21. Juli 2017

All This Panic

This is, like, my launch point.
This is, like, where I’m, like, building the rocket.

Als man noch zur Schule ging, konnte man sie nicht früh genug verlassen. Und erst später weiß man die – relativ – sorgenlose Zeit jener Jugendjahre wirklich zu schätzen. Auch Delia und Dusty, zwei junge Mädchen im späten Teenager-Alter, reflektieren in Jenny Gages Dokumentarfilm All This Panic eingangs über ihre zukünftigen Gefühle zur Schulzeit. Nochmal alles erleben, nur manche Dinge anders machen, sinniert Delia. Authentische Einblicke, die wohl die meisten Zuschauer zur Identifikation einladen, liefert Gage mit ihrem Debütfilm. Drei Jahre lang begleitete sie dafür eine Gruppe junger Mädchen in New York, während sie Entscheidungen über ihre (akademische) Zukunft treffen – und was am ersten Schultag getragen werden soll.

“There’s all this panic (…) and freaking out”, amüsiert sich Delia über ihre Mitschülerinnen, die online verschiedene Outfits durch die Gruppe senden. Gage gelingt es auf faszinierende Weise unglaublich nah an die Mädchen zu kommen, selbst wenn wir nicht so viel über sie erfahren, wie wir womöglich denken oder wissen wollen. Im Zentrum stehen statt Delia und Dusty hierbei eher Dustys ältere Schwester Ginger sowie deren beste Freundin Lena. Beide führen eine turbulente Freundschaft, gefühlt immer am Streiten, wie eine dritte Freundin an einer Stelle bemerkt. Gage hält selbst zwei solche Streitszenen mit der Kamera fest, die sich letztlich um eine Nacht drehen, in der Lena Gingers Eltern anrief, als diese auf einer Party zu viel trank.

Kein allzu großes Problem eigentlich, da die Eltern von Dusty und Ginger unwahrscheinlich liberal sind. Ginger fühlt sich dennoch verraten, während Lena aus Sorge um die Freundin handelte, die sich übergeben musste. “Everyone vomits”, findet Ginger. Es sei schließlich eine Party. “Not everyone vomits”, erklärt da Lena und blickt zugleich passend in die Kamera. Einer von vielen amüsanten Momenten, von denen All This Panic einige beherbergt, genauso wie emotional berührende Szenen. Die Mädchen geben Gage und ihrem Kameramann sowie Ehegatten Tom Betterton teils intime Einblicke in Sexualleben und Ängste und Sorgen – allerdings alles dennoch weitestgehend an der Oberfläche gehalten, ohne dabei zu invasiv zu geraten.

Beispielsweise wenn Lena eine Party schmeißt, um ihrem Schwarm nahe zu kommen, ihren ersten Kuss dann aber doch mit einem anderen Jungen erlebt. “It just was one of those things where you expect something to be amazing and perfect and it’s not”, sagt sie im Nachhinein etwas bedröppelt. Ihre Freundin Olivia wiederum hat selbst Jungsprobleme, bis sie realisiert, dass sie homosexuell ist. Während dem Surfen und im Schneegestöber der Frühlingsferienzeit berichtet sie Gage von ihrer sexuellen Selbstfindung. Und dass sie sich noch nicht gegenüber ihren Eltern outen möchte. “It feels too personal”, sagt die junge Frau, die sich damit aber gleichzeitig Gage und Betterton anvertraut. Und mit ihnen dem anonymen Zuschauer.

Jene zwiespältige Beziehung zu den Eltern zeigt sich auch bei den übrigen Mädchen. So stöhnt die 18-jährige Sage über ihre Haushaltspflichten (“so many chores”) und ihre Sperrstunde um Mitternacht, während ihre Freundin Ivy tun und lassen kann, wie ihr beliebt. Lenas geschiedene Eltern wiederum weisen beide psychische Probleme auf, das Jugendamt wurde bereits vorstellig mit dem Vorwurf, Lena und ihr Bruder würden vernachlässigt. Liberal geben sich Gingers Eltern – aus eigener Erfahrung. Er wurde öfter geschlagen, als gut war, und ihm nicht oft genug gesagt, dass man ihn liebe, erklärt Gingers Vater Kevin ihr. Und klagt zugleich über das Verhältnis zur Tochter, das seit sechs Jahren nur aus Streitgesprächen bestünde.

Als sie noch klein war, seien sie beste Freunde gewesen. “I want some fun time with you”, sagt der Vater zur Tochter, die sich eine Träne aus den Augen wischt. Früher, in jüngeren Jahren, war das Leben mit den Eltern für alle der Mädchen leichter. Als Sages Vater noch lebte, mit dem sie ihre politischen Ideale teilte. Damals, als Lena mit ihren Eltern gemeinsam Avatar schaute, als Olivia noch nicht ihre sexuelle Orientierung finden musste. Für Lenas Geburtstagsfeier lässt ihre Mutter die Mädchen Sekt trinken und darf sich kurz darauf eine Standpauke vom Jugendamt anhören. Dabei würden die Jugendlichen ohnehin Alkohol trinken, wie wir sie dabei in All This Panic neben ihrem mehrmaligen Konsum von Marihuana beobachten.

Die Mädchen sehen sich zwischen der Sorgenlosigkeit der Kindheit und dem steigenden Verantwortungsbewusstsein als junge Erwachsene. “People wanna see you but they don’t want to hear what you have to say”, meint Sage. Sie stammt aus der Mittelklasse, besuchte eine hauptsächlich von Weißen besuchte Privatschule und beginnt, sich mit ihrer eigenen Hautfarbe verstärkt auseinanderzusetzen. Wer bin ich – und wo will ich hin? Das ist eine der zentralen Fragen der Jugendlichen, die auch in All This Panic die Protagonistinnen beschäftigt. Während ihre Freunde wie Lena den Schritt zum College machen, bleibt Ginger zurück und strebt eher eine Karriere als Schauspielerin an. Ist jedoch nicht ganz glücklich mit der Entscheidung.

“People assume you’re stupid if you don’t go”, sagt sie. Auch Dusty weiß von den Eltern aus ihrem Freundeskreis, welche Bedeutung diese einem Hochschulabschluss beimessen: “If you don’t go to college you’re totally fucked.” Statt sich wie und mit Lena also akademisch weiterzubilden, lässt sich Ginger eher mit ihrer ehemaligen Mitschülerin Ivy lose durchs (Nacht-)Leben treiben. “This is, like, my launch point”, artikuliert sich später Ivy. “This is, like, where I’m, like, building the rocket.” Auch Ginger hat sich noch nicht selbst gefunden. “I don’t think I’m fully formed”, räumt sie ein. Sie hat im Gegensatz zu Lena, Olivia und Sage noch nicht den nächsten Schritt gemacht. “Stuck this year”, resümiert Dusty die Gefühlswelt der Schwester.

Was wirklich in Ginger vorgeht, vermag jedoch auch der intime Einblick von Gage und Betterton nicht zu vermitteln. Wie erlebt sie ihren Alltag, treibt sie ihre Schauspielkarriere voran? In einer Szene gesteht Lena, dass sie eine Phase des Cuttings durchlebte, ebenso wie Ginger. Die Hintergründe bleiben im Raum stehen, wie auch Aspekte wie Sages ethnische Identifikation hätten vertieft werden können oder auch die Wünsche und Träume von Ivy. Gefühle von „Frust“ – jedoch positiv konnotiert, da man sich als Zuschauer in dieser Welt der jungen Frauen verliert, genauso wie in ihren Persönlichkeiten. Allesamt unterschiedliche Charakter und doch allesamt unwahrscheinlich sympathisch, offenherzig, ehrlich und aufschlussreich philosophisch.

Dies verdankt sich dem beeindruckenden Zugang von Gage zu den Mädchen und ihrer Umwelt, der diese ungemein authentischen Momente einfangen kann. “Things happen to you and you just say yes to them”, beschreibt Olivia einmal Lena. “I feel that means you’re going to be in some really cool place.” Das, gesteht Lena, sei einer der nettesten Dinge, die ihr je gesagt wurden. Ähnlich wie der Up-Reihe von Michael Apted, jedoch stark verkürzt, sieht das Publikum den Mädchen beim Erwachsenwerden zu. Wie Lena anfangs etwas verschroben mit Kurzhaarfrisur und Zahnspange sich zur langhaarige selbstbewussten Abenteurerin entwickelt. Und auch ihre Freundinnen wie Ginger und Sage einen merkbaren Wandel durchmachen.

Zwar hätte Jenny Gage an manchen Stellen vielleicht nachhaken können oder auch herzliche Nebenfiguren wie Delia mehr betonen, genauso wie Tom Bettertons Kamera mitunter zu sehr buchstäblich den Fokus verliert, wenn die Bilder ins Unscharfe abgleiten. Womöglich findet sich hier eine bildliche Metapher für die noch nicht ganz klaren Persönlichkeiten der Mädchen. All This Panic jedenfalls liefert einen wunderbaren Einblick in das Leben von Jugendlichen in ihrer Selbstfindungsphase zwischen Schule, Sex und Erwachsenwerden. “I’m petrified of getting old”, meint Ginger eingangs noch. “I think that’s the scariest thing in the world.” So wie sie den Film verlässt, hat sie am Ende vielleicht doch etwas dieser Angst verloren.

7/10

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