht auf einen definitiven Auslöser zurückzuführen sind, suggerieren sie neben einer Fremd- auch eine Selbstverschuldung [11]. Und so willkürlich wie Lantiers Anfälle scheinen auch die Liebesbekundungen der Hauptfiguren, weshalb ihre Romanze nie glaubhaft wirkt und ihr folglich die Empathie des Publikums fehlt.

Der klassischen Tragödie folgend, wirkt der Niedergang aller Figuren vorherbestimmt. So sträubt sich Séverine zuerst auch gegen Lantiers Entscheidung, Roubaud doch zu töten („Nicht heute Abend. Ich fühle, dass mich irgendwas bedroht“). Letztlich werden sie Opfer ihrer bestialischen Natur (in Zolas Roman trifft dies auch noch auf Roubaud und Flore zu), wie Séverines Patenonkel Grandmorin zuvor und wenn man so will, auch die Nebenfigur Cabuche (Jean Renoir), der durch frühere Verfehlungen zum Sündenbock für den Mord an Grandmorin stilisiert wird. Freiheit von seiner Erbkrankheit - und im Grunde auch von sich selbst - wird Lantier in Renoirs Film letztlich nur in der „Freiheit des Todes“ gewährt [12].

Die Fatalität der menschlichen Natur, in Zolas Roman zugleich für Zeitkritik am damaligen Justizsystem und Fortschrittswahn gebraucht [13], wird bei Renoir vom „düsteren Pamphlet“ zum „unterhaltsamen Kinospektakel“ [14] heruntergebrochen. Obschon der Film in Frankreich ein „sofortiger Hit“ war, der Renoir „endlich die Anerkennung bescherte, nach der er sich 14 Jahre lang gesehnt hatte“ [15], scheint es nicht so, als wäre La Bête humaine für den Regisseur über den Status einer Auftragsarbeit hinaus gegangen [16]. Lediglich anderthalb Seiten widmete Renoir über drei Jahrzehnte später seinem Werk des Poetischen Realismus, das er wohl zuvorderst aus Freundschaft zu Gabin annahm, in seinen Memoiren.

Vielleicht wurde die Erinnerung an den Film bei Renoir auch einfach durch die Tatsache überschattet, dass er zwei Monate nach Kinostart mit seinem Vorgänger La grande illusion als erstes fremdsprachiges Werk für einen Academy Award als Bester Film nominiert war. Letztlich beeindruckt La Bête humaine zwar durch seine visuell herausragende Darstellung der Zugreisen (die Eröffnungsszene ist durch das entsprechende Bild verlinkt) sowie des Eisenbahnerlebens, und er funktioniert auch weitestgehend als Vorläufer des US-amerikanischen Film noirs der 1940er Jahre [17], auf narrativer Ebene scheitert La Bête humaine jedoch, eine ebenso überzeugende Charakterisierung seiner Figuren zu liefern.

6.5/10

[1] vgl. Bertin, Célia: Jean Renoir. A Life in Pictures, Baltimore/London 1991, S. 150.
[2] Renoir, Jean: Mein Leben und meine Filme, München/Zürich 1974, S. 124.
[3] Faulkner, Christopher/Duncan, Paul: Jean Renoir. Ein Dialog mit seinen Filmen 1894-1979, Köln u.a. 2007, S. 95.
[4] ebd.
[5] vgl. O’Shaughnessy, Martin: Jean Renoir (French Film Directors), Manchester/New York 2000, S. 141.
[6] ebd., S. 144.
[7] ebd., S. 143.
[8] vgl. Braudy, Leo: Jean Renoir. The world of his films, New York 1972, S. 249.
[9] Hauck, Johannes: Auf dem fliegenden Teppich der Phantasie. ‚La Bête humaine’, in: Gassen, Heiner: Jean Renoir und die Dreißiger: soziale Utopie und ästhetische Revolution, München 1995, S. 79-88, hier S. 86.
[10] ebd.
[11] vgl. Braudy, S. 58.
[12] ebd., S. 60.
[13] vgl. Hauck, S. 81.
[14] ebd., S. 84.
[15] Bergan, Ronald: Jean Renoir. Projections of Paradise, Woodstock/New York 1994, S. 195.
[16] Renoir sagte spontan am Telefon zu und schrieb die erste Drehbuchfassung basierend auf seinen Erinnerungen an den Roman innerhalb von zwei Wochen, vgl. Braudy, S. 208.
[17] vgl. Bergan, S. 194.

1 Kommentar:

  1. Sehr schöner, fundierter Artikel, Kompliment!
    Ich habe den Film vor Jahren gesehen; mein Eindruck damals deckt sich mit deinen Beobachtungen - ich wurde einfach nicht warm mit den Figuren und mit dem Film. Mein Gedanke damals: Renoir hat viel Besseres gemacht!

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