In einer Sporthalle steigt Herbert Liedtke auf einen Turnbock, klemmt die Füße unter den darauf angebrachten Holmen und lässt sich zurückfallen. Es sind Bilder, bei denen man Angst bekommt, ist Liedtke doch ein 93-jähriger Schwede und man befürchtet, er könnte sich mit seinem faltigen Körper auf der Stelle alle Knochen brechen. Kein Gedanke von ungefähr. „Wir wussten nicht, wer am Ende noch lebt“, gesteht Regisseur Jan Tenhaven als er das Konzept für seinen Dokumentarfilm Herbstgold erklärt. Über ein Jahr hat der deutsche Filmemacher acht rüstige Senioren-Sportler begleitet, von denen es fünf in seinen Film geschafft haben. Alle acht haben die Dreharbeiten überlebt, dennoch war für alle in dem über neunzig Minuten langen Film kein Platz. Es ist eine illustre kleine Gruppe, die Herbstgold präsentiert, und die einem später fast wie die eigenen Großeltern ans Herz gewachsen ist. Vom humorvollen Liedtke über die Deutsche Ilse Pleuger (85) bis hin zum Tschechen Jiři Soukup (82).
Komplettiert werden sie vom Österreicher Alfred Proksch (100) und der Italienerin Gabre Gabric (95). Beide traten 1936 zu den Olympischen Spielen in Berlin an. Gabric wurde damals Zehnte im Diskuswerfen, Proksch, in den 1930ern einer der erfolgreichsten Stabhochspringer Europas, belegte den sechsten Platz. Was alle eint ist ihre Liebe zum Sport und ihr sportlicher Ehrgeiz. Egal ob Liedtke, Gabric oder Proksch - sie alle präsentieren stolz ihre Medaillen, blicken nostalgisch auf ehemalige Wettkämpfe und Gegner zurück. „Auch ältere Menschen wollen sich vergleichen“, weiß Sportwissenschaftler Achim Conzelmann von der Universität Bern. Für die fünf Senioren ist der Sport zum Alltag geworden, der sie am Leben erhält. „Ich glaube, wenn ich jetzt Schluss mache, dann sterb’ ich in einem Monat“, sinniert Liedtke in Anbetracht des Todes seiner Frau Eva. Dann wandert sein Blick hinter die Kamera und ein Lächeln stiehlt sich in sein Gesicht: „Aber ich will euch überleben“.
„Dieser positive Trotz hat mich fasziniert: Einfach weitermachen“, erklärt Tenhaven seine Motivation für jenen Film, auf dessen Thematik er per Zufall gestoßen war. Jene Lebenslust einer Gruppe von Menschen - Gabric erzählt in einer Szene, das jedes Jahr bis zu 5.000 Senioren an den Meisterschaften teilnehmen -, die nicht nur Tenhaven und Conzelmann, sondern auch den Zuschauer beeindrucken. Dabei ist Herbstgold nicht so sehr ein Sportfilm, auch wenn die vielen Trainingsszenen, speziell von Soukup, dies vielleicht implizieren mögen. „Es war mir wichtig, dass sie auch eine Geschichte abseits des Sportplatzes haben“, so der Regisseur. Sein Film ist somit weniger ein Film über fünf Sportler, als einer über fünf Menschen, die dem Tod trotzen und vor Lebenslust sprühen. So erzählt Jiřis Frau, dass sie keinen Mann haben wolle, der nur weil er Rentner ist, den ganzen Tag auf dem Sofa sitzt. Auch wenn sie sich jedes Mal Sorgen macht, dass Jiři sich verletzen könnte, wenn er stets seine Höchstleistungen im Training abruft.
Und in der Tat sieht ihn die Kamera mehrfach straucheln, wie er seine Hochsprungübungen tätigt. Alfred Proksch, gelernter Grafiker und inzwischen passionierter Aktmaler, stürzt ebenfalls zwei Mal, mit dem dritten Sturz als Damokles-Schwert, müsste der 100-Jährige doch dann seine Wohnung aufgeben. Ein künstliches Kniegelenk später ist dieses Problem behoben und auch wenn er Gleichgewichtsstörungen hat, lässt es sich der Wiener später nicht nehmen, mit dem Rollator in die Arena zu rollen und außer jeder Konkurrenz (er ist der einzige Hundertjährige, der bei der Weltmeisterschaft im finnischen Lahti teilnimmt) zum Diskuswurf anzutreten. Die anderen haben es da schon leichter Auch wenn Pleuger bedauert, dass ihre ganzen alten Kontrahentinnen inzwischen verstorben sind („Der Kreis wird immer kleiner“) und Gabric in Ehrfurcht erstarrt vor ihrer Diskus-Konkurrentin Olga, einer russische Kanadierin, die aus dem Nichts auftauchte und angeblich Riesenweiten wirft.
„Ich habe gerne mit dieser Leni-Riefenstahl-Optik gespielt“, gesteht Tenhaven bezüglich seiner Aufnahmen während der Weltmeisterschaft. Diese sind nah dran an den Sportlern, doch statt gestählten Muskeln gibt es hängende Hautlappen, magere Beinchen und graue Haare. In Zeitlupe dürfen hier Jiři springen und die anderen werfen, während Herbert alles gibt, um mit dem strammen Italiener neben sich im Sprint mitzuhalten. Wieder dieses Bangen, dass der über Neunzigjährige stolpern und sich alle Knochen brechen könnte. Am Ende wird er Zweiter - besser könne er nicht, keucht er. Und doch ist er ein Gewinner, wie auch die anderen von ihnen. Wie Gabre Gabric, die 95-Jährige, die 15 Jahre jünger aussieht als ihre fünf Jahre jüngere Konkurrentin Olga. Weit weniger beeindruckend als die sportliche Leistung dieser Truppe ist für Achim Conzelmann ihre geistige Fitness, ihre Selbstständigkeit im hohen Alter. Mit Herbstgold ist Jan Tenhaven ein außergewöhnlicher, ja, außerordentlicher Film gelungen.
9/10
,,Über ein Jahr hat der deutsche Filmemacher acht rüstige Senioren-Sportler begleitet, von denen es fünf in seinen Film geschafft haben."
AntwortenLöschenhaha, wenn du den nächsten Satz nicht geschrieben hättest ^^
Hört sich irgendwie interessant an, aber auch irgendwie ziemlich nichts für mich. Und scheint auch ziemlich untergegangen zu sein, jedenfalls hab ich nie davon gehört.
Derartige (deutsche) Dokus gehen leicht an einem vorbei, ich hatte von der Kinoauswertung vor ein paar Wochen auch nichts mitbekommen und ihn nun zufällig auf einem Festival gesehen.
AntwortenLöschenGerade gesehen. Überaus unterhaltsam, wenn auch gegen Ende etwas langatmig. Die Rüstigkeit der "alten Säcke" ist schon durchaus bewundernswert. Man könnte sich nur wünschen, dass mehr Menschen eine derartige Zielstrebigkeit besäßen. Und ich bezweifle, in diesem Alter ähnliche körperliche Agilität besitzen zu werden.
AntwortenLöschenDanke für den TV-Tipp. Den werde ich meinen Eltern brennen ;)
Den Film zum Jahressieger zu küren, find ich allerdings etwas überzogen. Aber wir kennen ja unsere Geschmacksunterschiede mittlerweile sehr gut ...
Ja, die kennen wir :)
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