12. November 2015

Love

What is your ultimate fantasy?

Geht es nach dem Duden, bezeichnet das Wort „kontrovers“ alles, was umstritten ist. Was anfechtbar oder kritisierbar ist. Und das trifft letztlich eigentlich auf alles zu. Und dennoch gilt der französisch-argentinische Regisseur Gaspar Noé keineswegs wie jeder andere Filmemacher, sondern durchaus als kontrovers. Sein zweiter Spielfilm Irréversible avancierte 2002 zum Skandalfilm, bei dem nach wenigen Minuten die Zuschauer in Hundertschaften die Vorführung bei den Filmfestspielen in Cannes verlassen haben sollen. Weniger aufsehenerregend war vor sechs Jahren dann Enter the Void, eine drogeninduzierte Reinkarnationsphantasie. Ob über seinen neuen Film Love überhaupt diskutiert wird, muss sich auch erst noch zeigen.

Das Potential hierzu hätte der Film zumindest, angesichts dessen, dass er beinahe zur Hälfte nur aus improvisierten Sexszenen besteht, in denen seine jungen Darsteller kopulieren, masturbieren und einander oral befriedigen. Umrahmt werden die Sexszenen von einer Liebesgeschichte, die von dem in Paris lebenden aufstrebenden Filmemacher Murphy (Karl Glusman) und der extrovertierten Electra (Aomi Muyock) erzählt. Als sich das Paar eines Tages einer Ménage-à-trois mit seiner 17-jährigen Nachbarin Omi (Klara Kristin) hingibt und Murphy diese später in einer zweiten Begegnung versehentlich schwängert, zerbricht die zweijährige turbulente Romanze zwischen Murphy und Electra. Die wiederum verfügte über reichlich Höhen und Tiefen.

Als Murphy eingangs einen besorgten Anruf von Electras Mutter erhält, die länger nichts mehr von ihrer Tochter gehört hat, reflektiert Murphy, der nach der Schwangerschaft mit Omi zusammenblieb, seine Zeit mit Electra. Eine Beziehung nach dem Motto: Sie küssten und sie schlugen sich. Gaspar Noé erklärte, er wolle mit Love ein reales Abbild sexuellen Verlangens und damit der Liebe auf die Leinwand bannen. Die eben emotional, allumfassend und stürmisch ausfallen kann. All das trifft durchaus auf die Beziehung von Murphy und Electra zu, die nicht erst durch Omi vor einem Problem standen. Bereits in der Vergangenheit war ihre Liebe von Eifersucht und Untreue gekennzeichnet. Doch konnten beide scheinbar nicht ohne einander.

Wirklich etwas zu erzählen hat Noé allerdings nicht über Liebe oder was das anbelangt: Lust. Wir sehen zwei junge Menschen, die eine Beziehung eingehen, die – so implizieren es die Bilder – primär aus Ficken, Blasen und Wichsen besteht. Im Verlaufe von Love erleben wir dann, dass schon vor der – oder zeitgleich zur – Ménage-à-trois das Sexleben von Murphy und Electra ausgeweitet wurde. Sei es beim Besuch eines Transsexuellen oder in einem Sexclub, dessen von Schweiß und Sperma getriebene Bilder in einer – wortwörtlichen? – Höhepunktsequenz mit John Carpenters Theme zu Assault on Precinct 13 unterlegt werden. Genauso wenig über die Romanze der Figuren erfahren wir über diese selbst – mit kleineren Ausnahmen.

Während Omi weniger Charakter als dramaturgisches Mittel ist und Electra minimal skizziert wird, erhält Murphy einige Anstriche von Noé selbst. Sein Lieblingsfilm ist 2001: A Space Odyssey, er geht in Paris auf eine Filmschule und träumt davon, einen authentischen Film über Liebe und Sex zu drehen, wie er auf einer Party versichert – ehe er mit seiner Gesprächspartnerin für einen Quickie auf die Toilette verschwindet und hierzu Electra stehen lässt. Das Drama, das Noé hier kreiert, entspricht dem Inhalt einer Telenovela über ein Jahr gestreckt. Der Blick des Regisseurs auf sein Geschehen ist dabei konsequent oberflächlich und gerät nur dort penetrierend, wo männliche Geschlechtsteile ins Spiel kommen. Was im Verlauf oft genug der Fall ist.

Aufgrund der in unchronologischer Reihenfolge erzählten Rückblenden als Erinnerungsfetzen von Murphy verliert sich der Zuschauer beim Sehen etwas in dem teils faszinierenden Bildersog ähnlich einem Film von Terrence Malick. Der eigentliche Star des Films ist Benoît Debies überzeugende Kameraarbeit, die weitaus nachdrücklicher in Erinnerung bleibt als das Schauspiel der drei Laiendarsteller oder das prosaische Drehbuch. Insofern hat Love dem Zuschauer weitaus weniger mitzuteilen als noch in Enter the Void der Fall, ungeachtet der mannigfaltigen, expliziten pornografischen Szenen ist er aber womöglich Gaspar Noés bislang zugänglichster Film. Keineswegs kontrovers also – selbst wenn das nicht heißt, dass nichts an Love kritisierbar wäre.

6/10

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