Es war der erste deutsche Roman, der den ersten Platz der New York Times Bestseller Liste erklomm. Die Krönung war schließlich vier Jahre nach seinem Erscheinen die Aufnahme in Oprah Winfreys Buchclub. Spätestens jetzt war Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser auch in den Vereinigten Staaten von Amerika in aller Munde. Schlink, gelernter Jurist, lieferte – so die Meinung vieler – den Roman zur deutschen Vergangenheitsbewältigung schlechthin. Dabei ist seine Geschichte über eine verhinderte Romanze ebenso Coming of Age Drama wie Auseinandersetzung mit dem ekligen Thema Holocaust.
In der Ich-Form wird chronologisch in drei Teilen die Geschichte des Berliner Jugendlichen Michael Berg erzählt. An Gelbfieber erkrankt, hilft ihm eines Tages eine freundliche Frau nach Hause. Als er sich nach seiner Genesung bei dieser Frau, mit Namen Hanna Schmitz ,bedanken will, beginnt eine Affäre zwischen der 36-Jährigen und dem 21 Jahre jüngeren Schüler. Hanna gibt die Unnahbare und benutzt ohne Frage den jungen Michael zu ihren Zwecken. Dieser kommt nicht umhin sich kopflos in die Straßenbahnschaffnerin zu verlieben. Durch die Beziehung zu der älteren Frau beginnt Michael jedoch zu reifen. Bevor sie ihr Liebesspiel beginnen, verlangt Hanna von dem Schüler, dass er ihr aus seinen Schulbüchern vorliest, sei es Lessings Emilia Galotti oder Homer. Wider Erwarten besteht er das Schuljahr und gewinnt an Selbstvertrauen und Anerkennung innerhalb der Schule.
Schließlich verschwindet Hanna und der Leser wird nie erfahren, aus welchem Grund dies exakt der Fall war. Mit dieser Aktion schließt Schlink das erste Drittel, welches ausschließlich mit der Affäre zwischen diesen zwei Generationen beschäftigt war. Es folgt ein Zeitsprung von acht Jahren und Michael studiert inzwischen Jura. Wir schreiben die Zeit der Kriegsverbrecher-Tribunale und Michael besucht mit seinem Seminar, das bezeichnenderweise von den übrigen Kommilitonen KZ-Seminar genannt wird, einen Prozess gegen sechs Frauen. Diesen Frauen wird vorgeworfen, am mehrfachen Mord zahlreicher in Konzentrationslager inhaftierter Juden beteiligt gewesen zu sein. Unter ihnen, so erfährt Michael im Gericht, befindet sich auch Hanna Schmitz.
„Mein Vater wollte nicht über sich reden. (…) Wie kam ich dazu, ihn zu Scham zu verurteilen? Aber ich tat es. Wir alle verurteilten unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur anklagen konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet zu haben.“ (Auszug aus S. 88, Der Vorleser)
Die zweite Hälfte des Romans beschäftigt sich mit Michaels Gefühlen bezüglich Hannas Taten und der generellen Frage, inwieweit die so genannte „zweite Generation“ mit der Kollektivschuld bezüglich des Holocaust klarkommt. Schlinks Roman ist speziell zu Beginn relativ simpel gefasst in seiner Sprachform und scheint gemeinsam mit Michaels Entwicklung zu wachsen. Während der Gerichtsverhandlung nehmen Schlinks Sätze formalere Gestalt an, wirken geschliffener, sowohl im Satzbau als auch in ihren Formulierungen. Durch die Tatsache, dass es sich bei Der Vorleser um eine Erzählung in der Ich-Form handelt, ist die Sicht der Dinge stets subjektiv. Der Leser erfährt wenig über Hanna und ihre Gefühlswelt, gerade im ersten Teil der Geschichte. Was treibt sie zu einem Jungen, der ihr Sohn sein könnte und wieso reagiert sie stets so abweisend? Diese Antworten erfährt der Leser nicht, da auch Michael sie nicht erfährt. „Der Sommer war der Gleitflug unserer Liebe. Oder vielmehr meiner Liebe zu Hanna; über ihre Liebe zu mir weiß ich nichts“, legt Schlink seinem Protagonisten auf Seite 67 seines Romanes in den Mund.
Im Verlauf der restlichen Geschichte baut Schlink seine Klimax auf. Jenes „dunkle“ Geheimnis, welches Michael und Hanna teilen werden und das den Ausgang der Handlung bestimmen soll. Die große Auflösung ist weit weniger spektakulär als man sich denken mag, im Gegenteil sogar sehr früh absehbar. Schlink macht glücklicherweise auch kein großes Aufheben um diese Auflösung und fokussiert sich vielmehr auf Michaels Innenleben. Heraus kommen viele Denkansätze über die damalige Zeit und insbesondere die „zweite Generation“. Unter anderem schreibt der Autor: „Wir sollen nicht meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist (…)“ (S. 99). Letztlich versäumt der Autor es jedoch, seinen Helden eine klare Stellung einnehmen zu lassen. Die gewichtigste Entscheidung im Roman wird nicht begründet, vielmehr auf zwei Seiten übergangen. Vieles bleibt offen in einem Roman, der gut ist, dem ich selbst jedoch nicht die Bedeutung zumessen würde, die ihm (zumindest jenseits des Atlantik) zugeschrieben wird.
The Reader (2007)
What would you have done?
Man ahnt es schon. Schlinks Vorleser ist so ein epochenübergreifender Roman, den Hollywood-Filmemacher am liebsten von hinten aufrollen. In der Gegenwart. Und dann zurückblickend Die Aufblende offenbart es: Berlin, Germany 1995. Regisseur Stephen Daldry und Autor David Hare kamen nicht umhin, auch The Reader mit dieser klischeehaften Eröffnung einzuleiten. Aufgrund einer Abänderung zu Schlinks Buch folgt hier im Grunde die erste Inkonsequenz. Dem Publikum wird kein ersichtlicher Grund offenbart, wieso sich Michael Berg (Ralph Fiennes) an diesem Tag in diesem Jahr urplötzlich mit seiner Vergangenheit als Teenager auseinander setzen sollte. Aber er tut es. Eine Straßenbahn fährt am Zimmer vorbei, nachdem Michael mit einer x-beliebigen Frau (Jeanette Hain) eine gemeinsame Nacht verbracht hat. In der Straßenbahn entdeckt Michael sich selbst, sprich sein jüngeres Pendant (David Kross). Jetzt, nachdem der Hollywood-Star eingeführt wurde, kann die eigentliche Geschichte beginnen.
Ein Jahr nach Veröffentlichung des Romans hatte sich Harvey Weinstein die Rechte gesichert. Er involvierte Anthony Minghella und Sydney Pollack in das Projekt und Minghella wollte das Drehbuch verfassen und Regie führen. Es kam jahrelang nie dazu, man vertraute das Projekt schließlich Stephen Daldry an und Minghella und Pollack wollten produzieren. Daldry bot die Rolle der Hanna Schmitz Kate Winslet an, die aufgrund ihres Alters und daraus resultierenden Zweifeln ablehnte. Stattdessen wurde Daldrys The Hours-Muse Nicole Kidman engagiert, die jedoch aufgrund ihrer Schwangerschaft ebenfalls absagte. Inzwischen war Kate Winslet älter geworden und Minghella und Pollack Krebsleiden zum Opfer gefallen. Daldry, der selbst in der Schule Deutsch gelernt und einige Jahre in Berlin verbracht hat, wollte den Film unbedingt in Deutschland mit deutschen Schauspielern inszenieren. Im Nachhinein war dies keine gute Idee.
Vorab sei gesagt, dass Hare ähnlich wie schon bei The Hours eine ziemlich minutiöse Adaption eines Romans abliefert. Die ersten zehn Minuten des Filmes sind dabei fast derart steif nach der Vorlage abgefilmt, dass ihnen jegliches Eigenleben abzugehen scheint. Abgesehen von den zeitlichen Sprüngen – die narrativ keinen Sinn ergeben – bleiben Hare und Daldry der Vorlage ausgesprochen treu. Zumindest in weiten Teilen. Aufgrund von geschnittenen Szenen (so zumindest meine Mutmaßung) ergeben sich jedoch das eine oder andere Mal in der Kinoversion Unstimmigkeiten. Besonders merkt man dies daran, dass einige Figuren in ihrer Etablierung vollkommen unnötig sind, beispielsweise Sophie (Vijnessa Ferkic), die in der Filmversion nur im Ansatz auftaucht oder insbesondere Marthe (Karoline Herfurth), eine spätere Studienkommilitonin von Michael, deren Auftauchen im Film nicht den geringsten Zweck erfüllt.
Andere deutsche Darsteller variieren ebenfalls in ihrer Aussprache. Von klar (Alexandra Maria Lara, Bruno Ganz) bis hin zu stotternd (Fabian Busch). Es wäre hier weitaus empfehlenswerter gewesen entweder einen Film mit reiner deutscher Besetzung (warum nicht mit der Standardbesetzung Martina Gedeck/Moritz Bleibtreu?) zu drehen oder auf Darsteller zurückzugreifen, die zumindest demselben Sprachpool entstammen. Seinen Höhepunkt erreicht diese Farce immer dann, wenn die Statisten im Hintergrund deutsche Ausrufe beisteuern, während den restlichen Film hindurch Englisch gesprochen wird. Bedauernswert auch, dass eine gestandene Schauspielerin wie Kate Winslet derartige Probleme mit ihrem Sprachlehrer hat, wenn es Cate Blanchett in The Good German mit Leichtigkeit gelang einen deutschen Akzent zu erlernen. Im Gegensatz zu meinen sonstigen Empfehlungen kann ich daher nur schwer nahelegen, The Reader in seiner deutschen Synchronisation zu sichten, da hier dieser sprachliche Fauxpas umschifft wird.
Um beim Thema zu bleiben: die darstellerische Leistung ist ein anderes Problem des Filmes. Sowohl Kate Winslet als auch Ralph Fiennes haben zu Beginn ihre Probleme. Fiennes kämpft mit der geringen Leinwandpräsenz, Winslet mit den amourösen Elementen. Ihre Interpretation von Hanna ist ausgesprochen mürrisch und kalt. Kaum auszudenken, wie sich jemand in diese Frau verlieben sollte. Erst mit den Gerichtszenen beginnt die Britin aufzuspielen und zu zeigen, welch Talent in ihr steckt. Die letzte halbe Stunde des Filmes gehört dann ausschließlich Fiennes und dieser weiß sie mühelos zu schultern. Sein Spiel beeindruckt und macht gemeinsam mit Winslets Spiel eines der Hauptärgernisse beinahe vergessen. Die Besetzung von David Kross als junger Michael Berg ist neben dem Akzentkuddelmuddel einer der großen Störfaktoren. Man mag es Kross zu Gute halten, dass The Reader zum einen erst sein dritter Kinofilm und zum anderen der erste internationale ist (und Sexszenen mit Kate Winslet beinhaltet). Nichtsdestotrotz ist sein weinerliches Spiel auf die Dauer lästig, speziell wenn er im Gegensatz zu seiner Figur nicht vermag seine Naivität und Unschuld abzulegen.
Die anderen deutschen Darsteller agieren zufriedenstellend, wenn auch teilweise (z.B. Herfurth) in Rollen, derer es nicht gebraucht hätte. Aus dem Raster fällt lediglich Alexandra Maria Lara, die unter Beweis stellt, dass ihr Talent für anspruchslose Til Schweiger Komödien wie Wo ist Fred? auszureichen vermag, internationalen Ansprüchen (s. Youth Without Youth) allerdings nicht gerecht wird. Erfreulich ist hingegen die Leistung von Hannah Herzsprung als Ralph Fiennes Tochter. So ist unter dem Strich gesehen The Reader wohl vormerklich ein deutscher Film geworden, der dennoch undeutscher nicht sein könnte. Daldry und Hare beweisen wie bereits bei The Hours ein gutes Gespür für ihre Romanadaption und Einstellungen, die sehr ansehnlich von Chris Menges und Roger Deakins eingefangen wurden. Auch die musikalische Untermalung von Nico Muhly weiß zu gefallen.
Ein weiteres Problem des Filmes ist die Erzählung aus der Dritten Person. Hare hat sein Skript speziell so gefasst, da er Erzählstimmen als langweilig empfindet, doch schadet diese Erzählstruktur dem Film ungemein. Es ist Michaels Geschichte und sie lebt von seinem Innenleben, seinem Konflikt, seinen Gefühlen. Hares Drehbuch weiß diese Aspekte nicht genug herauszuarbeiten und Kross schon gar nicht zu portraitieren. Dadurch gehen einige gewichtige Momente von Schlinks Geschichte verloren. Hierzu gehört auch die Frage der Kollektivschuld und Vergangenheitsbewältigung. „Was hätten Sie getan an meiner Stelle?“, fragt Hanna im Roman wie im Film den Richter ihres Prozesses. Während Schlink die Frage in seinem Buch weiterspinnt, greift sie Daldry nicht weiter auf, verwendet sie lediglich als kurzes Spannungselement. Die Frage ist entscheiden, gerade für die „zweite Generation“ und für die Vergangenheitsbewältigung. Zugleich ist es eine Frage, die keine universelle Antwort hat, sondern die jeder für sich selbst beantworten muss. Wenn dies überhaupt möglich ist.
Mit The Reader haben Daldry und Hare wieder bewiesen, dass sie im Stande sind große Romane entsprechend auf der Leinwand umzusetzen. Wie in den meisten Romanadaptionen wird aufgrund einer gefälligeren Struktur und des Spannungsaufbaus auf einige wichtige Aspekte nicht eingegangen, die im Falle von The Reader zwar nicht allzu schwer ins Gewicht fallen, hinsichtlich des über-Themas ebenjener Vergangenheitsbewältigung jedoch begrüßenswert gewesen wären. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten und abgesehen von der Besetzung David Kross’ schickt sich The Reader an exzellentes Darstellerkino zu werden, das gerade nach hinten heraus durch Winslet und Fiennes zu begeistern weiß. Dabei wäre es für den Film sehr von Vorteil gewesen, wenn man auf die deutschen Darsteller verzichtet hätte und stattdessen mit einem rein britischen oder zumindest synchronen Ensemble Schlinks Geschichte umgesetzt hätte. So ist der Film weit von einer perfekten Umsetzung entfernt aber in seiner Summe eine ansehnliche und letztlich gelungene Interpretation geworden.
6/10 - in anderer Form erschienen beim MANIFEST
ihre Interpretation von Hanna ist ausgesprochen mürrisch und kalt.
AntwortenLöschenFindest du? Ich muss sagen, dass es mir umgekehrt erging. Mir war Winslet in dieser ersten Hälfte in einigen Szenen zu weich, und zu warm. Sicher, sie versucht immer wieder in einigen Momenten eine Härte auf die Leinwand zu projizieren, die ihrer Roman-Vorlage angemessen ist. Doch gelingt das nicht immer. Nicht zu letzt deshalb, weil Daldry seine Hanna auch an Stellen weinen lässt, wo der Roman keine Tränen vorsieht.
Es ist Michaels Geschichte und sie lebt von seinem Innenleben, seinem Konflikt, seinen Gefühlen. Hares Drehbuch weiß diese Aspekte nicht genug herauszuarbeiten
Very Right! Das meinte ich nämlich gestern auch. Der Film verschiebt imho den Fokus ganz massiv von Michael auf Hanna. Wo im Roman durch die Ich-Perspektive von Michael alles aus seiner Sicht erzählt wird, kehrt der Film dies gerade gegen Ende um und die Prioritäten verschieben sich.
Findest du? Ich muss sagen, dass es mir umgekehrt erging.
AntwortenLöschenFand ich wohl. :) Mir war sie zu brüsk, zu gefühlskalt, ich hatte da die Roman-Hanna als etwas vorsichtig, aber nicht so kühl in Erinnerung.
Och möp, ich erkenn nie die unwichtigen Figuren =/
AntwortenLöschenHab dem 5.5 gegeben, wollt aber nicht aufrunden ^^
Ich kann mich dieser Kritik nur teilweise anschließen. Zum einen der Aspekt der schon von C.H. erläutert wurde, dass Hanna zu sanft dargestellt wird stimmt( sie war sehr aufgeregt als sie den Job bekam; sehr untypisch für Hanna).
AntwortenLöschenWas ich mich frage, wieso redest du David Kross so schlecht und mit ihm den ganzen Film?
Seine englisch Schwierigkeiten konnte ich jetzt nicht Entdecken (allerdings kann ich auch nicht so gut Englisch). Ansonsten finde ich hat er die Situation des Michaels gut herübergebracht.
Deine "Rezension" ist dir ansonsten gut gelungen
@Dennis: Da David Kross in 2/3 des Filmes die Hauptrolle spielt und er mich zu keinem Zeitpunkt überzeugen konnte, leidet der Film, bzw. diese 2/3, unter seinem Spiel. Daher lobte ich ja auch das letzte Drittel, weil da nur noch Winslet und Fiennes auftreten.
AntwortenLöschenMeiner Meinung nach spielt David Kross Ralph Fiennes an die Wand. Kross zeigt zig verschiedene Gefühlsregungen, agiert glaubhaft, während Fiennes mit ein und demselben immer leicht angewiderten Blick durch den Film stapft. Sobald Kross verschwunden ist, verliert der Film, sowohl an Tempo als auch an Glaubwürdigkeit. Er ist dann nur noch glattgebügelt. Mich störte das deutsch-englische Durcheinander auch. Wir sind in "Neustadt", es steht z.b. "Schneiderei" auf Hannas Haus, aber er liest aus englischen Büchern. Warum? Mich hat das gestört.
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