14. Dezember 2018

Manbiki kazoku [Shoplifters]

Nicht mit Stäbchen auf Leute zeigen.

Was macht eine Familie aus? Ist es die genetische Verbindung, die als Basis von Zuneigung fungiert, oder kann die jenes soziale Geflecht unabhängig vom Erbgut ausmachen? Eine Frage, der sich Kore-eda Hirokazu bereits vor ein paar Jahren in Soshite chichi ni naru [Like Father, Like Son] gestellt hat. Darin erfahren zwei Familien, dass ihre Söhne versehentlich nach der Geburt vertauscht wurden. Ist das Kind, das nun jahrelang als das eigene aufwuchs, plötzlich weniger Kind als jenes, das man nicht kennt, aber seine DNS teilt? Was eine Familie verbindet oder nicht, dem widmet sich Kore-eda nun in Manbiki kazoku (international Shoplifters betitelt) erneut ausgiebig – und gewann dafür im Frühjahr die Palme d’or bei den Filmfestspielen in Cannes.

Nach einem Ladendiebstahl im Supermarkt treffen der ältere Osamu Shibata (Lily Franky) und Shota (Kairi Jō) auf dem Heimweg auf Yuri (Sasaki Miyu). Die Fünfjährige wurde auf den Balkon ihrer Wohnung ausgesperrt. Angesichts der Kälte nehmen Osamu und Shota das Mädchen mit nach Hause und teilen ihr Abendessen mit ihm. Da Yuris Eltern sich scheinbar wenig um sie scheren, auch als Osamu und seine Frau Nobuyo (Andō Sakura) sie später zurückbringen wollen, bleibt Yuri einfach kurzerhand bei ihrer Ersatzfamilie. Zu der gehören auch noch der Twen Aki (Matsuoka Mayu), die sich als Stripperin verdingt, und Großmutter Hatsue (Kiki Kirin), die ihr Haus mit den anderen teilt, um dem Sozialdienst zu entgehen.

Erst im Verlauf von Manbiki kazoku stellt sich dann allmählich heraus, wie das Beziehungsgeflecht innerhalb der Shibata-Familie tatsächlich aufgebaut ist. So wird Aki als Halb-Schwester von Nobuyo bezeichnet und Osamu hofft vergeblich darauf, dass ihn Shota „Papa“ ruft. Hatsue dagegen hat in gewisser Weise noch eine andere „Familie“, die des Sohnes ihres ersten Mannes, der sie für eine andere Frau verlassen hat. In diesen Clan der Shibatas wird nun kurzerhand noch Yuri aufgenommen, die damit zu Shotas „Schwester“ avanciert. Ob selbstgewählte Verbindungen stärker oder schwächer sind als natürliche sprechen auch die Figuren mitunter im Film an. Für die Shibatas wird Yuri zum Familienmitglied aus Überzeugung.

Die mit dem Mädchen aufgebauten Beziehungen erscheinen identisch mit denen herkömmlicher Familien, beispielsweise wenn Shota anfangs Eifersucht zur Schau trägt, als Osamu fortan Yuri mit in ihre Diebstähle integriert. Kore-eda inszeniert aber auch viele kleine Momente körperlicher wie emotionaler Zurschaustellung von Zuneigung. So fragt Hatsue eines Abends Aki, mit der sie ihr Bett teilt, was ihr denn tagsüber passiert sei, da ihre Füße kälter seien als sonst. Und schließt so von der veränderten Temperatur auf eine emotionale Verbindung. Erwärmend sind auch ein unerwarteter Kuss von Nobuyo an Osamu oder eine innige Umarmung von Yuri, die geradezu überfordert scheint mit einer derartigen Zuwendung.

“This is what someone does when they love you”, klärt Nobuyo das Mädchen auf, das körperliche Nähe wohl nur mit Disziplinierung in Verbindung bringt. Über ihre blauen Flecken sinnierten bereits Osamu und Shota zu Beginn, später bemerkt Nobuyo eine Brandnarbe an Yuris Arm, identisch mit ihrer eigenen. Beide Frauen eint somit eine zuhause erlittene Misshandlung. Die Eltern der Fünfjährigen machen dabei keine größeren Anstalten, nach ihrer Tochter zu suchen, selbst wenn die Polizei im Verlauf Ermittlungen aufnimmt. Große Sorge vor dem Vorwurf des Kidnappings haben die Shibatas dabei nicht, negieren diesen sogar, da sie für Yuri kein Lösegeld erpressen. Eine ähnliche Grauzone wie ihre täglich gelebte Kleptomanie.

Mehr schlecht als recht halten sie sich dabei über Wasser, obschon Hatsue monatlich Rente kassiert. Die Folge ist der Titelgebende Ladendiebstahl, dem Osamu und Shota frönen – und in den sie später Yuri miteinbeziehen. Der Klau zweier Angelruten entspricht da leicht einem Monatseinkommen von Osamu, was umso willkommener ist, da er sich während seiner Arbeit auf der Baustelle absichtlich eine Verletzung zuzieht, um von daheim das Krankgeld zu kassieren – nur das ihm dieses letztlich nicht zugesprochen wird. „Es geht nicht immer alles gut“, philosophiert er gegen Ende des Films im Gespräch mit Shota. Auch dies ist keine Botschaft, die allzu neu ist in Kore-edas Filmografie, sondern wie andere Elemente allgegenwärtig.

Was eine Familie ausmacht, die Biologie oder Soziologie, bildete bereits den Kern in Soshite chichi ni naru. Aber auch in Umimachi diary [Our Little Sister] musste sich eine Familie erst finden, als drei Schwestern von der Existenz einer Halbschwester erfahren, die das Kind jenes Mannes ist, der einst die Familie verlassen hat. Und dass man mit der eigenen Familie nicht immer besser dran ist, erfuhr Kiki Kirin erst vergangenes Jahr in Kore-edas Umi yori mo Mada Fukaku [After the Storm]. Dort zehren Sohn wie Tochter von der Sozialrente der Mutter, ohne sich wirklich gebührend um diese zu kümmern. Da hat es Hatsue in Manbiki kazoku schon besser, sorgt die Anwesenheit der anderen doch dafür, dass sie nicht ins Heim abgeschoben wird.

Insofern erfindet Kore-eda sich hier nicht neu. Vielmehr liefert er eine Art Best of der Themen seiner jüngeren Werken (im Grunde auch aus Sandome no satsujin [The Third Murder]). Von technischer Seite aus scheint seine Ozu-Hommage Aruitemo aruitemo [Still Walking] etwas runder respektive puristisch-cineastischer in ihrer scheinbaren Losgelöstheit aus der Realität. Sympathisch ist Manbiki kazoku, nicht nur wegen Kore-edas Stammpersonal wie Lily Franky und Kiki Kirin, sondern vor allem dank Sasaki Miyus Niedlichkeit. Fraglich jedoch, ob der Film die enthüllenden Entwicklungen in der zweiten Hälfte respektive gerade im Schlussakt wirklich nötig hatte – selbst wenn sie ironischer Weise den Film von den Vorgängern abheben.

Manbiki kazoku erzählt letztlich nicht nur davon, was eine Familie als Konstrukt ausmacht, sondern auch, was sie ihren Mitgliedern bedeutet. Wirkt Nobuyo zuerst ablehnend und etwas kalt gegenüber Yuri am ersten Abend, taut Andō Sakuras Figur im Verlauf immer mehr auf und entwickelt eine innige Beziehung zu dem Mädchen, mit dem sie sich so vieles teilt. Mutter zu sein ist entgegen der Aussage eines anderen Charakters am Ende des Films doch mehr, als nur der Akt der Geburt. Wie von Kore-eda-san gewohnt, liefert er mit Manbiki kazoku ein warmes Familien-Drama mit humorvollen Untertönen über Menschen mit Makel, die zwar nicht viel im Leben haben, aber immerhin sich selbst. Dafür sind Familien ja da – gerade bei Kore-eda.

9/10

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