21. Dezember 2018

Les garçons sauvages [The Wild Boys]

Piss on yourselves!

Einer dieser bekannten Sätze lautet: “Boys will be boys.” So sind Jungs nun mal und wer will es ihnen vorwerfen? Rabiat und lüstern, notgeil und gewaltbereit – so wirkt zumindest die Jungs-Clique in Bertrand Mandicos meisterhaftem Debütfilm Les garçons sauvages [The Wild Boys] auf ihre Umgebung. “Devoted to pleasure and the arts” seien sie, sagt Jean-Louis (Vimala Pons). Als eine private Aufführung von Shakespeares Macbeth für ihre Literatur-Dozentin (Nathalie Richard) dann jedoch in deren Tod mündet, stößt auch die Toleranz des maskulinen Verhaltens der Jugendlichen an Grenzen. Juristisch kommen Jean-Louis und Co. zwar ungeschoren davon, doch selbst den Eltern der Jungs wird nun klar: “they are barbarians.”

Hier kommt nun ein namenloser Kapitän (Sam Louwyck) ins Spiel. Er präsentiert den Eltern einen „gezähmten“ Wüterich, vormals mehrfacher Vergewaltiger folgt der Knabe nun brav auf Gehorsam. Auf seinem Schiff bietet der Kapitän an, die Truppe um Jean-Louis, Tanguy (Anaël Snoek), Romuald (Pauline Lorillard), Hubert (Diane Rouxel) und Sloan (Mathilde Warnier) zu erziehen. Indem er den Burschen, die der Erzähler als “one violent, unpredictable being” beschreibt, Grenzen aufzeigt und sie diszipliniert. Gerade Jean-Louis tut sich jedoch schwer mit des Kapitäns Autorität und spätestens als die Jungs im Verlauf eine mysteriöse Insel erreichen, gerät ihre Welt (und Sexualität) allmählich aus den Fugen.

Für die Besetzung seiner „wilden Kerle“ griff Bertrand Mandico kongenial auf fünf Schauspielerinnen zurück, die er einem androgynen Umstyling unterzog. In Schwarzweiß und auf 16-mm-Film gedreht, nur gelegentlich unterbrochen von eruptiven Farbaufnahmen, besitzt Les garçons sauvages somit einen gänzlich eigenen und unvergleichlichen Charme. Mit der den zweiten Akt einleitenden Erziehung auf hoher See mutet Mandicos Film dann wie eine französische Arthouse-Variante von Ridley Scotts (unterschätztem) White Squall an. Wenn der Kapitän den Jungs unterwegs einbläut “make the most of life”, erinnert dies an Robin Williams und sein “carpe diem” aus Peter Weirs Dead Poets Society (man denke auch an “Oh Captain! My Captain!”).

Der Trieb der Jungs ist aber nicht nur einer der Gewalt, sondern vor allem auch ihrer sexuellen Gelüste. Die Affektion gegenüber ihrer Lehrerin brach eingangs bereits buchstäblich in Fontänen von Ejakulat aus ihnen heraus, die Schiffsreise mit dem Kapitän wiederum wollen sie sich damit versüßen, dass sie dessen jugendliche Tochter „beglücken“. Die allerdings ist nicht existent, nur Lockmittel des gewitzten Seemannes, der schon weit gereist ist und dies auch belegen kann – mit entsprechenden Tätowierungen auf seinem Glied. Letzteres fasziniert die Jungs, insbesondere Hubert, in der Folge immer mehr, nicht zuletzt da es der Kapitän – der mitunter einfach nackt und nur von seinem Ledermantel umhüllt ist – nonchalant zur Schau trägt.

Sexuell aufgeladen ist auch ihre Anwesenheit auf ihrer designierten “pleasure island”, von phallusförmigen Pflanzenstengeln mit süß-spritzendem Saft hin zu Bodenvegetation, die wie eine Venusfliegenfalle über ein Aktionspotential verfügt, das Druck ausüben kann, was vor allem Jean-Louis missbraucht (im wahrsten Sinne des Wortes). “It was impossible for us to resist this impulse”, beschreibt Tanguy im ersten Akt das triebgesteuerte Verhalten der Jungs, da sie einem Dämon namens „Trevor“ zuschreiben. Auf Konfrontation gebürstet fehlt ihnen ein (männliches) Rollenbild für Reibungspunkte. Im Kapitän finden sie vermutlich erstmals jemanden, der ihnen wirklich Kontra gibt – was sie gleichermaßen in gewisser Weise anzieht wie letztlich auch abstößt.

Die Insel dient jedoch weniger zur Befriedigung – oder Umerziehung – von Tanguy und Co., die wahren Motive des Kapitäns sowie der auf der Insel lebenden Séverine (Elina Löwensohn) offenbaren sich schließlich im Schlussakt, fügen sich aber brillant in Mandicos Mise en Scène. Les garçons sauvages erzählt von Emanzipation – der von den Trieben der wilden Jungs sowie auch der von ihrer Sexualität. Der gelegentliche Wechsel von den kunstvollen Schwarzweiß-Bildern von Kameramann Pascale Granel hinüber zu Technicolor-Farben spiegelt im Verbund mit der tollen musikalischen Untermalung (u.a. Scorpion Valente und Nina Hagen) dieses Yin und Yang ebenfalls gut wieder. Nicht minder überzeugend gerät dabei das Ensemble.

Obschon wir wenig über die Jungs erfahren, charakterisiert Mandico sie dennoch (ausreichend) individuell. Im Fokus stehen primär Vimala Pons und Anaël Snoek, auch Mathilde Warniers Sloan vermag in ihren Szenen starke Akzente zu setzen. Die Illusion, hier fünf Knaben zu sehen, wird nicht nur aufgrund der überzeugenden Maske aufrechterhalten. Vielmehr geben die Darstellerinnen, speziell Pons, den Manierismus des anderen Geschlechts exzellent wider, oftmals nur mit einem gehässigen oder verschmitztem Blick der Augen. Sam Louwyck (als eine Art Hybrid aus Sam Neill und Hugo Weaving) und Elina Löwensohn (die an Tilda Swinton und Kristin Scott Thomas erinnert) formen ihre uneindeutigen Rollen ebenso genüsslich aus.

Die Inszenierung von Les garçons sauvages ist beeindruckend für ein Debüt (Mandico drehte zuvor bislang nur Kurzfilme), zugleich vermag aber wohl nur ein Erstlingswerk derart originell und kreativ zu sein. Das Ergebnis ist ähnlich wie die Inselerfahrung der Jungs: “salty and sweet” sowie “the most beautiful of hallucinations”. Was einem Fiebertraum gleicht, ist für diese wilden Kerle jedoch Realität. Eine lebensverändernde Erfahrung, an deren Ende sie nicht mehr sind, wer sie anfangs waren. Sie müssen lernen, sich ihrer alten Identität zu entledigen und eine neue überzustreifen. Selten war Emanzipation so kunstvoll, surreal-absurd und – im doppelten Sinne – traumhaft inszeniert wie in Mandicos Meisterwerk Les garçons sauvages.

10/10

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