10. Dezember 2010

Black Swan

The only person standing in your way is you.

Das Ballettstück „Schwanensee“ von Vladimir Begichev und Vasiliy Geltser erzählt die Geschichte der Schwanenkönigin Odette, einer verzauberten Prinzessin, die nur durch die Liebe von ihrem Fluch befreit werden kann. Das Ganze basiert auf einem Märchen, wie könnte es anders sein, trifft man derartige Versatzstücke (wie das Biest in La Belle et la Bête oder den Grimm’schen Froschkönig) doch durch die Jahrhunderte hindurch. Jene Liebe tritt im „Schwanensee“ in Gestalt von Prinz Siegfried auf, wird jedoch unterminiert, als der für den Fluch verantwortliche Zauberer Rotbart das Treffen von Siegfried und Odette überhört und beginnt, zu intervenieren. Rotbart gibt sich anschließend als Baron aus und erschafft eine Doppelgängerin für Odette namens Odile, der Siegfried daraufhin verfällt.

Das von Tschaikowski komponierte Ballettstück von 1875/1876 ist eines der bekanntesten seines Faches, die Figur der Schwanenkönigin aufgrund ihrer unterschiedlichen Choreographien für Odette und Odile zudem eine der anspruchsvollsten und anstrengendsten Rollen des klassischen Balletts. Eine aufreibende Welt also, in der sich die Darsteller zu Unterhaltungs- und Kunstzwecken körperlich verausgaben, was das Publikum jedoch nicht immer angemessen schätzt. Nicht unähnlich dem Wrestling, das als Schaukampf gilt, das jedoch der Authentizität wegen viele seiner Vertreter an die physische Belastungsgrenze treibt. Regisseur Darren Aronofsky widmete sich beiden Welten und liefert nun mit Black Swan einen Gegenentwurf zu seinem letztjährigen The Wrestler ab.

Im Mittelpunkt von Black Swan steht die junge Balletttänzerin Nina (Natalie Portman) - eine unsichere und zerbrechliche Perfektionistin, die von ihrer Mutter und Ex-Ballerina Erica (Barbara Hershey) dazu auserkoren wird, die Karriere zu haben, die Erica aufgrund ihrer Schwangerschaft einst versagt geblieben ist. Beide Frauen leben in einer kontrollierten Welt, abhängig von einander, die Mutter von der Tochter, die Tochter von der Mutter. Als in Ninas Ballettkompanie die Primaballerina Beth Macintyre (Winona Ryder) vom Chefchoreographen Thomas (Vincent Cassel) in die berufliche Wüste geschickt wird, setzt Nina alles daran, die Hauptrolle in Thomas’ Neuinszenierung von „Schwanensee“ zu erlangen. Ihre Versagensängste und Paranoia wiederum sorgen bald für eine mise en abyme.

Zwar tanzt das ewige Mädchen Nina den weißen Schwan perfekt, mit ihrer verführerischen Doppelgängerin Odile hat die psychisch angeknackste Bulimikerin jedoch Probleme. Da hilft es schon gar nicht, dass mit Lily (Mila Kunis) eine vor Extrovertiertheit und Sexappeal sprießende neue Tänzerin zum Ballett stößt. Mit fortschreitender Dauer steigt einerseits Ninas Stellung innerhalb der Kompanie, andererseits aber auch ihre Unsicherheit. In einer Szene dehnen und strecken sich alle Ballerinas, während Thomas durch ihre Reihen schreitet und einige von ihnen antippt - nur Nina nicht. Deren Anspannung springt fast von der Leinwand, ihre anschließende Erleichterung, als sie erfährt, dass diejenigen Vortanzen dürfen, die nicht angetippt wurden, bleibt dagegen nahezu unmerklich.

Ninas Verunsicherung hat Auswirkungen auf ihre Psyche. Sie fühlt sich verfolgt, zum einen von Lily und zum anderen weitaus prominenter von sich selbst. Die Folge: ein Ausschlag auf dem rechten Schulterblatt, Verletzungen am Nagelbett, Gewichtsverlust. Es sei ihr Moment, ihre Chance, flüstert Thomas seiner neuen Primaballerina in einer Szene ins Ohr. In einer anderen weist er sie an, ein wenig zu leben (“Live a little”). Ein Rat, den ihr später auch Lily gibt, aber den Nina nicht befolgen kann. Als Thomas ihr aufgibt, zur Entspannung zu masturbieren, scheitert das Unterfangen an dem plötzlichen Auftauchen von Erica. In dem für die Mutter gelebten Leben von Nina ist für eigene Erfahrungen kein Platz. Was letztlich bei beiden Frauen zu irreparablen Schäden an der Psyche führt.

War „Schwanensee“ ein stets neu interpretierbares Ballett, ist es dies auch bei Aronofsky. So spielt Siegfried in Black Swan gar keine Rolle, vielmehr fragt sich der Film, was wäre, wenn nicht der Prinz von Odile getäuscht würde, sondern Odette. Dementsprechend verschwimmen für Nina verstärkt ihre Wahrnehmungen von Lily und sich selbst, beziehungsweise ihrer eigenen, verführerischen Doppelgängerin - ihrem schwarzen Schwan. Was wahr ist und was nur eingebildet, darunter auch die im Vorfeld viel kolportierte Sexszene zwischen den beiden Darstellerinnen, verwischt dabei vielleicht für die Hauptfigur, nicht jedoch für das Publikum. Denn obschon sich Aronofskys fünfter Film als Psychodrama und/oder Balletthorror anbiedert, vermag er selten wirklich Spannung aufzubauen.

Damit das Filmgeschehen den Zuschauer fesselt, fehlt der Geschichte der Zugang zu ihren Figuren. So bleibt Lily durchweg eine Schimäre, die sie allerdings nicht ist, schwankt Thomas zwischen berechnendem Arsch und kaltherzigem Perfektionisten oder ist Beth im Grunde total verschenkt. Ein Verständnis für die Charaktere geht Black Swan gänzlich ab, was ihn wohl am meisten von The Wrestler, seinem Bruder im Geiste, unterscheidet. Hier wie da folgt die Kamera gerne der Hauptfigur im Rücken, schenkt ihr Hoffnung, nur um sie kurz darauf wieder ins Straucheln kommen zu lassen. Scheiterte Randy the Ram an der Vergänglichkeit seines Ruhmes (so gesehen ist ihm Beth hier noch am ähnlichsten), droht Nina an der von ihrer Mutter aufgelasteten Erwartungshaltung zu zerbrechen.

Nagte im Vorgänger sein Beruf an Randys Physis, zerfrisst ihre Chance hier an Ninas Psyche. Dieser vermeintliche Identitätsverlust als mise en abyme ist zwar über weite Strecken interessant, wenn Nina und Lily als charakterliche Gegenentwürfe zueinander - und was Nina angeht auch füreinander - entworfen werden. Doch Aronofsky verliert sich nach dem zweiten Akt zu sehr in der Aufeinanderfolge dieses Psychospieles sowie in seiner Intensität. Denn diese drückt sich primär durch den Einsatz von CGI-Spielereien aus, die nicht nur unnötig, sondern auch störend ausfallen. Von der geerdeten Etablierung der Handlung zu Beginn bleibt am Ende nicht mehr viel übrig, wenn Black Swan im dritten Akt die Transformation vom Psychodrama zum Balletthorror unternimmt.

Über allem erhaben ist dabei jedoch das Ensemble. Wie die Schwanenkönigin für die Primaballerina eine anspruchsvolle und anstrengende Rolle ist, verkommt sie auch für Natalie Portman zu einer solchen. Stärker als in Black Swan sah man sie wohl selten, weshalb sie beste Chancen haben sollte, im Februar ihre zweite Oscarnominierung zu erhalten. Spielen Mila Kunis und Vincent Cassel - Letzterer mit den besten Dialogzeilen ausgestattet - zwar überzeugend, aber weitestgehend unauffällig, vermag neben Portman noch Barbara Hershey besonders hervorzustechen. Hin- und hergerissen zwischen fürsorglicher Mutter und labilem Kontrollfreak, hinterlässt die 62-Jährige einen bleibenden Eindruck, der ebenfalls von der Academy gewürdigt werden könnte.

Dieses Jahr erhielt Black Swan stürmenden Beifall beim 67. Filmfestival in Venedig, jenem Ort, an dem vor vier Jahren noch Darren Aronofskys Meisterwerk The Fountain ausgebuht wurde. Ein Erlebnis, das beim New Yorker hängen geblieben und Wunden gerissen zu haben scheint. Von visuellen Spielereien verabschiedete er sich daraufhin in The Wrestler, der erstaunlich straight und konsequent daherkam. Zwar blieb damals die Anerkennung der Academy aus, für seinen allseits gelobten jüngsten Film könnte sie nun jedoch ins Haus stehen. Dass sich der 41-jährige Amerikaner seit The Wrestler weiterentwickelt hat, lässt sich dagegen nicht sagen, sind sich beide Filme doch zu ähnlich (Thrillerelemente ersetzen Charaktertiefe), um einen wirklichen Fortschritt erkennbar zu machen.

So ähneln sich Darren Aronofsky und die Schwanenkönigin vielleicht mehr als sie glauben, wenn die von den Kritikern zuletzt verehrten The Wrestler und Black Swan mit der verführerischen Doppelgängerin gleichgesetzt werden, die Aronofskys künstlerisch wertvolle, ambitionierte und oftmals unterschätzte Vorgänger in Vergessenheit geraten lassen. Doch die wahre Schönheit liegt unter der von außen bisweilen als hässlich erachteten Form, sodass es Aronofsky seinem Märchenvorreiter Prinz Siegfried gleich tun sollte, indem er der Verführung widersteht (für 2014 inszeniert er eine Bibel-Adaption um Noah) und zurück zu seiner ewigen und wahren Liebe kehrt. Einen entscheidenden Hinweis hat er sich dabei in Black Swan bereits selbst gegeben: The only person standing in your way is you.

6.5/10

6 Kommentare:

  1. Hoffentlich kommt der Film auch bald in unser Kino! Ich liebe Ballett!

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  2. Was'n Scheißfilm. Typische Kiddie-Prätention für Arthaus-Nolans.

    Und schlecht geklaut von REPULSION, nur den kennt wohl wieder niemand.

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  3. @Rajko: Allmählich klingst du wie ne Schallplatte mit Sprung. Lern doch mal noch ein anderes Fremdwort außer "prätentiös" ;)

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  4. Was'n Scheißfilm. Typische Kiddie-Pseudokunst für Arthaus-Nolans.

    Und schlecht geklaut von REPULSION, nur den kennt wohl wieder niemand.

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  5. Also, lieber Herr Burchardt, der Nachsatz "den kennt wohl wieder niemand" hinter der Nennung von Roman Polanskis "Repulsion" ist deshalb so überflüssig, weil er den allzu offensichtlichen Versuch impliziert, anderen Filmsehern auf eine arrogante bis elitäre Art und Weise einen Spiegel der Unwissenheit vorzuhalten, der sich aus Mutmaßungen speist und schlicht an der falschen Stelle ist - "Repulsion" dürfte dem ein oder anderen (und sei es nur durch den Namen Polanski, der weiß Gott kein unbedeutender/kleiner/unbekannter ist) sehr wohl bekannt sein, im Gegensatz vielleicht zum Avantgardefilm XY aus Südperu mit Scherenschnitt, Sandfiguren, Nekrophilie und Verweisen auf die frühchristliche und byzantische Kunst. Oder fiele der dann schon wieder in die Kategorie "Kiddie-Prätention" (was im Übrigen die Frage aufwirft, was hingegen Erwachsenen-Prätention ausmacht und ob zwischen Kiddie- und Erwachsenen-Prätention maßgebliche Unterschiede in Sachen Qualität und Quantität des Prätentionsausmaßes bestehen)? Fragen über Fragen.

    Mich würde eher interessieren, inwieweit in "The Wrestler" Thrillerelemente die Charaktertiefe ersetzen. Über die Charaktertiefe lässt sich durchaus streiten, Thrillerelemente konnte ich allerdings überhaupt nicht ausmachen.

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  6. Naja, dieses ganze "Nachts in der Baustelle kommt mir jemand entgegen - huch, ich selbst" und Psychoterror im Finale mit THE ARRIVAL mäßiger Extremitätsverrenkung, dem Garderobenclash, etc. pp. Ich hab das Thrillerelement genannt, da es den Film in eine "Balletthorror"-Richtung lenken will. Sprich: Hier geht es weniger darum die Figuren nahe zu bringen wie Randy the Ram, sondern mehr darum Spannung und "was?wer?wo?"-Momente zu erzeugen.

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