12. März 2011

Inside Job

Big time, so much larger than life.
(Peter Gabriel, Big Time)

Die globale Wirtschaftskrise kostete 2008 Zig-Millionen Menschen ihr Vermögen, ihre Jobs und ihr Eigentum. Das verkündet zumindest Inside Job, der jüngste Film von Charles Ferguson, zu Beginn per Titelkarte. “This is what happened“, lautet dann die Einladung in eine fast zweistündige Zusammenfassung der größten Weltwirtschaftskrise seit 1929. Seinen Anfang findet die Dokumentation in Island, jenem kleinen Land mit einer Bevölkerungszahl wie sie Berlins Stadtteil Charlottenburg-Wilmersdorf aufweist. ”A good place for families to live“, findet der isländische Wirtschaftsprofessor Gylfi Zoega. Zumindest bis 2008, als Island (BSP: 13 Milliarden Dollar) einen Bankenverlust von 100 Milliarden Dollar erlitt.

“Nothing comes without consequences“, weiß der isländische Filmemacher Andri Magnason. Seit 2000 betrieb Island eine Deregulierungspolitik, vor drei Jahren liehen sich dann Kaupthing, Íslandsbanki und Landsbanki (“these three tiny banks“, wie Erzähler Matt Damon sie nennt), die nie international gehandelt hatten, laut Fergusons Film 120 Milliarden Dollar. Was folgte, war ein Zusammenbruch der Banken, die Verdoppelung der Hauspreise und Verdreifachung der Arbeitslosigkeit. Dabei steht Island lediglich pars pro toto für die Ereignisse, die 2008 einen Großteil der Welt erschütterten, zuvorderst sicherlich die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen Inside Job Fehlersuche betreibt und auch fündig wird.

Am 16. März 2008 war Bear Stearns pleite gegangen, fast genau sechs Monate später meldete am 15. September Lehman Brothers Insolvenz an. Die Folge war eine Verdoppelung der US-Staatsschuld und eine Weltwirtschaft am Rande des Kollapses. Die Ursachen finden sich in den achtziger Jahren. Mussten Börsenmakler in den siebziger Jahren noch Zweitjobs bewältigen, um ihre Kinder zu ernähren, verdienten sie ein Jahrzehnt später Millionen. Paul Volcker, der acht Jahre lang den Vorsitz der US-Zentralbank führte, erinnert sich an die 45.000 Dollar, die er 1969 verdiente und nennt die derzeitigen Wall Street Gehälter “excessive“. Auslöser war die Deregulierung, die unter Ronald Reagan aufkam.

Hatte Morgan Stanley 1972 noch 110 Mitarbeiter und ein Kapital von 12 Millionen Dollar, waren es nun 55.000 Mitarbeiter und ein Kapital von mehreren Milliarden. Die Banken wurden immer mächtiger und unkontrollierbarer. Credit Suisse trieb Geschäfte mit Sanktionsstaaten wie Iran, J.P. Morgan bestach die eigenen Behörden. Mit dem Gramm-Leach-Bliley Act von 1999 öffnete man die Tore für Fusionierungen, wie sie bei Citygroup der Fall waren. Zwischen 2000 und 2004 vervierfachte sich in den USA das Hypothekendarlehen, man lebte in einer Wirtschaftsblase, die von Matt Damon als “the biggest financial bubble of all time“ charakterisiert wird. Und jede Blase wird zwangsläufig irgendwann platzen.

Dabei wurden immer wieder Warnungen ausgestoßen. Sei es vom FBI bereits 2004 oder vom Wirtschaftsexperten Raghuram Rajan, der 2005 auf einer Konferenz vor den Konsequenzen von Kaufanreizen gewarnt hatte. Auch 2006, 2007 und 2008 hatten sich noch kritische Stimmen zu Wort gemeldet. Dann kam die Bankenkrise, das Aus für Bear Stearns, Lehman Brothers und andere. Es folgten Verstaatlichungen und Notverkäufe wie im Fall von AIG. Das Ganze kostete die US-Bürger 150 Millionen Dollar und zehn Millionen Chinesen ihre Arbeitsplätze. Und der Schaden der Bürger ist perfider Weise in vielen Fällen zugleich der Gewinn der Investmentbanker. Denn die lassen sich eigens dagegen versichern und machen Profit.

Zum Beispiel durch “predatory loans“, Darlehen also, die Menschen erhalten, ohne dass sie diese begleichen können. Und die Darlehen wiederum werden von Banken wie Goldman Sachs an Investoren verkauft, während man sich zugleich gegen die Verluste der eigenen Kunden versichern lässt (ohne diese darüber zu informieren). “A real engineer builds bridges, a financial engineer builds dreams“, führt Andrew Sheng, Berater der Chinese Bank Regulatory Commission, als Metapher an. “And when those dreams turn into nightmares other people pay for it.” Sheng nennt dies “massive private gain at public loss” und der Grund hierfür ist kurz und knapp, dass die Beteiligten ihren Hals nicht voll kriegen können.

“They don’t wanna own one home, they wanna own five homes”, beschreibt Robert Gnaizda, Mitbegründer des Greenlining Instituts. Eine Meinung, die von Willem Buiter, Wirtschaftsexperte der Citygroup, bestärkt wird, wenn er sagt: “Banking became a pissing contest.” In Inside Job zeigt sich die New Yorker Finanzwelt als illustre Nachtgesellschaft, die jährlich Millionen für Drogen und Prostituierte ausgab. Dass sie etwas falsch gemacht haben könnten, bestreiten mitverantwortliche Involvierte wie der Wirtschaftswissenschaftler Frederic Mishkin. Mishkin hatte 2006 für 124.000 Dollar einen Bericht mit dem Namen „Finanzielle Stabilität in Island“ angefertigt und ist Professor an der Columbia Business School.

Der Dekan dieser Schule ist Glenn Hubbard, der von 2001 bis 2003 als Wirtschaftsberater unter Präsident Bush agierte. Als Hubbard allmählich Sinn und Zweck von Fergusons Dokumentation zu verstehen scheint, bezeichnet er seine Zusage als “foolish“, begrenzt die restliche Interviewdauer auf wenige Minuten und raunt in bester Gordon-Gekko-Manier: “Give it your best shot“. Auf Fehler will man nicht hingewiesen werden und sowieso sind Fehler etwas, was es in einer Finanzwelt nicht zu geben scheint, wo man jährlich selbst dann Bonuszahlungen im neunstelligen Bereich erhält, wenn man sein Unternehmen an den Rande des Konkurses und seine Kunden ganz in diesen getrieben hat.

Als George W. Bush 2006 davon sprach, dass die Steuern zu hoch seien, meinte er vermutlich jene, die die Reichen zahlen. Von den verkündeten Änderungen, die Barack Obama während seines Wahlkampfes tätigte, ist wenig übrig geblieben (Gnaizda nennt Obamas Administration “a Wall Street government“). Zum Direktor seines Wirtschaftsrates machte er Larry Summers, der unter Clinton Finanzminister war und den Gramm-Leach-Bliley Act durchboxte, aber im vergangenen Dezember zurücktrat. Sein Nachfolger wurde Gene Sperling, der Ende der Neunziger für Summers als Händler für die Durchbringung des Gramm-Leach-Bliley Acts auftrat und vor seiner Ernennung als Berater für Goldman Sachs tätig war.

Während Ferguson neben vielen Wirtschaftswissenschaftlern wie Raghuram Rajan und Nouriel Roubini auch andere namhafte Interviewpartner (darunter die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagard, New Yorks Ex-Gouverneur Eliot Spitzer und Dominique Strauss-Kahn, Direktor des Internationalen Währungsfonds) gewinnen konnte, verweigerten ihm Schlüsselfiguren wie die Notenbankchefs Alan Greenspan und Ben Bernanke, sowie die ehemaligen Finanzminister Larry Summers und Henry Paulson ein Statement. Dass sie als Verantwortliche ebenso (Mit-)Schuld trifft, wie die Banken rund um Goldman Sachs und Lehman Brothers, wird in Inside Job eindrucksvoll herausgearbeitet.

Immer wieder zeigt sich in Fergusons Nachhaken die Wut, die durch die Recherche dieses unwahrscheinlich komplexen Themas in ihm aufgekommen ist. Dass bei einer Laufzeit von fast zwei Stunden bei einem derart umfangreichen Thema wie der Weltwirtschaftskrise beim zuschauenden Laien bisweilen der Kopf raucht, ist unabdingbar. Dennoch gelingt es Ferguson, der für Inside Job, dem vielleicht besten Erklärstück der vergangenen Jahre, nach No End In Sight seine zweite Oscarnominierung erhielt (und den Sieg verdient hatte), sein Anliegen ehrlich, strukturiert und durchaus auch humorvoll-unterhaltsam (allein durch den von Peter Gabriels Big Time begleiteten Vorspann) vorzutragen.

Am Ende ist die Dokumentation zwar nicht Angsteinflößender als die Filme von Wes Craven und John Carpenter, wie es der Boston Globe verkündete, aber dennoch kommt man nicht umhin, während des Filmes ungläubig den Kopf zu schütteln, wenn offenbart wird, wie Goldman Sachs und Co. sich systematisch auf Kosten ihrer Kunden bereicherten. Mit Matt Damon gewann man einen prominenten (Für-)Sprecher, der seine natürliche Stimme zur Verfügung stellte, dem Film jedoch nicht die verdiente Aufmerksamkeit bescheren konnte. Ob sich das Finanzsystem ändert, ist zweifelhaft; dass Lehren gezogen werden, wünschenswert. Denn wie Andri Magnason sagte: “Nothing comes without consequences.“

8.5/10

3 Kommentare:

  1. Interessant. Danke für den Tipp.

    Was ist denn, themaunabhängig, deine Lieblingsdoku bzw. die, der du am meisten abgewinnen kannst?

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  2. Die "Up"-Serie von Michael Apted und Granada, ohne Zweifel für mich die bedeutendste (für den Zuschauer) und kulturell wertvollste Doku aller Zeiten. Seit 55 Jahren werden da alle 7 Jahre die 14 selben Personen besucht und über ihr Leben und ihre Erfahrungen seit dem letzte Film und im Vergleich zu früheren Etappen befragt.

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  3. I'm in love. So eine tolle Serie!!

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