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9. Februar 2018

Die Top 5: Zahnschmerzen

You’ll be a dentist! You have a talent for causing things pain.
(Little Shop of Horrors)

Jemandem die Zähne zeigen bedeutet umgangssprachlich, Widerstand zu leisten. Womöglich geht diese Redensart auf die Heilige Apollonia von Alexandria zurück. Im Jahr 249 n. Chr. soll die Jungfrau während der Christenverfolgung angegangen worden sein. Man schlug ihr die Zähne aus und drohte, sie auf den Scheiterhaufen zu werfen, wenn sie ihrem christlichen Glauben nicht abschwor. Apollonia wählte den Märtyrertod und gilt seither als Patronin der Zahnärzte. Der heutige 9. Februar markiert ihren Todestag und ist zugleich der offizielle Tag des Zahnschmerzes. Wer unter solchen leide, solle zur Schmerzlinderung seine Gebete an die Heilige Apollonia richten – dazu riet angeblich bereits Papst Johannes XXI.

Das Verhältnis der Menschen zu Zahnärzten ist ein schwieriges. Die Deutsche Gesellschaft für Zahnbehandlungsphobie mutmaßt, dass zwei Drittel der Bevölkerung regelmäßig Angst vor dem Zahnarztbesuch hat. Laut der Technischen Krankenkasse ist es immerhin jede/r fünfte Deutsche, die sich vor einer Behandlung fürchten. Der Grund für die Dentalphobie liege dabei oft in traumatischen Erlebnissen als Kind, beispielsweise wenn gebohrt wird. Folglich schieben viele Menschen bei Zahnproblemen den Arztbesuch so lange wie möglich auf. Dabei sind Zahnschmerzen vielmehr ein Zeichen für Probleme, die besser gleich behoben werden. Sonst können sich noch weitaus schlimmere Folgen abzeichnen, die schwieriger zu reparieren sind.

Beschädigte Zähne können mit am meisten Schmerzen verursachen. Dies liegt an den ausgeprägten Nervensträngen der einzelnen Zähne. Die sind mit den Nervenbahnen des Gesichtsnervs verbunden, weshalb Zahnschmerzen auf die Ohren, den Nacken und den Kopf ausstrahlen können. Ursächlich sind Parodontitis, fehlender Zahnschmelz oder am häufigsten Karies. Dabei sind die zahnmedizinischen Probleme hierzulande konstant im Rückgang. So verdoppelte sich allein zwischen 1997 und 2005 fast die Zahl der kariesfreien Kinder von 42 auf 70 Prozent. Was den Kariesbefall bei Kindern angeht schneidet Deutschland sowieso neben Dänemark im internationalen Vergleich mit am besten ab – doppelt so gut wie Frankreich, Spanien oder Österreich.

In Park Chan-wooks Oldboy versucht sich der Held als Hobby-Dentologe. 
Auch bei jungen Erwachsenen und jungen Senioren ist die Zahl der Parodontalerkrankungen rückläufig. Dennoch ist die Angst vor dem Besuch in der Zahnarztpraxis in Deutschland groß, fürchtet sich zum Beispiel jede/r Zweite vor dem Bohrer. Weil mitunter für das Beheben einer Odontalgie, dem vom Zahn ausgehenden Schmerzgefühl, kurzzeitig Schmerzen nötig sind. “You’ll be a dentist! You have a talent for causing things pain”, singt Steve Martins sadistischer Zahnarzt in Little Shop of Horrors von der Berufs-Prognose seiner Mutter. Es verwundert daher nicht, dass in Filmen gerne Zahnschmerzen als probates Mittel der Folter herhalten müssen. Sei es zur Bestrafung für ein vorheriges Verhalten oder um Informationen zu erhalten.

So lässt Jason Isaacs Kurklinik-Arzt in Gore Verbinskis A Cure for Wellness dem Wall-Street-Broker von Dane DeHaan in einen gesunden Zahn bohren, während Choi Min-siks Protagonist in Park Chan-wooks Oldboy seinem Gegenspieler für Hinweise die Zähne per Hammer zieht. Humorvoll wird der Zahnverlust wiederum in Komödien inszeniert, egal ob in Home Alone Joe Pescis Goldzahn dran glauben muss oder in The Hangover Ed Helms’ Zahnmediziner selbst Hand anlegt. Eher subtil und Zeichen für anders gelagerte Probleme äußern sich in Darren Aronofsys Requiem for a Dream das Zähneknirschen der Diätpillen-Abhängigen Ellen Burstyn oder Essie Davis’ Zahnprobleme in Jennifer Kents Psycho-Horror-Film The Babadook.

Zähne können in Filmen natürlich noch andere Rollen spielen. Als scheinbarer Hilferuf in einer Rabbi-Anekdote in A Serious Man der Coen-Brüder oder als Auslöser für die Begegnung zweier Eheleute in Orson Welles’ Meisterwerk Citizen Kane. Dass sich mittels der individuellen Charakteristika unserer Zähne und über einen Gebissabgleich ante und post mortem unsere Identität nachweisen lässt, integrierten sowohl John McTiernans Thriller Wild Things als auch Jonathan Lynns Komödie The Whole Nine Yards in ihre Handlungen. Schmerzen können natürlich auch anderen durch Zähne verursacht werden, so wie durch Jess Weixlers mit einer Vagina dentata ausgestatteten Figur in Mitchell Lichtensteins Horror-Film Teeth von 2007.

Zähneknirschen wie in Darren Aronofskys Requiem for a Dream kann zu Schmerzen führen.
Im Allgemeinen spielen Zähne und Zahnschmerzen in Filmen dann aber doch eine eher geringere Rolle. Vielleicht auch deshalb, weil die Assoziation mit den eigenen Ängsten als für zu groß erachtet wird. Bei manchen Menschen ist die Dentalphobie derart ausgeprägt, dass sie sich gar nicht mehr zu den in Deutschland erwerbstätigen rund 71.500 Zahnmedizinern wagen. So gibt die Barmer-Krankenkasse an, dass im Saarland und in Bremen ein Drittel der Bevölkerung nicht regelmäßig zum Zahnarzt geht. Bundesweit spart sich ebenfalls jede/r Vierte den jährlich von den Krankenkassen zur Vorsorge empfohlenen Besuch. Dabei kann es wie erwähnt oft zu spät sein, wenn erst nach langer Odontalgie über Jahre hinweg letztlich ein Arzt aufgesucht wird.

Mitunter wird neben Traumata aus Kindheitstagen auch das Schamgefühl gegenüber dem eigenen Mundbereich als Grund für die dentale Abstinenz angegeben. Sprich: Die Leute wollen anderen nicht die Zähne zeigen. Und geben stattdessen lieber ein Stoßgebet an die Heilige Apollonia ab. Zum Abschluss dieser Ausgabe der Top 5 wird nun fünf Filmen, die in gewisser Weise exemplarisch für die jeweils unterschiedliche Darstellung und Bedeutung von Odontalgie innerhalb des Mediums stehen, quasi auf den Zahn gefühlt. Das Ganze natürlich – wie immer – höchst subjektiv. Das müssen diejenigen, die anderer Meinung sind, in diesem Fall dann wohl zähneknirschend hinnehmen. Und ehe sich jetzt noch eine/r ins Feuer wirft:


5. The Spy Who Loved Me (Lewis Gilbert, UK 1977): Unterwegs mit seiner KGB-Kollegin Triple X (Barbara Bach) wird James Bond in The Spy Who Loved Me auf einer Zugfahrt durch Ägypten von Handlanger Jaws (Richard Kiel) attackiert. Physisch gegen diesen unterlegen, bleibt 007 nichts übrig, als das Metallgebiss seines Widersachers mit einem Lampenfuß unter Strom zu setzen, ehe ihm Jaws das Genick brechen kann. Zahnschmerzen als letzter Ausweg der Selbstverteidigung haben dabei eher Seltenheitswert.

4. Marathon Man (John Schlesinger, USA 1976): Eine der eindringlichsten dentalen Folterszenen der Filmgeschichte findet sich in John Schlesingers Marathon Man. Dort fühlt der ehemalige KZ-Zahnarzt Christian Szell (Laurence Olivier) buchstäblich Geschichtsstudent Babe (Dustin Hoffman) auf den Zahn – genauer: seine Nerven (“Is it safe?”). Im Ausland untergetaucht, lebt Szell von Diamanten, die er einst KZ-Häftlingen abnahm. Auf der Suche nach diesen findet er in Babe jedoch keinen hilfreichen Informanten.

3. Kynodontas (Giorgos Lanthimos, GR 2009): Zuhause eingesperrt und abseits der Gesellschaft aufgezogen, dürfen in Kynodontas drei Kinder laut ihrem Vater (Christos Stergioglou) erst das Elternhaus verlassen, wenn sie als Zeichen der Reife ihren Eckzahn verlieren. Die älteste Tochter (Angeliki Papoulia) hilft mit einer Hantel kurzerhand nach – und verschafft sich mit dem Ausschlagen ihres Eckzahns Legitimation für die Flucht von Zuhause. Hier repräsentiert der Zahnschmerz somit das Erlangen von Freiheit.

2. Cast Away (Robert Zemeckis, USA 2000): Manchmal wünscht man sich dann doch einen Zahnarzt, so wie der auf einer einsamen Insel in Cast Away gestrandete Chuck (Tom Hanks). Ein mit Karies befallener Zahn löst eine Infektion seines Zahnfleischs aus, was dem Überlebenden eines Flugzeugabsturzes keine Wahl lässt, als sich mit Hilfe eines Schlittschuhs kurzerhand selbst des kranken Zahns zu entledigen. Da kann man einmal sehen, wie wichtig es doch ist, sich zwei Mal täglich die Zähne zu putzen.

1. Jackass 3D (Jeff Tremaine, USA 2010): Was in den anderen Beispielen lediglich Fiktion war, setzte Jackass 3D in die Realität um. Ehren McGhehey tat sich als Freiwilliger hervor und ließ sich einen krummen Zahn ziehen – festgebunden an einen startenden Lamborghini. All das, weil ihm Chris Pontius versprach, man könne den Zahn erneut einfügen, allerdings dieses Mal korrigiert. Was sich letztlich, wen wundert’s, als falsche Behauptung herausstellte. “The tooth”, verkündet Johnny Knoxville, “is officially pulled.”

31. Dezember 2011

Filmjahresrückblick 2011: Die Top Ten

Never in the history of cinema has a medium entertained an audience.
It’s what you do with the medium.

(John Lasseter)

Und wieder mal ist ein (Film-)Jahr vorüber beziehungsweise liegt in seinen letzten Zügen. Nach halbjähriger Abstinenz soll traditionell ein Rückblick auf die vergangenen zwölf Monate den Abschlusspost bilden. Wer sich lediglich für die Bestenliste interessiert, kann zum Ende des Beitrages scrollen. Zwar wird von mir jedes Jahr gejammert, dass das Kino auf dem absteigenden Ast sei, doch auch wenn ein filmisches Highlight 2011 ausblieb, war das Jahr in der Breite relativ gut. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich dieses Jahr mit 150 Filmen so viel wie noch nie gesehen habe. Den Löwenanteil machten dabei die Heimkino-Sichtungen aus, die mit 92:58 gegenüber den Lichtspielhäusern die Nase klar vorn hatten.

Eine Verstärkung des Trends aus dem Filmjahr 2010 – und nicht die Einzige. Mit 58 Kinobesuchen war ich ein Mal öfter vor der großen Leinwand zu finden als im Vorjahr. Lediglich Black Swan und The Tree of Life lockten mich dabei zu Wiederholungssichtungen. Da zudem 35 dieser Kinobesuche auf Pressevorführungen zurückfallen (die mit einem Anteil von 60% gegenüber den 49% des Vorjahres erneut zunahmen), wurde die Sichtung des Großteils der Filme in die eigenen vier Wänden verschoben. Nicht zuletzt lag dies auch an der teils geringen Kopienzahl kleinerer Independent-Filme (speziell im süddeutschen Raum), sowie dem Wunsch, die primär fremdsprachigen Filme in ihrer Originaltonspur zu sehen.

Zu Letzterem bietet jährlich die Berlinale Gelegenheit, auf welcher ein Blogger-Kollege nach eigenem Empfinden viel Mist gesehen zu haben scheint. Nicht jedoch den dortigen Gewinnerfilm Jodaeiye Nader az Simin aus dem Iran, der durchaus überraschend auch bei den Usern der Internet Movie Database (IMDb) mit einer Wertung von 8.6/10 in diesem Jahr am besten wegkam (Stand: 30.12.2011). Auf den Plätzen 2 und 3 folgen dann Warrior und Hugo mit jeweils 8.3/10 – wobei Warrior drei Mal so viele Bewertungen erhalten hat wie Martin Scorseses Liebeserklärung ans Kino. Ein durchaus ungewöhnliches Triumvirat für die User der IMDb, die normalerweise eher Mainstream- und Blockbuster-Kino pushen.

Berechenbarer gab sich da schon das Einspielergebnis an den Kinokassen. Hatte der erste Teil der siebten Harry Potter-Adaption im Vorjahr noch aufgrund seiner Zweidimensionalität das Nachsehen in der Endjahresabrechnung, so setzte sich Harry Potter and the Deathly Hallows: Part II dank 3D-Konvertierung erwartungsgemäß als Jahressieger durch. Mit einem Einspiel von über 1,3 Milliarden Dollar avancierte der Potter-Abschluss zudem zum (vorerst) dritterfolgreichsten Film aller Zeiten (Inflationsunbereinigt) hinter Avatar und Titanic. Ebenfalls die Milliarden-Grenze überschreiten konnten die beiden 3D-Fortsetzungen Transformers: Dark of the Moon und Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides.

Das vierte Abenteuer von Jack Sparrow setzte sich dabei unter anderem in Russland, der Ukraine, Österreich, Griechenland und Südafrika als Favorit der Zuschauer durch, während die Südkoreaner und Chinesen dagegen eindeutig den Kampf außerirdischer Roboter bevorzugten. Japan wiederum folgte dem weltweiten Tenor, sich cineastisch von Harry Potter und Co. zu verabschieden. Ein ähnliches Bedürfnis teilten neben den Japanern zum Beispiel auch die Mexikaner, Finnen, Norweger, Portugiesen und selbstverständlich die Mitglieder des Commonwealth. Egal ob Großbritannien, Australien oder Neuseeland – hier erklomm Harry Potter ebenso den ersten Platz wie im Kinoland Nummer Eins: den USA.

Hatten sich 2010 noch Deutsche und Niederländer gemeinsam an Harry Potter ergötzt, so taten die deutschen Bürger dies 2011 nun allein. Mit durchschlagendem Erfolg strömten die Holländer stattdessen in Linda de Mols Gooische vrouwen – einem Kinoableger ihrer gleichnamigen Fernsehserie. Keine Chance hatte Harry Potter auch in Italien und Frankreich, wo die nationalen Komödien Che bella giornata und Intouchables gar doppelt so erfolgreich liefen. Nationale Komödien wollten auch die Türken (Eyyvah eyvah 2) und Polen (Listy do M.) lieber sehen, während man mit viel gutem Willen diesbezüglich auch den Erfolg von Rio in Brasilien erklären könnte. Und was war eigentlich mit Pixar in 2011?

Wohl nur John Lasseter weiß, wieso er dem im Pixar-Oeuvre wenig beliebten und erfolgreichen Cars mit Cars 2 eine Fortsetzunge bescherte. Zu danken wussten es ihm wenigstens die Menschen in Litauen und Argentinien, die den Animationsspaß zu ihrer Nummer Eins erklärten. Ohnehin tickten Südamerikaner was Kino und Animationsfilme anging etwas anders als der Rest der Welt, bedenkt man, dass in Uruguay, Peru und Kolumbien The Smurfs triumphierte. Ungewöhnliche Jahressieger produzierten aber auch andere Nationen. In Ghana und Nigeria ging dieses Jahr nichts über The Tourist, wohingegen die Spanier im Vampirfieber bevorzugt in The Twilight Saga: Breaking Dawn – Part I strömten.

Als Gewinner darf sich dieses Jahr auch Ryan Gosling fühlen, der den Sprung vom Charakterdarsteller zu einem der angesagten und sehr gefragten Newcomer geschafft hat. In vier Filmen (Blue Valentine, Crazy Stupid Love, The Ides of March, sowie der vielfach gesneakte 2012er Drive) konnte man ihn bewundern – es folgen im kommenden Jahr dann The Gangster Squad und All Good Things. Gewinnerinnen sind auch Natalie Portman und Jessica Chastain, die in gleich sieben Filmen dieses Jahr auftauchten. Chastain entwickelte sich vom unbekannten Gesicht zum everybody’s darling, während Portman nicht nur einen Oscar für ihre Leistung in Black Swan erhielt, sondern auch einen Sohn zur Welt brachte.

Besonders überzeugendes Schauspiel bot dieses Jahr auch Claire Danes in der HBO-Biographie (über) Temple Grandin, sowie in der Showtime-Serie Homeland. Nicht weniger stark zeigte sich Lesley Manville als einsame Alkoholikerin in Another Year, während Choi Min-sik in Akmareul boatda das tat, was er am besten kann: gestörte Mörder spielen. Als viel versprechendste Newcomerin tat sich Jennifer Lawrence in Winter’s Bone hervor und den gelungensten Animationsfilm fand man in Kari-gurashi no Arietti aus dem Hause Ghibli. Was das Fernsehen anbetrifft, ging in einem eher schwachen Jahr nichts über The Big Bang Theory und das gefälligste Videospiel wiederum gab Rocksteady’s Batman: Arkham City ab.

Was bleibt vom Filmjahr 2011 also hängen? Wie schon das Vorjahr taten sich die 3D-Filme hervor. Nur selten wie in Sanctum oder TRON: Legacy wurde direkt in 3D gedreht, ansonsten eher schlecht als recht wie in Thor konvertiert. Zudem war es erneut das Jahr der Fortsetzungen, mit Rio als einzigem Vertreter unter den zehn eintragreichsten Filmen, der nicht auf einem Vorgänger oder einer Reihe basierte. Daran wird sich auch 2012 mit Produktionen wie The Dark Knight Rises, The Amazing Spider-Man, Skyfall oder The Avengers nichts ändern. Aber um allmählich zum Punkt zu kommen, präsentiere ich nun meine zehn besten Filmen des Jahres 2011 (die Flop Ten sowie Runner-ups finden sich als erster Kommentar):


10. Le quattro volte (Michelangelo Frammartino, D/I/CH 2010): Stillschweigend überschreitet Frammartino die Grenzen zwischen Dokumentation und Spielfilm und folgt in seinem Werk der Seelenlehre des Mathematikers Pythagoras. Dabei liefert er faszinierende Bilder aus Kalabrien, die den Zuschauer mit ihrer anmutigen Poesie in den Bann ziehen. Am Ende steht ein imposantes Konstrukt, das in seiner dialogfreien Entstehung wie Produktion aufzeigt, wie sich Form und Materie verändern.

9. Kynodontas (Giorgos Lanthimos, GR 2009): Lanthimos ist ein ungemein faszinierender Film gelungen, getreu dem Marquis de Sade: „Jedes universale Moralprinzip ist ein vollkommenes Hirngespinst“. Es wird nicht wirklich viel gesprochen oder agiert in dieser Geschichte über Aufklärung und Selbstbestimmung, was jedoch keineswegs dazu führt, dass der Film an Aufmerksamkeit einbüßt. Das Resultat sind dabei zahlreiche absurd-komische Erziehungsmaßnahmen in dem lustigsten Film des Jahres.

8. Waste Land (Lucy Walker, BR/UK 2010): Über 7.000 Tonnen Müll produziert Rio de Janeiro jeden Tag, die auf der Mülldeponie Jardim Gramacho landen. Hier recyclen catadores (Müllsammler) den Abfall. Der brasilianische Künstler Vik Muniz involvierte einige von ihnen für eine seiner Installationen. Walkers Film lebt von seinen tollen Protagonisten wie Tião, Zumbi, Isis oder Valter und zeigt, wie man aus wertlosen Dingen wertvolle Kunst macht - und dabei das Leben von Menschen verändert.

7. Another Year (Mike Leigh, UK 2010): Leigh präsentiert eine absurd harmonische Ehe, was sich allerdings nur dadurch feststellen lässt, da sie stets mit der tristen Einsamkeit ihrer scheinst trostlosen Umgebung kontrastiert wird. “Life’s not always kind, is it?“, resümiert Lesley Manville, das Herz des Films, in einer Szene treffend. Ohnehin ist das exzellent gespielte Drama ein an Höhepunkten armes Charakterkino erster Güte, dessen eigentliche Stars seine deprimierend depressiven Verlierer sind.

6. Winter’s Bone (Debra Granik, USA 2010): Getreu einer buddhistischen Legende sehen, hören und sagen die Figuren in dieser Adaption von Daniel Woodrells Roman nichts Böses. In einer maskulin dominierten Welt voller Tristesse und Hoffnungslosigkeit obliegt es dem unbändigen Willen der jungen Ree, die Existenz ihrer Familie zu sichern. In dem hervorragend spielenden Ensemble sticht Lawrence heraus, in einem Mittelstaaten-Drama, das so packend und spannend gerät wie kein zweiter Film 2011.

5. La piel que habito (Pedro Almodóvar, E 2011): Der Mann aus La Mancha untermauert sein Können mit diesem grandiosen Horror-Thriller, in welchem er sich nicht zu schade ist, seinen Twist bereits im zweiten Akt zu präsentieren. Dass dieser nicht nur dennoch, sondern gerade deswegen funktioniert, zeichnet Almodóvars Talent aus. Fortan entwickelt sein Film eine Sogwirkung, die schlussendlich zu einem vorhersehbaren, konsequenten und trotz allem dadurch nicht minder packenden Ende führt.

4. The Tree of Life (Terrence Malick, USA 2011): Wie in all seinen Werken präsentiert Malick den ewigen Zwiespalt zwischen Natur und Gnade – hier mit besonders prägnanten metaphysischen Analogien. Audiovisuell so anmutig erhaben wie schlichtweg meisterlich, fetischisieren die Bilder die physikalische Natur zu einem Kaleidoskop von Filmgemälden. Bei all seinen tieferen Lesarten ist Malicks Film subsumiert dennoch ein Familiendrama als Zeitkolorit und dabei stark biographisch gefärbt.

3. Inside Job (Charles Ferguson, USA 2010): Die Wirtschaftskrise kostete 2008 Millionen Menschen ihr Vermögen, ihre Jobs und ihr Eigentum. In seinem Erklärstück schildert Ferguson, wie es dazu kommen konnte. Am Ende raucht einem zwar der Kopf vor lauter Deregulierungspolitik und predatory loans, aber Fergusons Film überzeugt durch sein ehrliches und strukturiertes Anliegen nebst humorvollen Auflockerungen. “Banking became a pissing contest” heißt es an einer Stelle so sarkastisch wie wahr.

2. The Tillman Story (Amir Bar-Lev, USA 2010): Einen so besonderen Menschen wie Pat Tillman kann man nicht mal backen, selbst wenn man wollte. Er war ein NFL-Spieler, der seinen Profivertrag aufgab, um für sein Land zu kämpfen – und dafür bezahlte er mit seinem Leben. Bar-Lev inszenierte einen schockierenden und bewegenden Film über eine starke Familie und zugleich ein entblößendes Dokument über den verlogenen Charakter der US-Regierung und die gefährliche Natur ihrer Soldaten.

1. Senna (Asif Kapadia, UK 2010): Die Geschichte des brasilianischen Ausnahmesportlers ist eine Geschichte voller legendärer Momente, von Kapadia chronologisch begleitet. Fabelhaft musikalisch untermalt, brilliert diese Dokumentation durch die unglaubliche Arbeit der Cutter, die ausschließlich aus Archivmaterial (!) ein dramaturgisch stringentes, vielschichtiges und atemberaubendes Stück Film konstruierten. Spannend. Emotional. Intensiv. Also nicht unähnlich der Karriere von Senna selbst.