Kunst, das ist laut dem Bertelsmann Lexikon die „schöpferische Gestaltung geistig-seelischen Erlebens in Wort, Musik, Gegenständen“ und zugleich auch die „Vermittlung innerer und äußerer Erfahrungswerte durch Formen, die aus der Phantasie des Künstlers und seinem Umgang mit einem eigenständigen Material entstehen“. Insofern klassifiziert diese Definition eigentlich jeden Film, sei er von Kieslowski oder Boll, als Kunstwerk. Und damit auch Antichrist, den neuen Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier. Blickt man nun weiter, ins Lexikon unserer Gesellschaft (Wikipedia, d. Red.), so findet sich unter dem Begriff des Meisterwerks die Ausführung, dass es „um die Verstörung des Betrachters, die ihn auf ungewohnte Denkpfade bringen soll“ geht. Trifft auch dies mal mehr und mal weniger auf die Filme eines Uwe Boll oder Michael Bay zu, so lässt sich zumindest definitorisch nicht leugnen, dass von Triers Antichrist ein Meisterwerk der Kunst ist. Dies sieht auch das Feuilleton so, weshalb sich dieser Beitrag weniger als Rezension oder Besprechung sieht, sondern eher als Reflektion von Reflektionen.
Je nach Feuilleton unterscheidet sich die Rezeption. Manche nutzen Antichrist wirklich als Denkansatz, Andere, wie Sophie Albers vom Stern, wollen lediglich einen „Erfahrungsbericht“ abliefern. Dass der Film diskutabel ist, darin sind sich jedoch alle einig. So wurde Albers, für die von Trier ohnehin einer „der anstrengendsten Regisseure der Welt“ ist, der Film als „Journalistenschreck“ zugetragen. Harald Peter konstatiert schließlich in der Welt, dass es „der meistgehasste Film 2009“ sei. Doch von Hass ist eigentlich keine Spur. Weder bei den renommierten Kritikern, noch bei der „Community“, betrachtet man die Wertungsdiskrepanz auf dem Onlineportal der Filmzeitschrift CINEMA. Dennoch fühlt sich Tobias Kniebe von der SZ dazu berufen, vorwarnend zu erklären, dass „wer glaubt, sich das anschauen zu müssen“ dies „auf eigene Gefahr“ tue. So scheint es Verena Luecken von der FAZ gegangen zu sein, die wohl nur auf Zutun ihrer Redaktion in den Film getrieben wurde. Outet sie sich doch zum Ende ihres Artikels nicht gerade als Fan des Dänen und kommt folglich zu dem Schluss, dass auch Antichrist nur „verkünstlerischtes, aufgeblähtes Genrekino“ sei, „das mehr sein will als Genre“.
Dabei zeigt Frau Luecken, dass sie selbst dem Film nicht wirklich aufmerksam gefolgt zu sein scheint und auch Probleme mit der englischen Sprache hat. Es sei denn, sie wollte einen Wortwitz machen, der in diesem Fall jedoch etwas deplatziert wirkt. Wie so viele spricht auch sie die surreale Fuchs-Szene im Film an, wenn der von Willem Dafoe verkörperte Therapeut im Wald einen sich selbst zerfleischenden Fuchs trifft. Dieser wendet sich letztlich an Dafoe selbst mit den Worten: „Chaos regiert“ (bzw. im englischen Original: „chaos reigns“). Bei Luecken wird daraus dann „ein Wolf, dem die Eingeweide aus dem Bauch hängen“, was schon im doppelten Sinne neben der Spur ist. Der Wolf (lies: Fuchs) faucht anschließend „chaos reigns“ und „dann fängt es tatsächlich an zu regnen“. Dumm, wenn man als ehemalige Kulturkorrespondentin in New York das englische „to reign“ nicht von „to rain“, also „regnen“, auseinander halten kann. Immerhin erspart Luecken dem Leser ihre interpretatorischen Ansätze hinsichtlich der daraufhin herab fallenden Eicheln und dem zuvor proklamierten Chaos. Vielleicht wäre es für Luecken besser gewesen, wenn sie sich vor ihrer Wortwahl noch mal sinnierend ins Gras gelegt hätte. So wie Charlotte Gainsbourg oder Hanns-Georg Rodek in seiner Video-Kritik zum Film.
„Hypnotischer (…) hat seit langem kein Film mehr begonnen“, befindet Rodek hinsichtlich von Triers Prolog. Dieser in Superzeitlupe und Schwarzweiß gefilmte Vorspann, der von dem Stück „Lascia ch'io pianga“ aus Georg Friedrich Händels Oper Rinaldo untermalt wird, lässt sich sicherlich als prätentiös beschreiben. Bei Urs Jenny vom Spiegel wird dieser Prolog dann zur „’Urszene’, wie Freud sie sich vorgestellt hat“. Selbst für Luecken ist der Vorspann „das Beste am Film“, denn was dann folgt, sei „erst mal eine dreiviertel Stunde Langeweile“. Das ist reichlich harsch, konzentriert sich von Trier doch hier – wie auch von vielen angerechnet wurde – auf die Trauer, die nun die Eltern, besonders Charlotte Gainsbourg, im Folgenden befällt. Ihr sexueller Akt war es, der die Aufmerksamkeit verdrängte als der gemeinsame Sohn wie ein suizidaler MacGyver aus seiner Krippe entflieht, um mittels Stühlerücken und Kletterpartien mit einem Lächeln vom Fenstersims zu purzeln.
Nun beginnt „der Film eines kranken Mannes – geboren aus einer schweren Depression heraus“, wie Kniebe den dänischen Regisseur selbst zitiert. Gainsbourgs namenlose Figur wird vom Kummer überwältigt. Nach einem Monat beginnt sie schließlich der Ehemann selbst zu therapieren. Entgegen der unausgesprochenen Regel seiner Zunft, wie Dafoe mehrfach erwähnt und vom Feuilleton wiederholt wird. Es stellt sich nunmehr heraus, dass der Mann, der der Familie den Rücken zuwandte, nicht mal wusste, dass seine Frau ihre Dissertation über Hexenverbrennungen nicht abgeschlossen hat. Als Ursprung der Angst wird der Wald ausgemacht, in welchem Gainsbourgs Figur im Sommer zuvor gemeinsam mit dem Kind an jener Arbeit schrieb. Die Hütte selbst wird bezeichnenderweise „Eden“ genannt. Und da man Ängste nur überwinden kann, wenn man sich ihnen stellt, beginnt ein Therapieurlaub in die Natur. Nach einem kurzen Fick versteht sich, den der Therapeut gleich darauf bereut, später aber bei Bedarf noch mehrere Male wiederholen wird. Es geht nun also in die Wälder, die für Kniebe etwas bisher selten zuvor gesehenes Finsteres haben. „Jede Wurzel zieht eine Fratze“, stellt der SZ-Autor wahrscheinlich als einer der Wenigen fest.
Unter dem Stakkato herab fallender Eicheln beginnt nun also die Therapie. Zwar sträubt sich die Frau bisweilen, folgt jedoch ansonsten den Ratschlägen ihres Mannes. Dankbar sei sie, dass er sie begleitet habe, meint die Frau im scheinbar kathartischen Moment. Bis zu diesem Zeitpunkt war der von Oscarpreisträger Anthony Dod Mantle photographierte Antichrist dank seiner unentwegten Wackelkamera, die selbst in Momenten zum Tragen kam, in denen sich die beiden Protagonisten überhaupt nicht bewegten, durchaus Schwindel erregend. Doch in der finalen halben Stunde beginnen die Wendungen und die Brutalität einzusetzen, die Daniel Kehlmann in der ZEIT als „fast unerträglich“ beschreibt, da sie zumindest eine Szene beschwören, die man wohl nie mehr vergessen wird. Es werden Bretter auf erregierte Schwänze geknallt, Beine durchbohrt und Klitorides kastriert. Nun gut, all dies jeweils singulär, aber man erfasst den Sinn auch so. Dabei beschwört von Trier keine grausameren oder brutaleren Szenen, wie man sie nicht zuvor schon von einem Pier Paolo Pasolini, Gaspar Noé oder gerne auch Eli Roth gewohnt war oder ist.
Dennoch ist sich Kniebe sicher, dass „was von Trier allein in der letzten Viertelstunde an Symbolen der Grausamkeit halluziniert“ sicherlich „die Proseminare der Genderstudies wieder für Jahrzehnte beschäftigt halten“ wird. Während Mancher von Triers Filme generell für misogyn hält, bricht Kehlmann eine Lanze für den Regisseur. Dem Film, der eigens jemand engagierte, um Recherchen zur Misogynie zu betreiben, ebenjene vorzuwerfen, findet der Bestseller-Autor einfach nur „albern“. Insofern werden Kehlmann und Luecken sicherlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen, sieht diese doch in Gainsbourgs Figur, dass „bei [von Trier] Satan eine Frau ist“. Eine Deutung, die so vielleicht nicht richtig, aber auch nicht unbedingt falsch ist. Denn Antichrist hält mehrere Möglichkeiten für die Personifikation des Antichristen offen. Sei dies nun die Frau, der Mann, das Kind oder etwas ganz Anderes. Möglicherweise sogar, wie von Gainsbourgs Figur kolportiert, die Natur. Selbst wenn Jenny im Spiegel hier entgegen dem Drehbuch allein den Wald mit der Kirche Satans gleichsetzt. Dagegen will sich Kehlmann beispielsweise nicht festlegen, wenn er im Film ein „außergewöhnliches Kunstwerk über das wahre Böse, den reinen Horror und den albtraumhaften Ekel“ sieht.
Dass das Weltbild von Antichrist, wie Kehlmann meint, „im umfassenden Wortsinn mittelalterlich“ sei, ist einer der wenigen Punkte im Feuilleton, denen man sogar zustimmen könnte. Wenn man sich an den ersten Absatz erinnert, sollen Meisterwerke – zumindest laut Wikipedia – auf ungewohnte Denkpfade bringen. Insofern wäre eine der zahlreichen Deutungen vielleicht, dass die Recherche der recht misogynen Literatur zur Hexenverfolgung und –verbrennung bei Gainsbourgs Figur zum Wahn führte, der wiederum in der Misshandlung des Kindes mündete. Jener Wahn, der später auch den Therapeuten befallen wird und der infolgedessen - auf eine Art und Weise - durchaus vom Wald ausgeht, auf jeden Fall aber auch von der Natur, die, wie in einem Gespräch zwischen Mann und Frau deutlich wird, nicht (nur) als Natur dessen, was da draußen ist, verstanden werden will oder soll, sondern auch, womöglich primär, als Natur des Menschen. Wobei zuviel Interpretation am Ende deplatziert sein könnte, ist Antichrist laut Jenny schließlich (Fälschlicherweise? Beruhigenderweise?) „kein realistischer Film“ und für Harald Peters letztlich „doch nur ein Märchen“.
Getragen wird von Triers Film natürlich auch von seinen beiden Darstellern, von denen Dafoe mit fortwährender Dauer immer besser in sein Spiel findet und Gainsbourg, die für Urs Jenny – mit etwas verstörendem pädophilen Einschlag – „die scharfe Kleine mit dem Körper eines ewigen Kindes“ ist, zweifelsohne beachtlich spielt, aber nun auch nicht so überragend, wie vielerorts durch ihre Auszeichnung in Cannes propagiert. Insofern ist Antichrist in seinen schlechtesten Momenten unwahrscheinlich prätentiös, gerade in dem von Händel untermalten Pro- respektive Epilog. Dennoch haben auch manche Bilder in der Tat etwas Faszinierendes und sind bisweilen von einer düsteren Schönheit. Das Herausragende an von Triers neuem und als eigene Depressionsbewältigung kolportierten Film ist jedoch weniger der Film selbst als vielmehr dessen Rezeption. Der Däne erzählt keine neue Geschichte, nicht einmal eine Altbekannte auf besonders neue Art. Antichrist ist ein Film, der deshalb gelungen ist oder als gelungen angesehen werden kann, weil er sich unterschiedlich lesen lässt. Zum Beispiel als Analogie zu Moses’ Genesis, in welcher Mann und Frau im Garten Eden ihre von Gott gegebene Unschuld verlieren, weil sie der Satan oder Teufel aus der Natur zum bösartigen Verhalten verleitet. Oder als Analogie, Interpretation und vieles Andere in Bezug auf Alles und Nichts.
Wenn ein Werk dann ein Kunstwerk ist, indem es viele Deutungen möglich macht, dann ist Antichrist ein Kunstwerk. Kommt Rodek in seiner dreiminütigen Videorezension zu diesem Schluss, dem per definitionem nicht zu widersprechen ist. Sicherlich ist von Triers Film ein Meisterwerk, sowohl im althergebrachten wie im modernen Sinne. Und es ist Kunst, was der Däne hier erneut auf Zelluloid gebannt hat. Doch Kunst heißt nicht unbedingt gut oder gelungen, ist Kunst doch ein weitgefächerter Begriff, den man auch fahrlässig verwenden kann. Mit Antichrist hat von Trier am Ende dann alles richtig gemacht, war der Film schließlich in aller Munde, von seinen Ursprüngen als „Journalistenschreck“ bis hin zu seiner vielfach geäußerten Klassifizierung als „Meisterwerk“. Kunst kann in dem Maße begeistern, wie sie auch verstören und mitunter anwidern kann. Kunst kann aber auch belanglos sein und interessant zugleich. Kunst kann Superzeitlupe, unterlegt mit Händel sein und das Abtrennen einer Klitoris. All das ist Antichrist, aber vielleicht auch nicht mehr als nur das. Für mich selbst ist es ein netter Film des Dänen. Ein interessanter Film, aber irgendwie doch auch ein belangloser. Durchschnittlich letztlich, aber deswegen nicht unbedingt schlecht. Und so bleibt das Herausragende an dem Film weniger der Film selbst als vielmehr seine Rezeption.
5.5/10
Je nach Feuilleton unterscheidet sich die Rezeption. Manche nutzen Antichrist wirklich als Denkansatz, Andere, wie Sophie Albers vom Stern, wollen lediglich einen „Erfahrungsbericht“ abliefern. Dass der Film diskutabel ist, darin sind sich jedoch alle einig. So wurde Albers, für die von Trier ohnehin einer „der anstrengendsten Regisseure der Welt“ ist, der Film als „Journalistenschreck“ zugetragen. Harald Peter konstatiert schließlich in der Welt, dass es „der meistgehasste Film 2009“ sei. Doch von Hass ist eigentlich keine Spur. Weder bei den renommierten Kritikern, noch bei der „Community“, betrachtet man die Wertungsdiskrepanz auf dem Onlineportal der Filmzeitschrift CINEMA. Dennoch fühlt sich Tobias Kniebe von der SZ dazu berufen, vorwarnend zu erklären, dass „wer glaubt, sich das anschauen zu müssen“ dies „auf eigene Gefahr“ tue. So scheint es Verena Luecken von der FAZ gegangen zu sein, die wohl nur auf Zutun ihrer Redaktion in den Film getrieben wurde. Outet sie sich doch zum Ende ihres Artikels nicht gerade als Fan des Dänen und kommt folglich zu dem Schluss, dass auch Antichrist nur „verkünstlerischtes, aufgeblähtes Genrekino“ sei, „das mehr sein will als Genre“.
Dabei zeigt Frau Luecken, dass sie selbst dem Film nicht wirklich aufmerksam gefolgt zu sein scheint und auch Probleme mit der englischen Sprache hat. Es sei denn, sie wollte einen Wortwitz machen, der in diesem Fall jedoch etwas deplatziert wirkt. Wie so viele spricht auch sie die surreale Fuchs-Szene im Film an, wenn der von Willem Dafoe verkörperte Therapeut im Wald einen sich selbst zerfleischenden Fuchs trifft. Dieser wendet sich letztlich an Dafoe selbst mit den Worten: „Chaos regiert“ (bzw. im englischen Original: „chaos reigns“). Bei Luecken wird daraus dann „ein Wolf, dem die Eingeweide aus dem Bauch hängen“, was schon im doppelten Sinne neben der Spur ist. Der Wolf (lies: Fuchs) faucht anschließend „chaos reigns“ und „dann fängt es tatsächlich an zu regnen“. Dumm, wenn man als ehemalige Kulturkorrespondentin in New York das englische „to reign“ nicht von „to rain“, also „regnen“, auseinander halten kann. Immerhin erspart Luecken dem Leser ihre interpretatorischen Ansätze hinsichtlich der daraufhin herab fallenden Eicheln und dem zuvor proklamierten Chaos. Vielleicht wäre es für Luecken besser gewesen, wenn sie sich vor ihrer Wortwahl noch mal sinnierend ins Gras gelegt hätte. So wie Charlotte Gainsbourg oder Hanns-Georg Rodek in seiner Video-Kritik zum Film.
„Hypnotischer (…) hat seit langem kein Film mehr begonnen“, befindet Rodek hinsichtlich von Triers Prolog. Dieser in Superzeitlupe und Schwarzweiß gefilmte Vorspann, der von dem Stück „Lascia ch'io pianga“ aus Georg Friedrich Händels Oper Rinaldo untermalt wird, lässt sich sicherlich als prätentiös beschreiben. Bei Urs Jenny vom Spiegel wird dieser Prolog dann zur „’Urszene’, wie Freud sie sich vorgestellt hat“. Selbst für Luecken ist der Vorspann „das Beste am Film“, denn was dann folgt, sei „erst mal eine dreiviertel Stunde Langeweile“. Das ist reichlich harsch, konzentriert sich von Trier doch hier – wie auch von vielen angerechnet wurde – auf die Trauer, die nun die Eltern, besonders Charlotte Gainsbourg, im Folgenden befällt. Ihr sexueller Akt war es, der die Aufmerksamkeit verdrängte als der gemeinsame Sohn wie ein suizidaler MacGyver aus seiner Krippe entflieht, um mittels Stühlerücken und Kletterpartien mit einem Lächeln vom Fenstersims zu purzeln.
Nun beginnt „der Film eines kranken Mannes – geboren aus einer schweren Depression heraus“, wie Kniebe den dänischen Regisseur selbst zitiert. Gainsbourgs namenlose Figur wird vom Kummer überwältigt. Nach einem Monat beginnt sie schließlich der Ehemann selbst zu therapieren. Entgegen der unausgesprochenen Regel seiner Zunft, wie Dafoe mehrfach erwähnt und vom Feuilleton wiederholt wird. Es stellt sich nunmehr heraus, dass der Mann, der der Familie den Rücken zuwandte, nicht mal wusste, dass seine Frau ihre Dissertation über Hexenverbrennungen nicht abgeschlossen hat. Als Ursprung der Angst wird der Wald ausgemacht, in welchem Gainsbourgs Figur im Sommer zuvor gemeinsam mit dem Kind an jener Arbeit schrieb. Die Hütte selbst wird bezeichnenderweise „Eden“ genannt. Und da man Ängste nur überwinden kann, wenn man sich ihnen stellt, beginnt ein Therapieurlaub in die Natur. Nach einem kurzen Fick versteht sich, den der Therapeut gleich darauf bereut, später aber bei Bedarf noch mehrere Male wiederholen wird. Es geht nun also in die Wälder, die für Kniebe etwas bisher selten zuvor gesehenes Finsteres haben. „Jede Wurzel zieht eine Fratze“, stellt der SZ-Autor wahrscheinlich als einer der Wenigen fest.
Unter dem Stakkato herab fallender Eicheln beginnt nun also die Therapie. Zwar sträubt sich die Frau bisweilen, folgt jedoch ansonsten den Ratschlägen ihres Mannes. Dankbar sei sie, dass er sie begleitet habe, meint die Frau im scheinbar kathartischen Moment. Bis zu diesem Zeitpunkt war der von Oscarpreisträger Anthony Dod Mantle photographierte Antichrist dank seiner unentwegten Wackelkamera, die selbst in Momenten zum Tragen kam, in denen sich die beiden Protagonisten überhaupt nicht bewegten, durchaus Schwindel erregend. Doch in der finalen halben Stunde beginnen die Wendungen und die Brutalität einzusetzen, die Daniel Kehlmann in der ZEIT als „fast unerträglich“ beschreibt, da sie zumindest eine Szene beschwören, die man wohl nie mehr vergessen wird. Es werden Bretter auf erregierte Schwänze geknallt, Beine durchbohrt und Klitorides kastriert. Nun gut, all dies jeweils singulär, aber man erfasst den Sinn auch so. Dabei beschwört von Trier keine grausameren oder brutaleren Szenen, wie man sie nicht zuvor schon von einem Pier Paolo Pasolini, Gaspar Noé oder gerne auch Eli Roth gewohnt war oder ist.
Dennoch ist sich Kniebe sicher, dass „was von Trier allein in der letzten Viertelstunde an Symbolen der Grausamkeit halluziniert“ sicherlich „die Proseminare der Genderstudies wieder für Jahrzehnte beschäftigt halten“ wird. Während Mancher von Triers Filme generell für misogyn hält, bricht Kehlmann eine Lanze für den Regisseur. Dem Film, der eigens jemand engagierte, um Recherchen zur Misogynie zu betreiben, ebenjene vorzuwerfen, findet der Bestseller-Autor einfach nur „albern“. Insofern werden Kehlmann und Luecken sicherlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen, sieht diese doch in Gainsbourgs Figur, dass „bei [von Trier] Satan eine Frau ist“. Eine Deutung, die so vielleicht nicht richtig, aber auch nicht unbedingt falsch ist. Denn Antichrist hält mehrere Möglichkeiten für die Personifikation des Antichristen offen. Sei dies nun die Frau, der Mann, das Kind oder etwas ganz Anderes. Möglicherweise sogar, wie von Gainsbourgs Figur kolportiert, die Natur. Selbst wenn Jenny im Spiegel hier entgegen dem Drehbuch allein den Wald mit der Kirche Satans gleichsetzt. Dagegen will sich Kehlmann beispielsweise nicht festlegen, wenn er im Film ein „außergewöhnliches Kunstwerk über das wahre Böse, den reinen Horror und den albtraumhaften Ekel“ sieht.
Dass das Weltbild von Antichrist, wie Kehlmann meint, „im umfassenden Wortsinn mittelalterlich“ sei, ist einer der wenigen Punkte im Feuilleton, denen man sogar zustimmen könnte. Wenn man sich an den ersten Absatz erinnert, sollen Meisterwerke – zumindest laut Wikipedia – auf ungewohnte Denkpfade bringen. Insofern wäre eine der zahlreichen Deutungen vielleicht, dass die Recherche der recht misogynen Literatur zur Hexenverfolgung und –verbrennung bei Gainsbourgs Figur zum Wahn führte, der wiederum in der Misshandlung des Kindes mündete. Jener Wahn, der später auch den Therapeuten befallen wird und der infolgedessen - auf eine Art und Weise - durchaus vom Wald ausgeht, auf jeden Fall aber auch von der Natur, die, wie in einem Gespräch zwischen Mann und Frau deutlich wird, nicht (nur) als Natur dessen, was da draußen ist, verstanden werden will oder soll, sondern auch, womöglich primär, als Natur des Menschen. Wobei zuviel Interpretation am Ende deplatziert sein könnte, ist Antichrist laut Jenny schließlich (Fälschlicherweise? Beruhigenderweise?) „kein realistischer Film“ und für Harald Peters letztlich „doch nur ein Märchen“.
Getragen wird von Triers Film natürlich auch von seinen beiden Darstellern, von denen Dafoe mit fortwährender Dauer immer besser in sein Spiel findet und Gainsbourg, die für Urs Jenny – mit etwas verstörendem pädophilen Einschlag – „die scharfe Kleine mit dem Körper eines ewigen Kindes“ ist, zweifelsohne beachtlich spielt, aber nun auch nicht so überragend, wie vielerorts durch ihre Auszeichnung in Cannes propagiert. Insofern ist Antichrist in seinen schlechtesten Momenten unwahrscheinlich prätentiös, gerade in dem von Händel untermalten Pro- respektive Epilog. Dennoch haben auch manche Bilder in der Tat etwas Faszinierendes und sind bisweilen von einer düsteren Schönheit. Das Herausragende an von Triers neuem und als eigene Depressionsbewältigung kolportierten Film ist jedoch weniger der Film selbst als vielmehr dessen Rezeption. Der Däne erzählt keine neue Geschichte, nicht einmal eine Altbekannte auf besonders neue Art. Antichrist ist ein Film, der deshalb gelungen ist oder als gelungen angesehen werden kann, weil er sich unterschiedlich lesen lässt. Zum Beispiel als Analogie zu Moses’ Genesis, in welcher Mann und Frau im Garten Eden ihre von Gott gegebene Unschuld verlieren, weil sie der Satan oder Teufel aus der Natur zum bösartigen Verhalten verleitet. Oder als Analogie, Interpretation und vieles Andere in Bezug auf Alles und Nichts.
Wenn ein Werk dann ein Kunstwerk ist, indem es viele Deutungen möglich macht, dann ist Antichrist ein Kunstwerk. Kommt Rodek in seiner dreiminütigen Videorezension zu diesem Schluss, dem per definitionem nicht zu widersprechen ist. Sicherlich ist von Triers Film ein Meisterwerk, sowohl im althergebrachten wie im modernen Sinne. Und es ist Kunst, was der Däne hier erneut auf Zelluloid gebannt hat. Doch Kunst heißt nicht unbedingt gut oder gelungen, ist Kunst doch ein weitgefächerter Begriff, den man auch fahrlässig verwenden kann. Mit Antichrist hat von Trier am Ende dann alles richtig gemacht, war der Film schließlich in aller Munde, von seinen Ursprüngen als „Journalistenschreck“ bis hin zu seiner vielfach geäußerten Klassifizierung als „Meisterwerk“. Kunst kann in dem Maße begeistern, wie sie auch verstören und mitunter anwidern kann. Kunst kann aber auch belanglos sein und interessant zugleich. Kunst kann Superzeitlupe, unterlegt mit Händel sein und das Abtrennen einer Klitoris. All das ist Antichrist, aber vielleicht auch nicht mehr als nur das. Für mich selbst ist es ein netter Film des Dänen. Ein interessanter Film, aber irgendwie doch auch ein belangloser. Durchschnittlich letztlich, aber deswegen nicht unbedingt schlecht. Und so bleibt das Herausragende an dem Film weniger der Film selbst als vielmehr seine Rezeption.
5.5/10
Haha, Flo Lieb im Kampf gegen den bösen bösen Hype.^^
AntwortenLöschenJa, da ist sehr viel wahres in deinen Gedanken zu entdecken. Für den aufmerksamen und mit einem durchschnittlichen EQ ausgestatteten Zuschauer ergibt sich gar nicht erst die Frage nach von Triers Frauenfeindlichkeit. Es ist doch offensichtlich, daß sie an ihren Schuldgefühlen zerbricht und er eigentlich ständig am echten Problem vorbei therapiert und damit ihre Schuldgefühle, ihre Scham, ihren Hass auf sich selbst noch vergrößert. Es ist doch wohl nicht zu schwer zu verstehen, daß sie ihrem Sohn die Schuhe verkehrt herum angezogen hat, da sie Angst hatte ihn zu verlieren. Daß sie ihm den Schleifstein aus gleichem Grunde ans Bein schraubt, seinen Pimmel zermatscht, da sie in ihm gleichsam ihrer eigenen Sexualität die Schuld am Tod ihres Sohnes gibt. Sie glaubt halt den Mist, der Frauen über Jahrhunderte von der Gesellschaft eingetrichtert wurde. Und er unterstützt sie ja noch in ihrem Glauben, wenn er sich ihrer Lust verweigert, und ihr erzählt, daß ihre Lust nicht gut für sie wäre. Den Mann sollte man in Antichrist viel stärker unter die Lupe nehmen. Wie er seine Macht über sie erhalten möchte, indem er sie aus den Krankenhaus holt. Wohlgemerkt handelt er aus dem gleichen Unterbewußtsein wie sie. Ich würde den Film inhaltlich stärker bewerten als du. Von Trier muß sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, daß seine Geschichte, die ich überhaupt nicht unwichtig finde, leider wirklich unter überbordenen Symbolismus und der Mythologie leidet, mit der er sie transportiert. Immerhin gibt er zu, daß sie nicht wirklich gut war. Was man natürlich sympathisch finden oder als reine Koketterie abtun kann. Denn sein Film trotz allem nicht schlecht.
AntwortenLöschenWie ich ja sagte, das Schöne am Film ist, dass er viel Raum zur Interpretation lässt. So wie deine. Insofern ist er durchaus gelungen, inhaltlich hat es mich aber nicht wirklich überzeugt.
AntwortenLöschenNaja, ich habe mich ja nur ans Drehbuch gehalten.;)
AntwortenLöschenNa dann bin ich mal auf deine aufhellenden Worte zur wahren Intention des Filmes (abseits der hier bereits geäußerten Punkte) gespannt). :-)
AntwortenLöschenIch schreibe kein Review mehr, da der Film mir einfach zu pessimistisch ist. Schön und gut, wenn ein Regisseur versucht seine eigene Depression mit einem Film zu verarbeiten, aber ich habe im Nachhinein keinen Bock drauf mich auch noch damit beschäftigen zu müssen. Wie schon gesagt halte ich seine Regie nicht wirklich für überzeugend und an gewissen Stellen sogar für sehr einfältig (Inszenierung der Sexszenen z.B.). Ich finde ihm geht jegliches Gefühl für seine Figuren ab, nicht mein Ding. Ich weiß, daß Depressionen eine gewissen Zynismus mit sich bringen können, das kann aus einer Schutzhaltung vor den eigenen Gefühlen heraus passieren. Meiner Meinung nach ist Antichrist von vorne bis hinten von solch einem Zynismus durchzogen und das gefällt mir nicht. Im Endeffekt weißt du jetzt was ich von ihm halte.;)
AntwortenLöschenDiese populärdidaktischen Ansätze deiner Reviews finde ich immer wieder interessant, wen auch wenig überzeugend.
AntwortenLöschenNichtsdestotrotz scheint es hier adäquat, um deine Unsicherheit bezüglich ANTICHRIST zu formulieren.