23. Dezember 2020

Midnight Family

No school, no ambulances.

Im englischen Sprachraum spricht man von “ambulance chasers”, wenn Anwälte hinter Unfallmandaten her sind und das schnelle Geld wittern. In Luke Lorentzens Dokumentarfilm Midnight Family erleben wir eine andere Form der “ambulance chaser” – mehrere Wettrennen von Rettungswagen untereinander gegen die Zeit. Weniger, um das Leben von Unfallopfern zu retten, sondern um mit deren Transport den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Denn da es in Mexiko-Stadt, wo der Film spielt, für die neun Millionen Einwohner nur 45 öffentliche Rettungswägen gibt, füllen viele privatisierte Sanitäter die vorhandene Lücke der Krankenhaustransporte.

Lorentzen begleitet hierbei den Ochoa-Clan, die einen Rettungsdienst als Familienunternehmen betreiben. Vater Fer Ochoa war einst beim Roten Kreuz ausgebildet, mit Sanitäter Manuel Hernandez und seinem ältesten Sohn Juan am Steuer suchen sie seither jede Nacht bis in die Morgenstunden nach Verletzten, denen sie die Fahrt zum Krankenhaus in Rechnung stellen können. Und müssen sich dabei mitunter sputen, wenn ein Konkurrent ebenfalls auf die Durchsage im Polizeifunk angesprungen ist. Midnight Family durchzieht dabei durchweg eine gewisse ethische Frage, ob die Vorgehensweise der Ochoas gerechtfertigt ist. Aber was ist die Alternative?

Midnight Family und der gezeigte desolate Zustand der Notfallversorgung in Mexiko-Stadt erinnert in Zügen an Ilian Metevs Dokumentation Poslednata lineika na Sofia, die vor sieben Jahren das einzige Reanimationsteam für die 1,2 Millionen Einwohner umfassende bulgarische Stadt Sofia begleitete. Wartezeiten bis zu 40 Minuten geben Juan Ochoa und Co. in einer Szene gegenüber einem Patienten an, nach denen kein öffentlicher Rettungswagen eingetroffen sei. Vermutlich deutlich überzogen in der Dauer, aber womöglich auch nicht übertrieben. Es erscheint fraglich, wie die 45 städtischen Rettungswägen effektiv die ganze Stadt versorgen können.

In einem Artikel von AP wiederum ist von „Ambulanz-Piraten“ die Rede. Diese würden den städtischen Rettungswagen zuvorkommen, um bei den Opfern horrende Preise zu verlangen. Was durchaus der Fall sein mag, angesichts von Midnight Family aber zumindest im Fall der Ochoas eher unzutreffend ist. “We didn’t make a single peso”, resümiert Juan nach einer langen Nacht, wo der beförderte Patient den Transport hinterher nicht bezahlen konnte, die Ochoas also mit medizinischem Equipment und Benzin am Ende sogar draufgezahlt haben. Reich wird die Familie folglich mit ihrer Arbeit nicht, hält sich vielmehr eher schlecht als recht über Wasser.

Es ist ein zweischneidiges Schwert, welches Lorentzen dem Zuschauer hier präsentiert, ohne eine Antwort mitzuliefern. So stellen die Ochoas in einem Fall 3.800 Pesos für einen Transport ins Krankenhaus in Rechnung – umgerechnet etwa 155 Euro. Die Alternative wäre, eventuell lange und im schlimmsten Fall vergeblich auf den städtischen Rettungswagen zu warten. Und wenn es dumm läuft, zu lange. Die Ochoas sind zugleich darum bemüht, Patienten in gewisse private Kliniken zu bringen, die ihnen hierfür eine Provision in Aussicht stellen. Was andererseits nötig erscheint, wenn sie für Unfalltipps Polizisten beteiligen oder teils auch bestechen müssen.

Eine Einnahme von 1.500 Pesos für eine Fahrt wird dann durch Vier geteilt, abzüglich aller Kosten für Benzin, Verpflegung und Ausrüstung bleiben pro Person am Ende kaum zehn Euro Verdienst übrig. Ein magerer Stundenlohn, aber für Mexiko-Stadt wohl auch kein schlechter, wo sich das durchschnittliche Monatseinkommen unter 1.000 Euro bewegt. “If no one got sick, there would be no doctors”, sieht der erst 17 Jahre alte Juan die Korrelation zwischen Verletzten und Verdienst pragmatisch. Zwischen den Einsätzen berichtet der Zahnspangen-befleckte Teenager seiner Freundin am Telefon vom Erlebten, der jüngere Bruder schlägt derweil die Zeit tot.

Wie in Poslednata lineika na Sofia ist der Zuschauer nah dran an den Protagonisten, erlebt ihren Alltag mit. Es ist ein Alltag der Zwiespälte, wo sowohl das eigene Einkommen gesichert werden muss, als auch das Wohl der Verletzten Berücksichtigung erhält. Bei der Entscheidungsfindung helfen die Ochoas gerne mal nach, wenn sie bestimmte Krankenhäuser empfehlen, wo sie Rückvergütungen erwarten können. Mitunter gehen sie aber auch oft leer aus, wie Juan berichtet, bisweilen werden sie nur für ein Drittel ihrer Fahrten bezahlt. Was dann im Umkehrschluss wiederum auch keine großen Investments in vielleicht bessere medizinische Ausrüstung zulässt.

Manchmal ist die beste Medizin einfach eine Umarmung, wie im Fall einer Jugendlichen, der ihr Freund die Nase gebrochen hat. Das Publikum macht sich sein eigenes Bild von den Ochoas, muss abwägen, wie es Szenen und Situationen einzuordnen hat – oder überhaupt einordnen kann. Dass die Ochoas ein Familienunternehmen aus dem Sanitätsdienst machten, scheint naheliegend. Der jüngste Sohn vernachlässigt die Schule, um die Nächte auf der Rückbank mitzufahren – man mag sich vorstellen, wie dies bei Juan selbst zuvor als Kind der Fall war. Die beruflichen Aussichten in Mexiko-Stadt wirken begrenzt, jeder muss irgendwie über die Runden kommen.

Offensichtlich macht Luke Lorentzen in seinem Film aber auch, dass wer die Hilfe und Versorgung anderer Menschen zum Geschäftsmodell macht, damit letztlich eher rote als schwarze Zahlen schreiben dürfte. Ähnlich heldenhaft wie die Figuren aus Poslednata lineika na Sofia geraten die Ochoas vielleicht nicht, dafür spiegeln sie authentisch die Probleme wider, welche die medizinische Versorgung auf der einen Seite und das finanzielle Überleben der Einwohner auf der anderen Seite in Mexiko-Stadt plagen. Private Rettungswägen und „Ambulanz-Piraten“ sind somit in der mexikanischen Hauptstadt ein Geschäftsmodell, das buchstäblich aus der Not geboren ist.

7/10

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