15. Dezember 2011

Le quattro volte [Vier Leben]

„Du bist Erde und sollst zu Erde werden“
(1. Mose, 3,19)


Der Mensch ist ein Teil seiner Umwelt, darauf machte ihn bereits Gott aufmerksam, als er ihm beim Sündenfall erklärte: „Du bist Erde und sollst zu Erde werden“ (1. Mose, 3,19). Aus dem Ackerboden hatte Gott den Menschen erschaffen, zu Ackerboden würde er nach seinem Ableben wieder werden. Ein Kreislauf des Lebens, wie ihn auch Pythagoras sah. Dessen Lehre von der Seelenwanderung folgend inszenierte Michelangelo Frammartino seinen Film Le quattro volte, der dem Titel gemäß von vier Lebensbereichen berichtet: Mensch, Tier, Pflanze und Mineral. Zwischen heidnischen Traditionen und christlichem Glauben fasziniert das Leben dabei in all seinen Facetten.

Hierfür ging Frammartino ins italienische Kalabrien, Heimat von Hirten und Köhlern. Dort wird seit Jahrhunderten Holzkohle im langsamen Prozess in der gleichen Art und Weise von Hand hergestellt. Zu Beginn des Films zeigt die Kamera eine Lieferung von Holzkohle an die Dorfbevölkerung. Zum Schluss sehen wir, wie diese Holzkohle von den Köhlern produziert wird. Zuerst wird aus Holzstämmen ein Schacht gebaut, anschließend um diesen ein Holzwall errichtet. Bedeckt wird erst mit Stroh, dann mit Erde. Am Ende steht ein imposantes Konstrukt, das in Entstehung wie resultierender Produktion zeigt, wie sich Form und Materie verändern. Ein durchgängiges Motiv des Films.

In vier Episoden teilt sich Le quattro volte auf, nahtlos ineinanderfließend. Das zentrale Segment ist das erste, das den Alltag eines alten Ziegenhirten zeigt. Gebrechlich schleppt er sich über schmale Waldpfade, um abends hustend in einem kargen Zimmer zur nächtlichen Ruhe zu finden. Sein einziger sozialer Kontakt scheint die Putzkraft in der örtlichen Kirche zu sein, die ihm gegen eine Flasche Ziegenmilch etwas vom zusammengekehrten Staub des Kirchenbodens überlässt. Der Hirte trinkt das – verdünnt –, im Glauben es habe therapeutische Eigenschaften. Als er den Staub eines Tages vergisst, eilt er des Nachts zur Kirche und klopft verzweifelt an der Pforte.

Kontrastiert wird die Figur des alternden Hirten mit der Geburt eines Zickleins. Tod mündet wieder in Leben. Ähnlich wie der Hirte zuvor ist das Zicklein zwar Teil einer Gemeinschaft, aber dennoch ein Außenseiter. Gilt es in einer Szene, sich gegen die Artgenossen zu behaupten, folgt ihr danach eine dramatische Entwicklung. Beim ersten Ausgang mit der Herde fällt das Zicklein in einem Waldgraben zurück und avanciert aus biblischer Sicht somit zum verlorenen Schaf. So verzweifelt wie der Hirte zuvor an dem Kirchengemäuer geklopft hat, blökt das Zicklein um Hilfe. Zuflucht bietet ihm später erst eine große imposante Tanne des kalabrischen Gebirges.

Überhaupt fallen die Naturaufnahmen von Frammartino nicht minder beeindruckend aus als das narrative Gerüst seines Films. In ruhigen, langen Einstellungen porträtiert er Kalabrien, dabei immer wieder auch das Normannenkastell in der Provinz Vibo Valentia aus der Ferne einfangend. Wie aus einer anderen, bisweilen bereits verblichenen Zeit mutet die Szenerie oft an. Egal ob Vibo Valentia, das Städtchen Caulonia oder das Dorf Alessandria del Carretto – der rustikale Charme von Kalabrien findet sich in allen wieder. Nahezu meditativ geraten die dialogfreien Bilder von Kameramann Andrea Locatelli, die selten von Paolo Benvenutis Musik untermalt werden.

Jene Tanne, unter der das Zicklein dann Zuflucht gesucht hat, repräsentiert den vegetativen Bereich. Im Zuge der Festa della Pita, einer von den Langobarden stammenden heidnischen Tradition des Dorfes Alessandria del Carretto, wird die Tanne gefällt. Gemeinsam tragen die Bewohner den Baum, wieder Teil einer Gemeinschaft und doch allein, nachdem sie ihn entästet haben ins Dorf. Dort wird er aufgestellt und dient der Festprozedur. Hat die Tanne ihren Zweck erfüllt, wird sie zerkleinert und den Köhlern übergeben. Der Kreislauf schließt sich, wenn aus jener Tanne Holzkohle gewonnen wird, die den Bewohnern des Dorfes des Hirten zum Feuermachen dient.

Ein besonderes Augenmerk richtet Le quattro volte dabei auf Prozeduren und Traditionen. Sei es das jährliche Fest der Tannenbesteigung, der Glaube an die heilenden Kräfte des Kirchenstaubs oder ein Passionszug, der in einer Szene die Hütte des Hirten passiert und ein ungewöhnliches Ende findet, als der Hund des Hirten dazwischenfährt. Frammartino ist ein faszinierender Einblick in die kalabrische Kultur gelungen, mit harmonisch abgestimmten Bildern voll nachhaltiger Poesie. Was teilweise wie eine essayistische Dokumentation anmutet, ist vielmehr ein schweigsamer Spielfilm mit pythagoreischen Anklängen. Und einer der schönsten Filme des Jahres.

8/10

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