12. Dezember 2009

The Sandman Vol.2: The Doll's House

We are their toys. Their dolls, if you will.
(Lost Hearts, p. 23)

Den Wechsel von den achtziger Jahren hinüber in die Neunziger begleitete Neil Gaimans zweiter Band seiner The-Sandman-Reihe. Löblich für die Reihe, dass es nicht unbedingt des Vorgängerheftes bedarf, um jeden Band für sich genommen zu konsumieren. Zwar greift Gaiman Elemente auf, die er in Preludes & Nocturnes begonnen hat, aber diese sind eher Mittel zum Zweck, auf keinen Fall jedoch Verständnisbarrieren. Clive Barker lobt in seinem Vorwort die schiere Absurdität, die sich bisweilen nicht nur aber insbesondere in The Doll’s House breit macht. Und in der Tat ist es Gaiman erneut gelungen, hier und da Geschichten bzw. Handlungsverläufe einzubauen, die schlichtweg brillant und einzigartig sind. Oder zumindest extraordinär im Vergleich zum sonstigen Genrepool. Diese positiven Merkmale stechen umso mehr hervor, da The Doll’s House als Gesamtwerk nicht ganz so harmonisch daherkommt wie sein direkter Vorgänger.

In der Auftaktausgabe, Tales in the Sand, platziert Gaiman äußerst interessant eine Rückblende. Zwei afrikanische Stammesmitglieder fokussieren sich in einem Ritualabend in der Wüste auf die Geschichte ihres Dorfes. Erzählt wird die Geschichte Nadas, der Königin einer Stadt aus Glas. Eines Abends verliebte sich Nada in Morpheus, der getarnt unterwegs war. Sie suchte ihn in seinem Traumland auf, musste jedoch feststellen, dass beide gemeinsam keine Zukunft miteinander hatten. Er als Endless und sie als Sterbliche konnten nicht zusammen sein, selbst wenn Morpheus ihr anbot, sie zu seiner Königin zu machen. In einer Analogie zur biblischen Genesis versündigt sich schließlich die Frau, indem sie ihrem Begehren nachgibt. Die Schuld, die sie sich damit auflastet, treibt sie in den Suizid. Was Gaimans Auftaktausgabe auszeichnet, ist die Verbindung von Stammesgeschichte und Traumwelt, deren Grenzen hier mehrfach verwischen, da es sich um ein durch Generationen tradiertes Stück handelt. Pro- und Epilog der Ausgabe sind hierbei besonders bemerkenswert.

Eine Einordnung findet schließlich in The Doll’s House statt, wenn der Leser nach Dream und Death nun zwei weitere Endless kennenlernt. Wir treffen Desire, ein intrigantes Wesen, das sich nicht auf ein Geschlecht beschränkt und insofern sowohl männlich als auch weiblich wie neutral ist. „Desire is in the heart“, erklärt Gaiman und offenbart die dritte Endless als Initiator der vorangegangenen Geschichte. Gemeinsam mit ihrer Schwester Despair treibt Desire ihr eigenes Spiel, welches nunmehr im kleinen wie großen The Doll’s House festgehalten wird. Die zweite Ausgabe führt Rose Walker ein, die sich als zentrale Figur dieses Bandes herausstellt. Zudem gibt es ein Wiedersehen und eine Verknüpfung mit Unity Kinkaid, einem der Traumopfer aus dem ersten Band, das durch Dreams Gefangennahme verursacht wurde. War Tales in the Sand noch eine Geschichte außerhalb der Geschichte, so stellt The Doll’s House nun die eigentlich Einführung dar, die den Leser mit der Rahmenhandlung (einige Albträume sind aus der Traumwelt entflohen, Rose ist ein Vortex, ein Phänomen, das Zugriff zur Traumwelt erhält) der kommenden Ausgaben vertraut macht.

In Moving In erfährt man nunmehr genaueres zu den vier entflohenen Albträumen, den Korinther, Brute und Glob, sowie Fiddler’s Green. Während sich Rose auf die Suche nach ihrem verschwundenen Bruder macht, der sich als Opfer von Brute und Glob herausstellt, beginnt Dream seine Vorbereitungen, die entflohenen Träume wieder einzufangen. Die Ausgabe zeichnet sich dadurch aus, dass Brute und Glob ihre eigene kleine Traumwelt erschaffen haben, an der sie quasi laben, wobei sie selbst wiederum nur Handlanger sind und die „Kontrolle“ einer Art Marionette anvertraut haben. Vorgreifend kann gesagt werden, dass Barbie, eine von Roses neuen Mitbewohnern, im kommenden fünften Band, A Game of You, selbst zur Hauptprotagonistin wird. Bezüglich Moving In kann festgehalten werden, dass hier lediglich die Nebenhandlung um den Korinther von besonderem Interesse ist, wohingegen Brute und Globs Pseudo-Traumwelt eher enttäuschend wirkt.

Daher will auch die Folgeausgabe Playing House nicht überzeugen. Sie widmet sich im Grunde ausschließlich der Auseinandersetzung von Dream mit seinen beiden widerwilligen Schöpfungen bzw. deren Schöpfung. Ein Traumkampf, der nie wirklich spannend wirkt und zwei Gegenspieler, die eigentlich den Kampf aufgegeben haben, bevor dieser begann. Was zwar ob der Tatsache gefällt, dass sie ihre Situation richtig einschätzen können, aber die Handlung dieser Ausgabe zu keinem Zeitpunkt zu halten vermag. Interessant ist lediglich der Aspekt, dass Brute und Globs Marionette, eine Manifestation eines Verstorbenen, im Stande war eine lebende Person, hier seine Frau Lyta, in seine bzw. die Traumwelt der beiden Albträume mit einzuschließen und sogar ein Kind zu zeugen. Dieses Kind von Lyta wird in späteren Bänden von Bedeutung sein. „That child is mine“, erklärt Dream lapidar und Gaiman ebnet somit einen zukünftigen Auftritt von Lyta und ihrem Sohn.

Nach der Hälfte von The Doll’s House holt Gaiman schließlich sein As im Ärmel hervor. Die fünfte Ausgabe Men of Good Fortune ist die mit Abstand gelungenste und doch – oder vielleicht gerade? – simpelste aller Geschichten dieses zweiten Bandes. Es ist eine losgelöste Geschichte, die keinen Zusammenhang mit den übrigen Abenteuern in diesem Band aufweist. Im Jahr 1389 verabreden sich Death und Dream in einer englischen Bar. Dort stellt Death ihrem Bruder Hob Gadling vor, einen Mann, der beschließt nicht zu sterben. „The only reason people die, is becauce everyone does it“, resümiert Hob. Dream verabredet sich mit ihm schließlich in selbiger Bar, aber einhundert Jahre später. Dieses Spiel geht so weiter, sechs Mal treffen sich Hob und Dream, wobei Morpheus Gadling stets fragt, ob er nun bereit sei zu sterben. Wie man sich denken kann, spiegeln all die Treffen auch das historische Umfeld wieder. Sei es die Renaissance oder London zur Zeit von Jack the Ripper. Selbst William Shakespeare hat einen Kurzauftritt und wird – wie so viele Figuren – in einer späteren Ausgabe nochmals auftreten. Was Men of Good Fortune auszeichnet, ist das Unausgesprochene, welches schließlich doch einen Namen erhält (Hob: „I think you’re lonely“).

Welche Rolle das Kennenlernen von Dream und Hob spielt, wird hier noch nicht klar. Denn wie angesprochen, hat die fünfhundert Jahre alte Freundschaft nichts mit dem zweiten Band als solchen zu tun. Etabliert aber sehr gut die emotionale Komponente die bei den Endless mit reinspielt oder eben auch nicht. Hatte man in Preludes & Nocturnes die Fürsorge von Death zu spüren bekommen, tritt sie auch hier wieder auf. Denn immerhin war es sie, die die beiden Männer einander vorgestellt hat. Der Zeichenstil von Men of Good Fortune ist dabei geprägt von den jeweiligen Epochen und weiß ebenso zu gefallen, wie die Einbindung von Figuren wie Shakespeare oder Marlowe. Das Szenario mutet an wie ein soziales Experiment und vermutlich ist es auch zum Teil als solches von Death und Dream angedacht, aber die Überbrückung von einem halben Jahrtausend ist auch deswegen so erfrischend, weil sie die beiden vorangegangenen und etwas langweiligen Ausgaben rund um Brute und Glob abgelöst hat. Gemeinsam mit der folgenden Ausgabe findet sich hier das Herz von The Doll’s House.

Denn an Collectors hätte ein David Fincher sicherlich seine wahre Freude. Gaiman setzt seiner Phantasie keine Grenzen und hebt in einem abseits gelegenen Motel eine Serienkiller-Convention aus den Angeln. Die Schlimmsten der Schlimmen treffen sich hier, um Vorträgen zu Lauschen und sich über Mordmethoden auszutauschen. Praktischerweise sind im selben Hotel auch Rose und der Korinther anwesend. Da lässt dann auch Dream nicht lange auf sich warten, der versucht den Korinther, der Gefallen an der Realität gefunden hat, wieder in seine Traumwelt zu lotsen. Das eingangs erwähnte Zitat von Clive Barker ob der Absurdität bei Gaiman findet hier nun seine Ursache. Auf die Idee und Umsetzung der Serienkiller-Convention muss man erst einmal kommen. Ähnlich wie 24 Hours im Vorgängerband sammelt sich an dieser Stelle in einer Ausgabe all die Morbidität, die die Handlung hervorzubringen weiß.

Mit Into the Night bewegt sich der zweite Band dann schließlich auf seine Zielgeraden zu. Die gesamte Ausgabe dreht sich um Roses Auswüchse als Vortex, sprich ihre Einflussnahme auf die Träume ihrer direkten Umgebung. Gaiman veranschaulicht dies dadurch, dass er dem Leser Einblick in die Träume von Roses Mitbewohnern wie Barbie gewährt, während ihre „Macht“ – eine solche ist es, wobei man nie den Eindruck erhält, sie wäre gefährlich, das Dream durchgehend gelassen wirkt – immer mehr zunimmt. Nach den beiden gelungenen Ausgaben baut Gaiman hier wieder stark ab, da die Träume, die das Gros der Panels stellen, weder etwas zur Handlung beitragen können, noch für sich gesehen von größerem Interesse sind. Letztlich ist Into the Night nicht mehr als eine überbordende Einleitung für das Finale und insofern reichlich enttäuschend, bedenkt man dass Gaiman zuvor bereits mit Tales in the Sand oder Men of Good Fortune Geschichten abseits der Geschichte erzählt hat, die selbst eigentlich unerheblich zugleich aber durchaus unterhaltsam waren.

Auch das „Finale“ mit Lost Hearts überzeugt nur bedingt. Es ist schön ruhig und unaufgeregt, dass muss man eingestehen. Zudem auch sehr gelungen bebildert. Aber die auflösende Wendung wirkt reichlich konstruiert, speziell da sie Dream mehr als nur ein bisschen bloßstellt. Fiddler’s Green offenbart sich endlich, wobei seine Identität schon einige Ausgaben zuvor im Grunde klar war. Will schon das Ende der Rose-Vortex-Geschichte nicht sonderlich beeindrucken, so kann Gaiman auf der Finalstrecke mit seinen letzten Panels noch Mal Punkte gutmachen, wenn er Dream und Desire konfrontieren lässt. Dahingehend weiß The Doll’s House als Gesamtwerk nur gelegentlich zu überzeugen (die Höhepunkte wurden angesprochen), doch unterm Strich ist die Geschichte von Dreams Wiederaufbau seines Reichs und Roses Schicksal als Vortex die meiste Zeit zu unspannend bzw. uninspiriert aufgebaut, als dass der zweite Band derart zu fesseln wüsste, wie es noch beim Vorgänger der Fall gewesen ist.

7/10

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