23. Februar 2018

Lucky

Realism is a thing.

Es gibt nicht so viele Charakterdarsteller, die wahrlich als solche zu sehen sind. Harry Dean Stanton gehörte dazu, mit einer eindrucksvollen Karriere, die sich oft – mit Ausnahmen wie Wim Wenders Paris, Texas – auf Nebenrollen beschränkte. Es zeichnet einen großen Darsteller wie es Harry Dean Stanton war aus, sich auch in Kurzauftritten wie in Escape from New York oder in Nebenrollen wie in Alien ins Bewusstsein des Zuschauers zu spielen. Und auch wenn seine Darbietung in John Carroll Lynchs Lucky nicht der finale Abgesang unter eine Karriere mit über 200 Filmauftritten vor seinem Tod vergangenes Jahr war, so ist Lucky doch der ideale Schlusspunkt unter das 60 Jahre währende Schaffen von Harry Dean Stanton.

In gewisser Weise mag er sich darin selbst gespielt haben. Der Alltag des 90-jährigen Lucky (Harry Dean Stanton) besteht aus Gewohnheitsabläufen. Auf die kurze Morgengymnastik folgt die erste Tasse Kaffee im lokalen Diner seiner Kleinstadt, einhergehend mit dem Ausfüllen seines Kreuzworträtsels, ehe es über einen Besuch im Lebensmittelladen zurück nach Hause geht und der Tag seinen Abschluss auf eine Margarita in der Bar von Elaine (Beth Grant) findet. Erst als Lucky eines Morgens unerwartet stürzt, sein Arzt (Ed Begley, Jr.) jedoch keine andere Diagnose außer das fortgeschrittene Alter seines Patienten nennen kann, beginnt Lucky mit dem Gedanken an seine eigene, nahende Sterblichkeit und sein Umfeld konfrontiert zu werden.

Lucky ist ein Mann geringer Ansprüche. In seinem Kühlschrank stehen lediglich drei Milchkartons, im Kleiderschrank hängen derweil drei Flanellhemden. Der Ausflug ins Diner von Joe (Barry Shabaka Henley) ist wie der in die Bar von Elaine das Mindest- und zugleich Maximalmaß an sozialer Interaktion, die sich der 90-Jährige, der dennoch von allen Stadtbewohnern sehr geschätzt wird, aufbürdet. Seinem Kaffee und Kreuzworträtsel geht er schließlich auch zuhause nach. “There’s a difference between lonely and alone”, stellt Lucky später einmal klar, als seine Lebenssituation nach seinem Sturz Fragen aufwirft. Lucky lebt zwar einerseits für sich, ist andererseits auf seine Art und Weise aber auch Teil des sozialen Lebens seiner Stadt.

Eine Art Gegenentwurf zu Lucky findet der Film in David Lynchs Figur von Howard. Der reagiert reichlich aufgescheucht, als ihm eines Tages seine Landschildkröte und zugleich bester Freund President Roosevelt abhanden kommt. Dabei wollte er jüngst mit seinem Anwalt (Ron Livingston) noch sein Testament derart anpassen, dass das Reptil alles erben würde. Lynch spielt eine derer schrulligen Figuren, mit denen er seine eigenen Filme füllt, und stiehlt hier mit seiner herrlichen Darbietung Harry Dean Stanton beinahe die Show. Lucky ist ein wunderbar zurückgenommener Film, unaufgeregt und doch aufrichtig, humorvoll und stellenweise bewegend – zum Beispiel als Lucky in einer Szene Carlos Gardels und Alfredo La Peras „Volver“ anstimmt.

Es gibt ein paar solcher Momente, darunter eine kurze Alien-Reunion zwischen Harry Dean Stanton und Tom Skerritt oder jener Arztbesuch von Lucky, bei dem mit Stanton und Ed Begley, Jr. (ebenfalls bereits über 300 Filmauftritte im CV) zwei Mittelgewichte des Kinos aufeinander treffen. Meckerte zuvor Diner-Chef Joe noch, Luckys Zigarettenkonsum würde ihn ins Grab bringen (“If they could’ve, they would’ve”, lautet dessen lapidare Antwort), mutmaßt sein Arzt später gar, dass er besser nicht damit aufhöre, wenn er trotz seiner Schachtel am Tag bereits so alt geworden ist. Lucky hat dabei gar nicht so viel über das Altern oder das Leben zu sagen, sondern beschränkt sich zuvorderst schlicht auf die Interaktion seiner Figuren.

“You have to learn to die before you die. You give up, surrender to the void, to nothingness”, hat Harry Dean Stanton einst gesagt. Ähnlich mag es Lucky halten, selbst wenn er kurzzeitig doch überrascht scheint, dass die Veränderung seines Gesundheitszustandes ein nahendes Ende anzukündigen scheint. Harry Dean Stanton dürfte von seinem eigenen Ende vermutlich weniger überrascht gewesen sein. Sein Film sollte eine Ovation für seinen Hauptdarsteller sein, sagte John Carroll Lynch in einem Interview. Lucky steht nicht nur für die Art von Rollen, die Harry Dean Stanton seine Karriere hindurch gespielt hat, sondern fängt auch etwas seiner eigenen Persönlichkeit ein. Etwas jenes Charakters eines großen Charakterdarstellers.

6.5/10

16. Februar 2018

Star Trek: Discovery – Season One

In times of crisis, ignorance can be beneficial.

“Space: the final frontier”, diktierte 1966 erstmals Captain Kirk (William Shatner) in sein Logbuch des Raumschiffes Enterprise. Seither erforschten die verschiedenen Crew-Mitglieder von Gene Roddenberry’s Starfleet zahlreiche Welten und Kulturen. Ich war abseits der Filme nie ein großer Trekkie, abgesehen von hier und da einmal aufgeschnappten (aber weitestgehend vergessenen) TNG-Folgen sowie der ersten (ebenso vergessenen) Staffel von Enterprise. Nach der Original-Serie, The Next Generation, Deep Space Nine, Voyager und Enterprise markiert Star Trek: Discovery von CBS nun die sechste Star Trek-Serie. Ähnlich wie die Reboot-Filme von J.J. Abrams eint die mit dem Franchise aber nur noch wenig.

Im Vergleich zum Namensvetter Star Wars war Star Trek noch nie ein besonders kräftiges Zugpferd an den Kinokassen. So spielte Star Wars: The Last Jedi in den USA an seinem Start-Wochenende bereits 40 Prozent mehr ein als Star Trek Beyond während seiner gesamten Laufzeit. Dabei wurden die Erlebnisse von Kirk, Spock und Co. dort bereits verstärkt ins Action-Genre gehievt, mit dem das Original nur wenig gemein hatte, ehe schon die finalen TNG-Filme wie Star Trek: Nemesis sich derart orientierten. Was einst als eine Art „Vereinte Nationen im Weltall“ begann und eine utopische Zukunft skizzierte, die viele der gegenwärtigen Probleme hinter sich gelassen hat, verkam mehr und mehr zum “swashbuckling”-Weltraumabenteuer.

Angesiedelt rund ein Jahrzehnt vor der Original-Serie widmet sich Star Trek: Discovery primär dem Krieg zwischen der Föderation der Planeten und den Klingonen. Die tauchen in der Pilotfolge The Vulcan Hello aus heiterem Himmel plötzlich auf, während Hauptfigur Michael Burnham (Sonequa Martin-Green), erster Offizier auf der USS Shenzou von Captain Georgiou (Michelle Yeoh), mit einem intendierten Präventivschlag wider den Anweisungen ihres Captains den Konflikt auslöst. Wegen Meuterei verurteilt landet Burnham im Verlauf an Bord der USS Discovery von Captain Lorca (Jason Isaacs), dem technisch modernsten Schiff der Föderation. Dort muss Burnham aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, um ihren ruinierten Ruf reinzuwaschen.

Statt verschiedenen Einzel-Episoden versucht sich Star Trek: Discovery im seriellen Erzählen. So wird dem Publikum eine fortlaufende Handlung präsentiert, in der die Folgen aufeinander aufbauen. Besonders missglückt gerät dies hier, da die präsentierte Geschichte oft nur leidlich spannend und über 15 Folgen erzählt zugleich viel zu ausufernd gerät. Den Krieg mit den Klingonen-Stämmen streift Discovery so peripher wie die Klingonen selbst, obschon sie mit L’Rell (Mary Chieffo) und Voq zwei interessante Vertreter eingangs einführt. Wirklich kennenlernen darf der Zuschauer diese aber ebenso wenig wie die Crew der Discovery. Hier beschränkt sich die Serie auf einen Kern von sechs Figuren, während die übrigen Mitglieder Staffage sind.

Ansätze sind dabei vorhanden, beispielsweise bei Burnham, die ihre Eltern bei einem Angriff der Klingonen verlor, ehe sie als Kind von Spocks Vater Sarek (James Frain) adoptiert und auf Vulkan aufgezogen wurde. Zum Pseudo-Vulkanier à la Spock oder T’Pol (Jolene Blalock) wird die Figur dabei aber nie. Ihre vulkanische Erziehung tritt kaum in Erscheinung und dient somit eher dem Fanservice, um in vereinzelten Episoden Sarek und auch Gattin Amanda (Mia Kirshner) auftreten zu lassen. Ähnlich blass bleiben Saru (Doug Jones), der erste Offizier der Discovery, der einst mit Burnham zusammen auf der Shenzou gedient hat oder Kadett Tilly (Mary Wiseman), die als optimistische gute Seele die Hauptfigur befreunden darf.

Ungewöhnlich im Vergleich mit Kollegen wie Picard (Patrick Stewart) und dadurch in gewisser Weise faszinierend gerät da noch Lorca. Für ihn heiligt der Zweck oftmals die Mittel, wirkliche Spannung mit gegensätzlichen Figuren wie Saru oder Tilly generiert die Serie daraus allerdings nicht. Ergänzt wird das Stammpersonal mit Wissenschaftsoffizier Stamets (Anthony Rapp) und dem im Verlauf aus klingonischer Gefangenschaft befreiten Tyler (Shazad Latif). Dass die Charaktere einem nicht ans Herz wachsen, liegt dabei weniger an den Darstellerleistungen, die durchweg solide sind, sondern daran, dass diese wenig Aufmerksamkeit erhalten und sich stattdessen dem trägen narrativen roten Faden der ersten Staffel unterordnen müssen.

Die geht mitunter durchaus temporeich zu, verfügt über zahlreiche Kampfszenen, Morde und ist generell sehr viel düsterer als man es von Star Trek erwarten würde. Offensichtlich liegt dies am Glauben, den Sehgewohnheiten der Zuschauer entsprechen zu müssen, weshalb sowohl die Star Trek-Reboots als auch Discovery eher ein Sci-Fi-Action-Adventure sind, statt entschleunigte Formate wie The Original Series oder TNG. Da passt es ins Bild, dass obwohl Discovery ein Jahrzehnt vor Kirk und Co. spielt, die Technologie – ähnlich wie in den Star Wars-Prequels gegenüber der Kino-Trilogie – eher voraus als hinterher zu sein scheint. Einerseits sollen so Trek-Fans angesprochen werden, aber auch Laien interessiert.

Mit am meisten Spaß macht Star Trek: Discovery da noch, wenn die Serie wie in Magic to Make the Sanest Man Go Mad einmal eine Art “bottle episode” präsentiert, losgelöst von der die Staffel umspannenden Prämisse. Sie erzählt einen Zeitschleifen-Terrorismus durch Harry Mudd (Rainn Wilson), der für sich steht, auch wenn er in Person von Mudd Bezug auf eine frühere Folge nimmt. Letztlich hat Discovery mehr mit den Abrams-Inkarnationen gemein als mit Kirk und Picard, das Ergebnis ist zwar durchaus über Strecken unterhaltsam, aber im Grunde weder Fisch noch Fleisch. “To boldly go where no man has gone before”, kündigte Captain Kirk einst vollmundig an. So viel Chuzpe hätte man auch Star Trek: Disovery gerne gewünscht.

6/10

9. Februar 2018

Die Top 5: Zahnschmerzen

You’ll be a dentist! You have a talent for causing things pain.
(Little Shop of Horrors)

Jemandem die Zähne zeigen bedeutet umgangssprachlich, Widerstand zu leisten. Womöglich geht diese Redensart auf die Heilige Apollonia von Alexandria zurück. Im Jahr 249 n. Chr. soll die Jungfrau während der Christenverfolgung angegangen worden sein. Man schlug ihr die Zähne aus und drohte, sie auf den Scheiterhaufen zu werfen, wenn sie ihrem christlichen Glauben nicht abschwor. Apollonia wählte den Märtyrertod und gilt seither als Patronin der Zahnärzte. Der heutige 9. Februar markiert ihren Todestag und ist zugleich der offizielle Tag des Zahnschmerzes. Wer unter solchen leide, solle zur Schmerzlinderung seine Gebete an die Heilige Apollonia richten – dazu riet angeblich bereits Papst Johannes XXI.

Das Verhältnis der Menschen zu Zahnärzten ist ein schwieriges. Die Deutsche Gesellschaft für Zahnbehandlungsphobie mutmaßt, dass zwei Drittel der Bevölkerung regelmäßig Angst vor dem Zahnarztbesuch hat. Laut der Technischen Krankenkasse ist es immerhin jede/r fünfte Deutsche, die sich vor einer Behandlung fürchten. Der Grund für die Dentalphobie liege dabei oft in traumatischen Erlebnissen als Kind, beispielsweise wenn gebohrt wird. Folglich schieben viele Menschen bei Zahnproblemen den Arztbesuch so lange wie möglich auf. Dabei sind Zahnschmerzen vielmehr ein Zeichen für Probleme, die besser gleich behoben werden. Sonst können sich noch weitaus schlimmere Folgen abzeichnen, die schwieriger zu reparieren sind.

Beschädigte Zähne können mit am meisten Schmerzen verursachen. Dies liegt an den ausgeprägten Nervensträngen der einzelnen Zähne. Die sind mit den Nervenbahnen des Gesichtsnervs verbunden, weshalb Zahnschmerzen auf die Ohren, den Nacken und den Kopf ausstrahlen können. Ursächlich sind Parodontitis, fehlender Zahnschmelz oder am häufigsten Karies. Dabei sind die zahnmedizinischen Probleme hierzulande konstant im Rückgang. So verdoppelte sich allein zwischen 1997 und 2005 fast die Zahl der kariesfreien Kinder von 42 auf 70 Prozent. Was den Kariesbefall bei Kindern angeht schneidet Deutschland sowieso neben Dänemark im internationalen Vergleich mit am besten ab – doppelt so gut wie Frankreich, Spanien oder Österreich.

In Park Chan-wooks Oldboy versucht sich der Held als Hobby-Dentologe. 
Auch bei jungen Erwachsenen und jungen Senioren ist die Zahl der Parodontalerkrankungen rückläufig. Dennoch ist die Angst vor dem Besuch in der Zahnarztpraxis in Deutschland groß, fürchtet sich zum Beispiel jede/r Zweite vor dem Bohrer. Weil mitunter für das Beheben einer Odontalgie, dem vom Zahn ausgehenden Schmerzgefühl, kurzzeitig Schmerzen nötig sind. “You’ll be a dentist! You have a talent for causing things pain”, singt Steve Martins sadistischer Zahnarzt in Little Shop of Horrors von der Berufs-Prognose seiner Mutter. Es verwundert daher nicht, dass in Filmen gerne Zahnschmerzen als probates Mittel der Folter herhalten müssen. Sei es zur Bestrafung für ein vorheriges Verhalten oder um Informationen zu erhalten.

So lässt Jason Isaacs Kurklinik-Arzt in Gore Verbinskis A Cure for Wellness dem Wall-Street-Broker von Dane DeHaan in einen gesunden Zahn bohren, während Choi Min-siks Protagonist in Park Chan-wooks Oldboy seinem Gegenspieler für Hinweise die Zähne per Hammer zieht. Humorvoll wird der Zahnverlust wiederum in Komödien inszeniert, egal ob in Home Alone Joe Pescis Goldzahn dran glauben muss oder in The Hangover Ed Helms’ Zahnmediziner selbst Hand anlegt. Eher subtil und Zeichen für anders gelagerte Probleme äußern sich in Darren Aronofsys Requiem for a Dream das Zähneknirschen der Diätpillen-Abhängigen Ellen Burstyn oder Essie Davis’ Zahnprobleme in Jennifer Kents Psycho-Horror-Film The Babadook.

Zähne können in Filmen natürlich noch andere Rollen spielen. Als scheinbarer Hilferuf in einer Rabbi-Anekdote in A Serious Man der Coen-Brüder oder als Auslöser für die Begegnung zweier Eheleute in Orson Welles’ Meisterwerk Citizen Kane. Dass sich mittels der individuellen Charakteristika unserer Zähne und über einen Gebissabgleich ante und post mortem unsere Identität nachweisen lässt, integrierten sowohl John McTiernans Thriller Wild Things als auch Jonathan Lynns Komödie The Whole Nine Yards in ihre Handlungen. Schmerzen können natürlich auch anderen durch Zähne verursacht werden, so wie durch Jess Weixlers mit einer Vagina dentata ausgestatteten Figur in Mitchell Lichtensteins Horror-Film Teeth von 2007.

Zähneknirschen wie in Darren Aronofskys Requiem for a Dream kann zu Schmerzen führen.
Im Allgemeinen spielen Zähne und Zahnschmerzen in Filmen dann aber doch eine eher geringere Rolle. Vielleicht auch deshalb, weil die Assoziation mit den eigenen Ängsten als für zu groß erachtet wird. Bei manchen Menschen ist die Dentalphobie derart ausgeprägt, dass sie sich gar nicht mehr zu den in Deutschland erwerbstätigen rund 71.500 Zahnmedizinern wagen. So gibt die Barmer-Krankenkasse an, dass im Saarland und in Bremen ein Drittel der Bevölkerung nicht regelmäßig zum Zahnarzt geht. Bundesweit spart sich ebenfalls jede/r Vierte den jährlich von den Krankenkassen zur Vorsorge empfohlenen Besuch. Dabei kann es wie erwähnt oft zu spät sein, wenn erst nach langer Odontalgie über Jahre hinweg letztlich ein Arzt aufgesucht wird.

Mitunter wird neben Traumata aus Kindheitstagen auch das Schamgefühl gegenüber dem eigenen Mundbereich als Grund für die dentale Abstinenz angegeben. Sprich: Die Leute wollen anderen nicht die Zähne zeigen. Und geben stattdessen lieber ein Stoßgebet an die Heilige Apollonia ab. Zum Abschluss dieser Ausgabe der Top 5 wird nun fünf Filmen, die in gewisser Weise exemplarisch für die jeweils unterschiedliche Darstellung und Bedeutung von Odontalgie innerhalb des Mediums stehen, quasi auf den Zahn gefühlt. Das Ganze natürlich – wie immer – höchst subjektiv. Das müssen diejenigen, die anderer Meinung sind, in diesem Fall dann wohl zähneknirschend hinnehmen. Und ehe sich jetzt noch eine/r ins Feuer wirft:


5. The Spy Who Loved Me (Lewis Gilbert, UK 1977): Unterwegs mit seiner KGB-Kollegin Triple X (Barbara Bach) wird James Bond in The Spy Who Loved Me auf einer Zugfahrt durch Ägypten von Handlanger Jaws (Richard Kiel) attackiert. Physisch gegen diesen unterlegen, bleibt 007 nichts übrig, als das Metallgebiss seines Widersachers mit einem Lampenfuß unter Strom zu setzen, ehe ihm Jaws das Genick brechen kann. Zahnschmerzen als letzter Ausweg der Selbstverteidigung haben dabei eher Seltenheitswert.

4. Marathon Man (John Schlesinger, USA 1976): Eine der eindringlichsten dentalen Folterszenen der Filmgeschichte findet sich in John Schlesingers Marathon Man. Dort fühlt der ehemalige KZ-Zahnarzt Christian Szell (Laurence Olivier) buchstäblich Geschichtsstudent Babe (Dustin Hoffman) auf den Zahn – genauer: seine Nerven (“Is it safe?”). Im Ausland untergetaucht, lebt Szell von Diamanten, die er einst KZ-Häftlingen abnahm. Auf der Suche nach diesen findet er in Babe jedoch keinen hilfreichen Informanten.

3. Kynodontas (Giorgos Lanthimos, GR 2009): Zuhause eingesperrt und abseits der Gesellschaft aufgezogen, dürfen in Kynodontas drei Kinder laut ihrem Vater (Christos Stergioglou) erst das Elternhaus verlassen, wenn sie als Zeichen der Reife ihren Eckzahn verlieren. Die älteste Tochter (Angeliki Papoulia) hilft mit einer Hantel kurzerhand nach – und verschafft sich mit dem Ausschlagen ihres Eckzahns Legitimation für die Flucht von Zuhause. Hier repräsentiert der Zahnschmerz somit das Erlangen von Freiheit.

2. Cast Away (Robert Zemeckis, USA 2000): Manchmal wünscht man sich dann doch einen Zahnarzt, so wie der auf einer einsamen Insel in Cast Away gestrandete Chuck (Tom Hanks). Ein mit Karies befallener Zahn löst eine Infektion seines Zahnfleischs aus, was dem Überlebenden eines Flugzeugabsturzes keine Wahl lässt, als sich mit Hilfe eines Schlittschuhs kurzerhand selbst des kranken Zahns zu entledigen. Da kann man einmal sehen, wie wichtig es doch ist, sich zwei Mal täglich die Zähne zu putzen.

1. Jackass 3D (Jeff Tremaine, USA 2010): Was in den anderen Beispielen lediglich Fiktion war, setzte Jackass 3D in die Realität um. Ehren McGhehey tat sich als Freiwilliger hervor und ließ sich einen krummen Zahn ziehen – festgebunden an einen startenden Lamborghini. All das, weil ihm Chris Pontius versprach, man könne den Zahn erneut einfügen, allerdings dieses Mal korrigiert. Was sich letztlich, wen wundert’s, als falsche Behauptung herausstellte. “The tooth”, verkündet Johnny Knoxville, “is officially pulled.”

2. Februar 2018

Wind River

I got some good news and I got some bad news.

Im Jahr 2009 war es dann schließlich so weit: Die USA entschuldigten sich bei den amerikanischen Ureinwohnern für all die Gewalt und Misshandlung, die seitens der Bevölkerung an ihnen verübt wurden. Wenn auch nicht öffentlich und im Grunde nicht wirklich. Präsident Obama unterzeichnete zwar eine Art Schuldeingeständnis mit dem Defense Appropriations Act, dieser wurde jedoch nie offiziell verkündet, wie auch Obama selbst sich nie öffentlich bei den Ureinwohnern entschuldigte. “I got some good news and I got some bad news”, sagt der Fährtensucher Cory (Jeremy Renner) an einer Stelle in Taylor Sheridons Krimi Wind River. Und könnte damit im Grunde über die Situation der amerikanischen Ureinwohner als Ganzes referieren.

Sheridans Film streift diese, erzählt im Kern jedoch einen gewöhnlichen Mord-Krimi. Auf dem Gelände des Wind River Indian Reservats findet Cory während der Jagd auf einen Berglöwen den Leichnam einer jungen Frau. Zu Tode erfroren und zuvor vergewaltigt. Zur Klärung der Zuständigkeit und des genauen Verbrechens wird FBI-Agentin Jane (Elizabeth Olsen) hinzugerufen. Die nimmt bereitwillig Corys Hilfe und Kenntnisse innerhalb des Waldgebietes und des Reservats an, um mit ihm und Ben (Graham Greene), Chef der Stammes-Polizei, den Fall aufzuklären, den Jane als Mord klassifiziert. Für Cory geraten die Ermittlungen zur Reise in die Vergangenheit, starb Jahre zuvor doch seine eigene jugendliche Tochter unter ähnlichen Umständen.

Amerikanische Ureinwohner machen etwa ein Prozent der US-Bevölkerung aus, viele von ihnen leben in Reservaten unter eigenen Rechtsbefugnis. Dort entsprechen die Lebensumstände jedoch in der Regel denen von Dritte-Welt-Ländern. Es gibt kaum Arbeit und viel Armut – die Kombination daraus bietet der Drogenkultur Hochkonjunktur. Keine ethnische Gruppe in den USA ist drogenanfälliger als die der Ureinwohner. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt oft keine $7,000 im Jahr, die Möglichkeiten für die Jugend sind gering und enden oft in Besserungsanstalten. Allesamt Aspekte, die Sheridan für seine Szenerie in Wind River aufgreift, um diese geschickt anzureißen, ohne sich allerdings dabei zu sehr in ihnen zu verlieren.

“I’m so tired of fighting this life”, entfährt es da Martin (Gil Birmingham) an einer Stelle, dem Vater des Opfers. Die Tochter ist tot, Sohnemann Chip lebt zwar am Ende der Straße, aber aufgrund seiner Drogenabhängigkeit doch in einer anderen Welt. Als Jane, Cory und Ben später Chip einen Besuch abstatten, eskaliert die Situation mit ihm und seinen Freunden gegenüber den Gesetzeshütern. “They expect to go to prison”, klärt Ben die junge FBI-Agentin auf. “It’s a rite of passage.” Es gehört zum Erwachsenwerden für diese Jugend dazu, ist normal, wird erwartet. Ein teuflischer Kreislauf dieser Bevölkerungsgruppe, den vor einem Jahr bereits die Dokumentation The Seventh Fire von Jack Pettibone Riccobono sehenswert skizzierte.

Die Situation der Ureinwohner auf dem Reservat ist in Wind River wie erwähnt aber nur Schauplatz, der Kern der Geschichte könnte sich im Grunde auch überall in Amerika und nicht nur in Wyoming abspielen. Nach und nach tasten sich Cory und Jane vor, um nachzuvollziehen, was mit dem Opfer passierte und wo. Eine besondere emotionale Note erhält die Geschichte dabei dadurch, dass Cory selbst ein Betroffener ist. Er weiß, was Martin durchmacht, was den Szenen zwischen den beiden Männern mehr Gewicht verleiht. Überaus gekonnt und atmosphärisch dicht inszeniert Sheridan den Verlauf des Mordfalls, nur um kurz vor Schluss in dem ausartenden Finale nahezu alles in den Sand zu setzen, was er sich aufbaute.

Plötzlich gerät das ruhige Krimi-Drama zum blutigen Action-Western. Primär weil Sheridan die Auflösung unverhältnismäßig ausarten lässt, kaum Motivation für das Gezeigte liefert, sobald die Hintergründe des Mordes deutlich werden. Auf einmal denkt Wind River nur so weit, wie seine Figuren schießen können. Was viel von dem einreißt, was sich der Film in den 60 Minuten zuvor geschickt aufgebaut hat. Dabei ließe sich der Schlussakt sogar weitestgehend auf die Weise und mit der Auflösung erzählen, wie es Sheridan tut (dramatisches Potential ist erkennbar), nur übertreibt es der Drehbuchautor in seinem zweiten Spielfilm, indem er die Geschehnisse in Rückblenden sowie danach überzieht und ins Absurde abdriften lässt.

Sauer stößt auch die Entscheidung auf, eine Geschichte über amerikanische Ureinwohner und einen Mordfall auf einem Reservat mit zwei weißen Hauptdarstellern zu erzählen. Wo dies bei Jane als außenstehende FBI-Agentin noch verständlich sein mag – und man dankbar sein muss, dass Wind River nicht die Route von Michael Apteds Thunderheart wählt –, will nicht wirklich klar werden, wieso Cory ein verständnis- und respektvoller Weißer gegenüber den Shoshonen sein muss, anstatt selbst einer zu sein. Gil Birmingham hätte die Rolle ebenso gut getragen, wie seine Leinwandpräsenz zeigt. Auch wenn der Film alleine mit Elizabeth Olsen in der Hauptrolle wohl kaum dem weißen US-Publikum gegenüber vermarktbar gewesen wäre.

Grundsätzlich überzeugt das Ensemble, das Julia Jones als Corys Ex-Frau, Kelsey Asbille als Martins Tochter und Mordopfer Natalie sowie Jon Bernthal und Martin Sensmeier in Nebenrollen aufweist. Insbesondere auch Jeremy Renner, dem obigen Absatz zum Trotz. Die Szenerie Wyomings sowie Utahs, eingefangen von Ben Richardson, unterstützt die Kraft und Schönheit, die mit amerikanischen Ureinwohnern verbunden werden. Veranschaulicht aber zugleich die Trostlosigkeit ihrer Situation. Ruhe und Abgeschottenheit können etwas Friedliches, wie sich in Wind River zeigt aber auch etwas Tödliches haben. Selbst wenn wir vom Wind River Indian Reservat sowie dem angrenzen Umland nur ein peripheres, statt ein wirkliches Bild erhalten.

Obschon der Großteil des dritten Akts viel von dem unterminiert, was er sich zuvor aufgebaut hat, kriegt Sheridan am Ende in den Schlussminuten doch noch leicht die Kurve. Insofern zeigt Wind River zwei Gesichter (“I got some good news and I got some bad news”), besitzt aber zumindest den Anstand, Schicksal und Historie der amerikanischen Ureinwohner nicht auszublenden, sondern in Ansätzen anzureißen, statt über die Vorfälle der Geschichte zu schweigen. “After all that we've been through I will make it up to you”, sang in “Hard to Say I’m Sorry” die US-Band Chicago. Die gleichnamige Stadt verdankt ihren Namen den Potawatomi, die sich wie die über 500 anderen Stämme sicher über eine Entschuldigung freuen würden. Besser spät als nie.

5.5/10