27. Februar 2008

Vorlage vs. Film: Die Welle

The Wave (1981)

Im April 1967 nahm der amerikanische Geschichtslehrer Ron Jones im kalifornischen Palo Alto an der Cubberley High School mit seinen Schülern und Schülerinnen den Zweiten Weltkrieg durch. Das Thema warf bei manchen Schülern die altbekannte Frage auf: wie konnten die Deutschen während des Nationalsozialismus nicht gewusst haben, was geschah? Dass Juden transportiert und umgebracht wurden, alles ohne dass es die deutschen Bürger mitbekamen? Die amerikanische Jugendlichen konnten es nicht glauben und Jones selbst wusste keine Antwort auf ihre Frage. Aber er beschäftigte sich mit ihr und wollte, dass die Jugendlichen die Antwort selber rausfinden. Er initiierte ein Experiment, mit dem er in der folgenden Woche der Schülerschaft begegnete. Diese sollte gerade sitzen und sich diszipliniert verhalten, was sich auch in ihrem Auftreten gegenüber der Lehrkraft ausdrücken sollte. Was den Kindern wie ein Spiel erschien, machte ihnen scheinbar tatsächlich Spaß und so trieb Jones das Experiment noch weiter, er gab seiner Klasse Exklusivität, indem er sie The Third Wave nannte, versehen mit Mitgliedskarten und eigenem Salut. Das Gefühl von Disziplin und Gemeinschaft führte zu einer Stärkeentwicklung unter den Schülern, die neugeschaffene Freiheit nahm jedoch bald faschistische Züge an. Das ganze ging soweit, dass Jones das Experiment am fünften Tag abbrechen musste, jedoch nicht ohne der Schülerschaft die Antwort auf ihre Frage zu geben.

Diese Ereignisse von Palo Alto verarbeitete Jones selbst fünf Jahre später in dem Artikel The Third Wave, der 1972 erschien. Weitere neun Jahre später bildete der Artikel und die Geschehnisse die Grundlage für die Novelle The Wave des amerikanischen Autors Todd Strasser, welches er jedoch unter seinem Pseudonym Morton Rhue verfasste. In seiner Novelle gab er den Schülern und Schülerinnen mehr Gestalt, bzw. arbeitete manche von ihnen zu interessanten Charakteren mit eigenem Hintergrund heraus. Die grundlegende Story blieb dabei dieselbe. Der junge ambitionierte und bei der Schülerschaft beliebte Geschichtslehrer Ben Ross trifft beim Thema Nationalsozialismus auf die Frage der verleugneten Schuld der deutschen Bevölkerung. Ross stürzt sich in Bücher und entwickelt sein Experiment „The Wave“, dem zu Beginn die ganze Klasse begeistert folgt. Selbst der Außenseiter und introvertierte Robert macht mit, wird sogar nicht mehr von seinen Klassenkameraden wie Brad gehänselt. Die intelligenteste und beliebteste Schülerin Laurie, die mit dem Kapitän des Footballteams liiert ist, erzählt ihrer Mutter zu Hause begeistert von der Erfahrung, welche die Disziplin und das daraus resultierende Zusammengehörigkeitsgefühl in ihr ausgelöst hat. Am folgenden Tag konfrontiert Ross seine Klasse mit dem Namen ihrer Gruppe und dem dazugehörigen Salut (einer Geste, die dem Hitlergruss nachempfunden ist). Zudem erhalten alle Anwesenden eine Mitgliedskarte, drei der Schüler werden sogar als Spione abgestellt, die dafür sorgen sollen, dass die anderen auch den Regeln von The Wave folgen.

Aus den dreißig Schülern und Schülerinnen von Ross’ Klasse werden innerhalb weniger Tage an die dreihundert, sodass Jugendliche aus anderen Klassen ihren Unterricht schwänzen, um bei The Wave dabei sein zu können. Laurie schwant allmählich, dass die Exklusivität ihrer Mitschüler auch umschlagen kann, denn bald werden Nicht-Mitgliedern ausgestoßen und zum Teil auch bedroht. Doch ihre Äußerungen werden von ihrem Freund David und ihrer besten Freundin Amy nicht ernst genommen, beide werfen Laurie vor, dass sie lediglich eifersüchtig ist, da sie nun nicht mehr im Mittelpunkt steht. Laurie engagiert sich vermehrt bei ihrer Schülerzeitung und nach einem gewaltsamen Vorfall auf dem Schulhof laufen auch die Eltern allmählich Amok. Bens Frau Christy nötigt ihn dazu das Experiment abzubrechen, doch Ben hat sich fast schon an seinen Führer-Status gewöhnt, zudem will er das Projekt nicht abbrechen ohne den Kindern etwas dadurch mitzugeben. In der Schule spitzt sich die Lage derweil zu und manche der Schüler scheinen den Bezug zur Realität zu verlieren. Laurie und ihre Redaktionskollegen starten eine Offensive gegen The Wave mit der sie sich selbst jedoch nur noch mehr in Gefahr bringen. Nach einem Vorfall zwischen Laurie und David suchen beide Mr. Ross auf, der daraufhin für den nächsten Tag plant The Wave endgültig zu beenden – doch wie soll er dies machen und wie werden seine Schüler reagieren?

Rhues Buch ist interessant und spannend geschrieben, sehr viel lebhafter, da ausgefeilter, als Jones Artikel, der relativ pragmatisch und unpersönlich war. Dabei unterscheidet sich die Schülerschaft von damals nicht großartig von der heutigen, es gibt den gehänselten Außenseiter und die Pausenhof-Primuse, die Klassenclowns und die intelligenten Besserwisser. Rhue verleiht ihnen allen etwas Persönlichkeit, auch wenn diese nur vor amerikanischen Klischees triefen. Robert, der Außenseiter, hat sich selbst aufgegeben, da er glaubt niemals mit seinem erfolgreichen und beliebten Bruder aufschließen zu können. Amy, Lauries Freundin, ist neidisch auf deren Beziehung und gute Noten, fühlt sich in der Schatten und unterdrückt. David hingegen wäre gerne wichtiger, als er es momentan ist, als Kapitän eines Football-Teams, das nicht gewinnt. Die beiden Redaktionsmitglieder die nur Albernheiten im Kopf haben, alle Charaktere sind nach einem typisch amerikanischem Klischee gezeichnet, auch wenn dieses sich ohne Frage in vielen Regionen Amerikas, besonders den Mittelstaaten, zu bewahrheiten weiß. Das Experiment selbst ist interessant, fast noch interessanter ist jedoch, dass es sich gegen den Initiator selbst zu wenden scheint, der gefallen an seinem Status findet. Kritisch bleibt lediglich, dass niemand in der Klasse so kurz nach der Durchnehmung des Zweiten Weltkrieges die faschistischen Züge von The Wave bemerkt, aber vielleicht sind dies auch nur Begleiterscheinungen einer Bewegung.


Die Welle (2008)

Entweder du machst mit oder du gehst.

Deutsche Filme sind meistens Ware zweiter Klasse – Kamerastil und Bildmaterial wirkt wie aus einer Dokumentation und kann mit amerikanischen oder auch französischen Filmen selten mithalten, nicht zuletzt des Inhaltes wegen. Dass der deutsche Film einen so schweren Stand hat, wird auch dadurch markiert, dass die meisten Filme, wenn nicht gar alle, nicht nur einer sondern gleich verschiedener Filmförderungen bedürfen – eine wirklich unabhängige deutsche Filmindustrie gibt es also nicht, allerhöchstens wenn Herr Eichinger persönlich in die Schatullen greift um eine weitere armselige Videospieladaption zu verfilmen. Und wenn wir Deutschen mal annehmbare Filme drehen, sind das meist auch diejenigen, die von der amerikanischen Filmakademie für einen Fremdsprachen-Oscar vorgeschlagen werden. Zugleich sind es meistens jedoch auch die Filme, die sich mit dem Lieblingsthema der Deutschen auseinandersetzen, bzw. eigentlich dem einzigen Thema, dass sich unter der Marke „Deutsch“ tatsächlich verkaufen lässt: der Nationalsozialismus. Sei es Caroline Links Oscargewinner Nirgendwo in Afrika oder Oliver Hirschbiegels Der Untergang, Marc Rothemunds Sophie Scholl und all die anderen Filme, darunter auch Dennis Gansels Napola, wirklich gut wird ein Film nur dann, wenn er sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Und wenn das nicht geht, dann eben das geteilte Deutschland, das zweitliebste Kind der deutschen, erst letztes Jahr mit Das Leben der Anderen mit einem Oscar bedacht.

Irgendeine Stadt in Deutschland, relativ sauber und sozial gesichert. Der junge und enthusiastische Politikwissenschaft- und Sportlehrer Rainer Wenger (Jürgen Vogel) würde gerne bei der Projekt-Woche seines Marie-Curie-Gymnasiums den Schülern und Schülerinnen Anarchismus näher bringen, wird jedoch von einem älteren Kollegen ausgebootet und mit Autokratie abgespeist. Seine Klasse stellt dabei einen Querschnitt durch die heutige Schülerschaft dar, die populärste und zugleich meistverachtete Schülerin Karo (Jennifer Ulrich), ihr Freund und Wasserballkapitän Marco (Max Riemelt), Karos beste Freundin Lisa (Cristina Do Rego), der Außenseiter Tim (Frederick Lau), der Snob Jens, sowie die Möchtegerne Kevin, Bomber und Sinan (Elyas M’Barek). Zudem einige Punks, Klassenclowns, Ökos und was das Herz begehrt, Gruppengleichheit sozusagen. Mit Autokratie können sie jedoch recht wenig anfangen und die Herrschaft einer Minderheit über den Rest klingt in ihren Ohren wie Faschismus und der ist schließlich nicht mehr möglich. Gut, denkt sich Rainer, und präsentiert ihnen nach zehnminütiger Pause einen Crashkurs in liberaler Autokratie, was den Jugendlichen zu gefallen scheint. Am nächsten Tag reizt Rainer sein Experiment noch ein wenig aus, die Klasse bilde fortan eine Gemeinschaft, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, eine Einheit. Doch nur Mitglieder haben Zugang zu der Einheit, deren Name demokratisch mit „Die Welle“ bestimmt wird und wenige Stunden später bereits eine MySpace-Seite hat. In „Der Welle“ sind alle gleich, egal ob Außenseiter, Deutsch-Türke oder zweite Geige – doch während bei den einen die neugefundene Konformität auf Gefallen stößt, wollen andere der Begeisterung nicht folgen.

Der Artikel von Jones war nicht nur Vorlage für die Novelle von Morton Rhue, sondern wurde 1981 mit Bruce Davison in der Hauptrolle für das amerikanische Fernsehen inszeniert. Die Rechte an dem Stoff hatte Ron Jones jahrelang den Amerikaner für einen Kinofilm verwehrt, diese jedoch an den deutschen Produzenten Christian Becker nach jahrelanger Anfrage verkauft, der den Stoff wiederum mit seiner eigenen kleinen Clique inszeniert hat. Zusammen mit Regisseur Dennis Gansel und Autor Peter Thorwarth, sowie Produzentin Nina Maag war Becker gemeinsam auf der Filmhochschule in München gewesen, sodass man mal sehen kann, wozu Vitamin B nicht alles führt. Jones selbst scheint dabei begeistert von Gansels Film zu sein und auch die Macher selbst werden nicht müde sich selbst für ihre Leistung auf die Schulter zu klopfen, enttäuschend das hier ein gewisser natürlicher Sinnd für Selbstkritik nicht gegeben scheint. Man habe die Crème de la Crème der Jungschauspieler bekommen, heißt es da, doch einen Tom Schilling, eine Karoline Herfurth oder einen Kostja Ullman hat man nicht bekommen (oder zählen die nicht zur selben Elite wie eine Jennifer Ulrich?). Auch die Lobpreisung für die authentische Darstellung einer Schule macht relativ wenig Sinn, wenn man den Film in einer authentischen Schule filmt – ebenso kritisch ist die neutrale Darstellung der Stadt, in der jeder finanziell etabliert lebt, die meisten sogar im gehobenen Mittelstand. Angesetzt wird die Thematik dann auch noch explizit auf einem Gymnasium, sodass man sich fragt, ob die in Die Welle dargestellte Problematik nicht vielleicht verallgemeinert wird, bzw. eine neutrale Positionierung durch den freigestellten Ort gewissermaßen korrumpiert.

Von der Nationalsozialismus-Thematik bleibt in Gansels Film nicht mehr viel übrig, vielmehr beschäftigt sich der Film allein mit Faschismus, genauer gesagt mit der Möglichkeit des Ausbruches von faschistoiden Zügen. Rainers Schüler glauben nicht daran, dass Faschismus wieder massenhaft ausbreiten könnte und werden nach einer zehnminütigen Pause gleich eines besseren belehrt. Stramm stehen und reagieren, nicht zu viel nachdenken, sondern machen was einem gesagt wird. Als faschistisch durchschauen tut das keiner der Jugendlichen, obschon sie erst wenige Minuten zuvor darüber gesprochen haben. Und wirklich autokratisch, bzw. diktatorisch ist das auch nicht, denn Rainer lässt die Schülerschaft ganz liberal und demokratisch über alle möglichen Dinge abstimmen, während sich diese und ihre Aktionen verselbstständigen. Gansels Rainer hat sehr viel weniger mit Jones selbst oder den von Rhue dargestellten Ben Ross gemeinsam, da letztere die Zügel des Spiels selber in der Hand hatten und auch den Sog, welches es entwickelte am eigenen Leib spürten. Die Einbindung der Lehrerfigur in das ganze Geschehen wird daher im Film etwas unterschätzt, bzw. nicht entsprechend dargestellt. Hier geht die Transformation, bzw. das Eintreten des Integrationsgefühls zu schnell vonstatten. Schade eigentlich auch, dass zwar Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der Alten Dame im Film kurz angesprochen wird, da ihn die Theater AG inszeniert, auf die Parallelen der Handlungen geht der Gansel dann jedoch bedauerlicherweise nicht mehr ein, obschon hier Potenzial lag.

Sicherlich gestaltete sich die Umsetzung des Stoffes in Deutschland etwas schwerer, weshalb man die Wendung vom Nationalsozialismus weg und zum faschistisch-autokratischen System hin nachvollziehen kann. Wirklich abkaufen tut man dies den Jugendlichen im Film jedoch nicht, denen es finanziell an nichts zu mangeln scheint. Auch die Rolle des Lehrers wird etwas fahrlässig dargestellt und lediglich der erste Teil des Finales weiß die Kraft zu entwickeln, die der Handlung innewohnte und vom Trailer angedeutet wurde. Was sich Gansel und Thorwarth mit der Auflösung des Filmes versprochen haben, die gänzlich weg von der Grundlage der Geschichte – man erinnere sich, es ging darum dass die Jugendlichen eine Lektion lernen – abweicht und in das klischeebedingte Alltagsgeschehen abdriftet. Unterlegt wird der Film jugendgerecht mit all den kleinen Feinheiten – MySpace, Skype, Graffiti – die bei den heutigen Schülern und Schülerinnen aktuell sind, sodass aus der ehemaligen Schullektüre eine aktuelle Verfilmung stattfinden kann, was in Zeiten wo Kinder immer weniger bis gar nicht mehr lesen vielleicht auch nicht das Falsche ist. Die Darsteller wissen dabei in ihren Rollen zu überzeugen, auch wenn man sich einige Vertiefungen des Drehbuchs in die Geschichte gewünscht hätte. Die Welle ist nun irgendwie doch ein Film mit Nationalsozialistischer Thematik und doch auch irgendwie nicht. Zumindest ist es eine ansehnliche Verfilmung, die sich von der üblichen deutschen Kinozote eines Til Schweiger hervorhebt.

6/10 - erschienen bei Wicked-Vision

2 Kommentare:

  1. Hui, hast dir mal wieder viel Arbeit gemacht. Kompliment.

    Die Novelle hab ich damals in Englisch gelesen. Über die Qualität kann ich aber leider nichts mehr sagen. Interessante Thematik durchaus, aber ich glaube, so hat er mich nicht vom Hocker gerissen.

    Der deutsche Film zum Buch juckt mich allerdings mal so gar nicht.

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  2. Ausführliche Besprechung, Rudi! Ich bin spätestens seit dem Trailer neugierig auf den Film. Das Buch hab ich vor Ewigkeiten gelesen - hat mir damals gefallen. Vielleicht knöpfe ich es mir demnächst mal wieder vor.

    Die 80er-TV-Verfilmung war jedenfalls der reinste Schrott!

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