31. Dezember 2020

I’m Thinking of Ending Things

I suppose I watch too many movies.


« Non, je ne regrette rien », singt Édith Piaf in ihrem gleichnamigen Lied. Sie bereue nichts – etwas, das die Figuren in Charlie Kaufmans Filmen nicht unbedingt von sich sagen. So auch in seinem jüngsten Werk I’m Thinking of Ending Things, das dieses Jahr direkt auf dem Streaming-Dienst Netflix landete und sich wie immer um Einsamkeit, Liebe, Beziehungen und personelle Leere dreht. Nominell wird darin vom Antrittsbesuch einer jungen Frau bei den Eltern ihres neuen Freundes erzählt. Im Kern geht es Kaufman jedoch weniger um das Spezielle, sondern wie immer das Allgemeine. Nicht um das Leben einer einzelnen Person, vielmehr das Leben generell. All seine Höhen und Tiefen – kompakt kondensiert in einem einzigen Abend.

Eine junge Liebe ist es, die Lucy (Jessie Buckley) und Jake (Jesse Plemons) ein. Vor einem Monat lernten sie sich erst bei einem Bar-Quiz kennen, doch Lucy – wie der Filmtitel vorwegnimmt – denkt bereits jetzt daran, einen Schlussstrich zu ziehen. “The idea is new. But it feels old at the same time”, fasst sie ihr Dilemma oxymoronisch zusammen. Ähnlich verhält es sich mit dem Besuch bei Jakes Eltern, dem ersten gemeinsamen Trip des Paares, der dennoch zugleich Nostalgie erwecke, wie Lucy sinniert. Die aufkommende Stille während der Fahrt versucht Jake dadurch im Keim zu ersticken, indem er seine Freundin nach deren Biologie-Studium und ihrer Ganglien-Forschung befragt oder Lucy von ihr selbstverfasste Gedichte zum Besten geben lässt.

Der Ausflug zu Jakes Elternhaus führt nicht nur zur Vorstellung bei seinen Erzeugern, sondern unweigerlich auch in seine Kindheit. Gegenwart und Vergangenheit treffen aufeinander und werfen Schatten auf die Zukunft. Kaufman beginnt im Verlauf verstärkt, die Realitätsschrauben zu lockern – was ist Schein, was Sein? Handelt es sich um einen unzuverlässigen Erzähler, ein unzuverlässiges Publikum oder vielleicht beides? Lucys Name ändert sich zuerst in Louisa, dann in Lucia und wieder zur Lucy; ihr Studienfach wiederum wechselt im Laufe des Abends von Biologie zu Quantenphysik und Gerontologie. “I’m feeling confused”, gesteht Jakes Vater (David Thewlis) später einmal – womöglich wie auch mancher Zuschauer.

Zeit und Raum verschmelzen mehr und mehr. In einer Szene ist Jakes Mutter (Toni Collette) jung, in der nächsten ein Pflegefall. Sein Vater erst gewitzt, dann dement. Wahrnehmen kann dies nur das Publikum. “We’re stationary and time passes through us”, sagt Lucy mal. “Time is another thing that exists only in the brain”, philosophiert Jake an einer anderen. Dass Zeit im Geiste wahrgenommen werden, beschrieb bereits Augustinus. In dieses Verständnis fügt sich gut ein, dass wir die Anfänge von Lucys und Jakes Beziehung erleben, die gleichzeitig deren Ende markieren. Alles ist im Fluss, das Spiel mit Zeit zeichnete bereits Charlie Kaufmans meisterhaftes Regie-Debüt Synecdoche, New York, das vor elf Jahren erschien, aus.

I’m Thinking of Ending Things
fokussiert sich zwar weitestgehend auf Lucy, erzählt aber im Grunde von Jake. Von seinem Selbstbild und seiner Einordnung von diesem in seiner Umwelt. Jake liebt Musicals, allen voran Okalahoma!, besitzt rudimentäres Wissen über Ganglien, kennt die Werke von Anna Gavon, Leo Tolstoi oder David Foster Wallace und schätzt die Gedichte von William Wordsworth. Letzterer hatte viele von ihnen einer Dame, die ebenfalls Lucy hieß, gewidmet – “a beautiful, idealized woman”, wie Jake weiß. Er hat hohe Ansprüche an sich selbst, scheint diese aber nie entsprechend verwirklicht zu haben. Wovon auch gewisse Anspannungen während des Abendessens im Beisein seiner beiden Eltern zeugen.

Bestimmt, entnervt und aggressiv gebiert sich Jake. Nervös, gar ängstlich wirken die Blicke, die seine Mutter wandern lässt. “Jake can be controlling”, sagt sie und die Atmosphäre erinnert an Joe Dantes Segment “It’s a Good Life” aus Twilight Zone: The Movie. Bloß kein falsches Wort sagen, bloß keinen Zorn auf sich ziehen. Jakes Eltern wirken bereits abverurteilt in dieser lebenslangen Haft jenes emotionalen Gefängnisses, für Lucy, so suggeriert der Film, besteht noch Hoffnung – “I’m thinking of ending things”. Wenn nicht jetzt, wann dann? Lieber jetzt, als nie. Oder wie es Lucy nennt: “the lie of it all”, all diese Platitüden. Gott hat einen Plan, alles wird gut, es ist nie zu spät. Die Hoffnung ruht auf der Zukunft, wenn Heute zu Gestern wird.

Nur: Menschen können nicht in der Gegenwart leben, wirft Lucy ein. “So they invented hope.” Darin begründet liegt der Glaube, der Monotonie des Alltags zu entkommen, in einer Nebenhandlung in einem Schulhausmeister (Guy Boyd) personifiziert. Dessen Tage sind immer gleich, ein stagnierendes Manifest in einem Meer an Pubertät und Erwachsenwerden. Wo die Schüler der Einrichtung entkommen, zählt der Hausmeister zum Inventar. Wo die Jugendlichen weiterziehen, in eine erwartungsvolle Zukunft, markiert der Hausmeister mit seiner Gegenwart ihre Vergangenheit. “The onslought of identical days” beschrieb Lucy in ihrem rezitierten Gedicht. “It’s like you wrote it about me”, bemerkt Jake, ohne die Tragik zu erkennen.

Lucy, erwidert sie, zielte auf “universality in the specific” ab. Pars pro toto oder, um wieder auf Kaufman zu verweisen, eine Synekdoche. I’m Thinking of Ending Things besitzt viel vom Humor seines Auteurs, obgleich weniger subtil als in seinen früheren Werken. Gerade dann, wenn sich bei Wiederholungssichtungen zeigt, wie eindeutig der Film im Grunde in seiner ursprünglichen vermeintlichen Uneindeutigkeit ist. Wenn Jake hinweist, dass die Menschen von David Foster Wallaces Selbstmord mehr wissen als seinen Büchern (“suicide becomes the story”) oder ein Zitat von Pauline Kael zu A Woman Under the Influence sich auf Lucy und ihre vielen Interessen münzen ließe (“nothing that she does is memorable because she does so much”).

“We hope for the future, and then we turn to the past, and then we begin slowly and desperately to hope for the past”
, beschrieb Henri Barbusse in seinem Werk Light. Eine Zeile, die Jake gefallen könnte. “So many wrong turns” habe er in seinem Leben genommen, bedauert Jake dann auf der nächtlichen Heimfahrt. “The world is larger... than the inside of your head”, realisiert er – allerdings womöglich zu spät. Hätte, wäre, wenn... – die Rückbesinnung auf das Vergangene mit Hoffnung für die Gegenwart bildete bereits das Fundament in Kaufmans jüngstem Film Anomalisa. Prinzipiell fügt sich Jake ganz gut ein in die männliche Galerie an Protagonisten, denen ihr Ego(zentrismus) im Leben am meisten im Weg zum Glück steht.

Glücklich ist im Universum von Charlie Kaufman keine Figur, gefangen in Repetition, bis eine Erlösung erfolgt. Ein trostloses Bild, nicht unähnlich der verschneiten Landschaft, die Lucy und Jake passieren. “Beautiful... in a bleak kind of way”, beschreibt Lucy diese – und könnte zugleich über I’m Thinking of Ending Things sprechen. Der verliert sich in seinen Schlussminuten ein wenig in seinen vielen Referenzen, ist letztlich – zumindest nach der ersten Sichtung – vielleicht etwas zu verkopft und durchgeplant, als dass seine Kreativität einen vollends einnimmt (ähnlich haderte auch Anomalisa). “Do it or do not do it – you will regret both”, wusste schon Søren Kierkegaard in seinem Buch Either/Or. Folglich kann man am Ende also nur verlieren.

8.5/10

23. Dezember 2020

Midnight Family

No school, no ambulances.

Im englischen Sprachraum spricht man von “ambulance chasers”, wenn Anwälte hinter Unfallmandaten her sind und das schnelle Geld wittern. In Luke Lorentzens Dokumentarfilm Midnight Family erleben wir eine andere Form der “ambulance chaser” – mehrere Wettrennen von Rettungswagen untereinander gegen die Zeit. Weniger, um das Leben von Unfallopfern zu retten, sondern um mit deren Transport den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Denn da es in Mexiko-Stadt, wo der Film spielt, für die neun Millionen Einwohner nur 45 öffentliche Rettungswägen gibt, füllen viele privatisierte Sanitäter die vorhandene Lücke der Krankenhaustransporte.

Lorentzen begleitet hierbei den Ochoa-Clan, die einen Rettungsdienst als Familienunternehmen betreiben. Vater Fer Ochoa war einst beim Roten Kreuz ausgebildet, mit Sanitäter Manuel Hernandez und seinem ältesten Sohn Juan am Steuer suchen sie seither jede Nacht bis in die Morgenstunden nach Verletzten, denen sie die Fahrt zum Krankenhaus in Rechnung stellen können. Und müssen sich dabei mitunter sputen, wenn ein Konkurrent ebenfalls auf die Durchsage im Polizeifunk angesprungen ist. Midnight Family durchzieht dabei durchweg eine gewisse ethische Frage, ob die Vorgehensweise der Ochoas gerechtfertigt ist. Aber was ist die Alternative?

Midnight Family und der gezeigte desolate Zustand der Notfallversorgung in Mexiko-Stadt erinnert in Zügen an Ilian Metevs Dokumentation Poslednata lineika na Sofia, die vor sieben Jahren das einzige Reanimationsteam für die 1,2 Millionen Einwohner umfassende bulgarische Stadt Sofia begleitete. Wartezeiten bis zu 40 Minuten geben Juan Ochoa und Co. in einer Szene gegenüber einem Patienten an, nach denen kein öffentlicher Rettungswagen eingetroffen sei. Vermutlich deutlich überzogen in der Dauer, aber womöglich auch nicht übertrieben. Es erscheint fraglich, wie die 45 städtischen Rettungswägen effektiv die ganze Stadt versorgen können.

In einem Artikel von AP wiederum ist von „Ambulanz-Piraten“ die Rede. Diese würden den städtischen Rettungswagen zuvorkommen, um bei den Opfern horrende Preise zu verlangen. Was durchaus der Fall sein mag, angesichts von Midnight Family aber zumindest im Fall der Ochoas eher unzutreffend ist. “We didn’t make a single peso”, resümiert Juan nach einer langen Nacht, wo der beförderte Patient den Transport hinterher nicht bezahlen konnte, die Ochoas also mit medizinischem Equipment und Benzin am Ende sogar draufgezahlt haben. Reich wird die Familie folglich mit ihrer Arbeit nicht, hält sich vielmehr eher schlecht als recht über Wasser.

Es ist ein zweischneidiges Schwert, welches Lorentzen dem Zuschauer hier präsentiert, ohne eine Antwort mitzuliefern. So stellen die Ochoas in einem Fall 3.800 Pesos für einen Transport ins Krankenhaus in Rechnung – umgerechnet etwa 155 Euro. Die Alternative wäre, eventuell lange und im schlimmsten Fall vergeblich auf den städtischen Rettungswagen zu warten. Und wenn es dumm läuft, zu lange. Die Ochoas sind zugleich darum bemüht, Patienten in gewisse private Kliniken zu bringen, die ihnen hierfür eine Provision in Aussicht stellen. Was andererseits nötig erscheint, wenn sie für Unfalltipps Polizisten beteiligen oder teils auch bestechen müssen.

Eine Einnahme von 1.500 Pesos für eine Fahrt wird dann durch Vier geteilt, abzüglich aller Kosten für Benzin, Verpflegung und Ausrüstung bleiben pro Person am Ende kaum zehn Euro Verdienst übrig. Ein magerer Stundenlohn, aber für Mexiko-Stadt wohl auch kein schlechter, wo sich das durchschnittliche Monatseinkommen unter 1.000 Euro bewegt. “If no one got sick, there would be no doctors”, sieht der erst 17 Jahre alte Juan die Korrelation zwischen Verletzten und Verdienst pragmatisch. Zwischen den Einsätzen berichtet der Zahnspangen-befleckte Teenager seiner Freundin am Telefon vom Erlebten, der jüngere Bruder schlägt derweil die Zeit tot.

Wie in Poslednata lineika na Sofia ist der Zuschauer nah dran an den Protagonisten, erlebt ihren Alltag mit. Es ist ein Alltag der Zwiespälte, wo sowohl das eigene Einkommen gesichert werden muss, als auch das Wohl der Verletzten Berücksichtigung erhält. Bei der Entscheidungsfindung helfen die Ochoas gerne mal nach, wenn sie bestimmte Krankenhäuser empfehlen, wo sie Rückvergütungen erwarten können. Mitunter gehen sie aber auch oft leer aus, wie Juan berichtet, bisweilen werden sie nur für ein Drittel ihrer Fahrten bezahlt. Was dann im Umkehrschluss wiederum auch keine großen Investments in vielleicht bessere medizinische Ausrüstung zulässt.

Manchmal ist die beste Medizin einfach eine Umarmung, wie im Fall einer Jugendlichen, der ihr Freund die Nase gebrochen hat. Das Publikum macht sich sein eigenes Bild von den Ochoas, muss abwägen, wie es Szenen und Situationen einzuordnen hat – oder überhaupt einordnen kann. Dass die Ochoas ein Familienunternehmen aus dem Sanitätsdienst machten, scheint naheliegend. Der jüngste Sohn vernachlässigt die Schule, um die Nächte auf der Rückbank mitzufahren – man mag sich vorstellen, wie dies bei Juan selbst zuvor als Kind der Fall war. Die beruflichen Aussichten in Mexiko-Stadt wirken begrenzt, jeder muss irgendwie über die Runden kommen.

Offensichtlich macht Luke Lorentzen in seinem Film aber auch, dass wer die Hilfe und Versorgung anderer Menschen zum Geschäftsmodell macht, damit letztlich eher rote als schwarze Zahlen schreiben dürfte. Ähnlich heldenhaft wie die Figuren aus Poslednata lineika na Sofia geraten die Ochoas vielleicht nicht, dafür spiegeln sie authentisch die Probleme wider, welche die medizinische Versorgung auf der einen Seite und das finanzielle Überleben der Einwohner auf der anderen Seite in Mexiko-Stadt plagen. Private Rettungswägen und „Ambulanz-Piraten“ sind somit in der mexikanischen Hauptstadt ein Geschäftsmodell, das buchstäblich aus der Not geboren ist.

7/10

30. November 2020

Swallow

Fake it til you make it.


Es gibt sie noch, bemerkenswerte Filme – primär, aber nicht singulär, weil sie sich offen zur Interpretation lassen. Und damit dem Zuschauer die Option geben, individuelle Dinge aus ihnen herauszulesen. Viel kann, nichts muss. Lorcan Finnegans Vivarium war dieses Jahr bereits ein solcher Film, Carlo Mirabella-Davis’ Swallow ist ein weiterer. Erzählt wird darin von einer jungen Frau, Hunter (Haley Bennett), die an der Spitze angekommen scheint, weg vom Sanitär-Einzelhandel und eingeheiratet in eine reiche Familie. Statt der Spitze stellt sich ihr neues Leben jedoch vielmehr als Tiefpunkt heraus, kanalisiert in der Entwicklung eines Pica-Syndroms, das – je nach Zuschauer-Sicht – als Metapher auf Hunters Situation gelesen werden darf.

Der Film beginnt dabei bereits mit einer solchen, wenn wir ein in die Enge getriebenes Lamm sehen, dass anschließend filetiert und für ein Mahl der Familie Conrad zubereitet wird. Lammfromm und unschuldig wirkt auch Hunter inmitten dieser Familie, die mit dem Zuwachs später ähnlich kompromisslos umgehen wollen wie dem Tier zuvor. Hunters Mann Richie (Austin Stowell) ist gerade zum jüngsten Geschäftsleiter in der Firma seines Vaters (David Rasche) ernannt worden. Das frisch vermählte Paar lebt dabei in einem luxuriösen Haus, dass Richies Eltern bezahlt haben. Deren Sohn übt wohl das aus, was David Graeber als “bullshit job” konnotiert hat. Zumindest ist er beschäftigt, was Hunter nicht von sich behaupten kann.

Sie schlägt die Zeit daheim mit Fernsehen und Mobile Games tot, ehe sie sich für die Rückkehr ihres Mannes schick macht und ebenso drapiertes Essen auftischt. “I feel so lucky”, seufzt sie, wird von ihrem Gatten aber gar nicht wahrgenommen. Ein wiederkehrendes Merkmal, in den Szene mit den Conrads ist Hunter dabei, aber nie mittendrin. “Push yourself to try new things” lautet der Rat in einem Selbsthilfebuch, das Hunter in ihrer Freizeit liest – und kürt den Satz fortan zu ihrem Mantra. Schluckt immer wieder neue Gegenstände, von Murmeln über Büroklammern und Batterien, um sie durch ihren Verdauungstrakt zu jagen und nach erfolgreichem Ausscheiden danach wie kleine Trophäen in einem Schauglas auszustellen.

Für Hunter ist ihr Pica-Syndrom ein Mittel, um mit ihrem Alltag fertig zu werden. Um all das zu verdauen, was ihr Richie und seine Eltern servieren. Als sie bei einem Abendessen eine Geschichte erzählen soll, dann aber von Richies Vater abgewürgt wird, sehen wir sie das erste Mal einen Eiswürfel in den Mund stecken. Nachdem ihre Schwiegermutter (Elizabeth Marvel) ihre kurzen Haaren kritisiert (“You should grow it out. Richie likes girls with long, beautiful hair”), folgt schließlich mit einer Murmel ein festes Objekt. Und repräsentiert damit die Empörung, die mit der Aussage der Schwiegermutter einherging. Wenn Hunter anschließend die Murmel wieder ausscheidet, hat sie nicht nur das Objekt, sondern auch die Beleidigung zugleich verdaut.

Immer wieder sehen wir, wie die Conrads Hunter in ihre Schranken verweisen. Und wie sich die Objekte auf ihrem Schauglas vermehren. Das Schlucken der Objekte, die immer gefährlicher werden, sorgt darüber hinaus auch für etwas Aufregung in einem sonst frustrierend banalen Alltag. Das Schlucken “made me feel in control”, gesteht Hunter später einer Psychotherapeutin, zu der sie ihr Schwiegervater schickt, nachdem ihr Pica-Syndrom auffliegt. “I’m not telling you how to do your job, but I’m paying for this. Results – I want results”, macht er der Psychotherapeutin klar. Und betont das Selbstverständnis, dass jedes Subjekt letztlich irgendwie nur ein Objekt ist, solange es von dem Geld anderer Leute abhängig gemacht wird.

Auch Richie entgegnet an einer Stelle gegenüber Hunter, er bezahle für alles, während sie nur rumsitze. Dabei scheint dieses Szenario gewollt, wirkt Hunter für die Conrads eher wie ein Inkubationsprojekt, entsprechend die Freude, als diese tatsächlich im Verlauf schwanger wird. Passend dazu ist ihr Haus mit bodentiefen Fenstern ausgestattet, auch die Patio von einem Glaszaun umrahmt. Hunters Welt wirkt so offen und weitläufig, in Wahrheit ist sie jedoch in ihren eigenen vier Wänden gefangen. Geradezu zynisch wirkt es dann, als Richie später mit dem syrischen Kriegsüberlenden Luay (Laith Nakli) eine „Haushaltshilfe“ für Hunter einstellt, die der jungen Frau beim Nichtstun unter die Arme greifen soll und vielmehr als Aufpasser dient.

Es gibt Dinge, die man im Leben schlucken muss. Die es zu verdauen gilt. Und Dinge, an denen man sich verschluckt. Mirabella-Davis inszeniert dies buchstäblich in Swallow, das sich im Schlussakt zur Emanzipationsgeschichte entwickelt. Nicht nur von Hunters Lebens Leben in der Gegenwart, sondern auch von dem Traumata ihrer Vergangenheit, denen sie sich letzten Endes stellen muss. Haley Bennett ragt dabei aus einem solide spielenden Ensemble heraus, spielt ihre Rolle verletzlich und naiv, gleichzeitig aber auch selbstbestimmt. Stowell, Rasche und Marvel fallen demgegenüber etwas ab, was der Tatsache geschuldet sein mag, dass ihrer Figuren weniger ausgearbeitet sind, sondern hauptsächlich durch ihre Position personifiziert.

“Fake it til you make it”, lautet das Mantra von Hunters Schwiegermutter, das sie ihr mit auf den Weg gibt. Und das wiederum im Grunde auch den Prozess beschreibt, den Hunter im Verlauf von Swallow durchschreitet. “I just wanna make sure I’m not doing anything wrong”, sagte sie noch im ersten Akt. Wandelt jedoch den Ansatz, nicht das Falsche machen zu wollen, schließlich zu dem, das Richtige zu tun. Carlo Mirabella-Davis beschränkt sich in Swallow auf das Essentielle, spielt geschickt mit Motiven und Metaphern, und kann sich auf eine starke Hauptdarstellerin verlassen. Endend auf einer Entscheidung und einem Schlussbild, die nicht für jeden einfach zu verdauen sind. Die das Publikum aber dennoch zu Schlucken hat.

7.5/10

22. November 2020

Tenki no Ko [Weathering with You]

Is that all you’ve written so far?


Wenn man sich auf etwas verlassen kann, dann, dass man sich bei der Wettervorhersage auf nichts verlassen kann. Mitunter zeigt die Sonnenschein an, während man gerade im Regen steht. Letzterer ist inzwischen immer mehr Mangelware, was sich in Dürreperioden auch auf die Landwirtschaft auswirkt. Dabei hat eine Stadt wie Berlin oder Paris im Schnitt um die 165 Regentage im Jahr – und damit deutlich mehr als das japanische Tokio, wo es rund 117 Tage jedes Jahr regnen soll. Über ausbleibende Ergüsse würde sich in Shinkai Makotos jüngstem Film Tenki no Ko – international als Weathering with You vertrieben – wohl niemand in Tokio beschweren, regnet es innerhalb der Geschichte doch seit zwei Monaten fortwährend.

Vom Regen in die Traufe – so ließe sich im Grunde auch das Schicksal des Protagonisten Hodoka (Daigo Kotaru) beschreiben. Der 16-Jährige ist von zuhause aus ungeklärten Gründen ausgebüxt und hat sich nach Tokio durchgeschlagen, wo der Ausreißer nun auf der Straße rumlungert, in Webcafés nach Jobs googelt und sich mit Big Macs über Wasser hält. Bis er eine Stelle als Autor für den Textdienst von Keisuke (Oguri Shun) und Natsumi (Honda Tsubasa) ergattert, inklusive Unterkunft und Verpflegung. Keisuke bereitet für Magazine Stadtlegenden auf, dafür soll Hodoka einem “sunshine girl” nachrecherchieren, das er in Hina (Mori Nana) zu erkennen glaubt. Und in der Tat vermag Hina per Gebet die Sonne hervorzulocken.

Hodoka und Hina beginnen alsbald einen buchstäblichen Wetterdienst, den Privatpersonen engagieren können, damit ihr Flohmarkt dem Regen fernbleibt oder zum Todestag des Liebsten ausnahmsweise die Sonne scheint. “Messing with nature has a cost” heißt es dabei eingangs bereits an einer Stelle und auch später wird ein älterer Mann vorausdeuten: “everything comes at a price.” Insofern ahnt man als Zuschauer schon, dass sich um Hina und ihr Talent alsbald ein Drama entspinnen wird. Ähnlich wie in Shinkais Vorgänger Kimi no na wa. obliegt es der männlichen Figur, alles daran zu setzen, das Schicksal des love interests zum Guten zu wenden. Dass Tenki no Ko im selben Universum zu spielen scheint, passt da ins Bild.

Der Film erzählt dabei weniger eine YA-Liebesgeschichte als ein Coming of Age für die drei Hauptfiguren, zu denen mit etwas Abstand auch Keisuke zu zählen wäre. Letzterer ist bemüht, sein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken, um nach dem Tod seiner Frau das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter zurückzuerlangen. Eine Elternrolle nimmt auch Hina ein, die nach dem Tod ihrer Eltern für ihren jüngeren Bruder Nagi (Kiryu Sakura) sorgt – und sich dabei mehr schlecht als recht über Wasser hält. Wie angedeutet sind die Hintergründe für Hodokas Flucht von daheim nicht vollends klar, doch auch er wächst in seiner neuen Umgebung. “For the first time someone was relying on me”, sieht er seine Beschäftigung bei Keisuke positiv.

Die Zeichnung von Hina, die einerseits nach Nagi schaut und andererseits Hodoka als Stütze dient, erinnert etwas an ähnliche Charakterisierungen in Hosoda Mamorus Ōkami Kodomo no Ame to Yuki oder Bakemono no Ko. Zugleich gebiert sich Tenki no Ko nachvollziehbarer Weise als Nachfolger sowohl in narrativer wie audiovisueller Hinsicht zu Shinkais Megaerfolg Kimi no na wa. – eben sogar so weit gehend, dass die Hauptfiguren aus Letzterem jeweils in kurzen Cameos in die Handlung integriert werden. Eine ähnliche emotionale Wucht wie dieser vermag Shinkais jüngster Film – zumindest nach der ersten Sichtung – noch nicht zu entfalten, was auch daran liegen könnte, dass die Klimax hier am Ende deutlich persönlicher gerät.

Das wolkenverhangene und trübe Tokio mag als Metapher für das Innenleben der Figuren dienen – erst indem Hodoka und Keisuke sowie Hina und Hodoka aufeinandertreffen, scheint sich ein Schatten über ihrem Schicksal zu lichten. Es verwundert also nicht, wenn alle drei für das Finale eine Rolle spielen. Mit Natsumi und Nagi verfügt Tenki no Ko wie Kimi no na wa. über amüsante Nebenfiguren, die sich an passenden Stellen einbringen; auch die Tatsache, dass das Ende vorhersehbar aber zugleich ungewöhnlich ist, geben der Geschichte eine besonders Note. Zwar ist Shinkai mit seinem Nachfolger kein ähnlicher großer Wurf wie bei Kimi no na wa. gelungen, dennoch sind hier “sudden downpours expected” – allerdings nur emotionale.

7/10

23. Oktober 2020

La vérité [Leben und lügen lassen]

Memory can’t be trusted.


In seiner japanischen Heimat ist Koreeda Hirokazu der Meister des stillen Familiendramas, in dessen Zentrum oft mehr oder weniger dysfunktionale Sippen stehen. Koreeda widmet sich deren Familienverhältnissen nie wirklich wertend, stets ruhig und bedacht, verständnisvoll und vergebend. Eine Herangehensweise, wie man sie im westlichen Kino eher selten findet, was La vérité – in Deutschland Leben und lügen lassen –, die erste westliche Regiearbeit Koreedas, umso interessanter macht. Thematisch fügt sich die französisch-japanische Koproduktion dabei nahtlos in das Œuvre des Regisseurs ein, adaptiert aber zugleich Elemente seines Gastlandes, sodass der Film weitaus weniger persönlich als Koreedas jüngere Werke wirkt.

Im Fokus steht dabei dieses Mal nicht der Sohn einer Familie, sondern mit Juliette Binoches Drehbuchautorin Lumir eine Frau. Die gebürtige Pariserin kehrt mit ihrer Tochter Charlotte und ihrem Mann, dem zweitklassigen Fernsehdarsteller Hank (Ethan Hawke), nach Frankreich zurück, um die Veröffentlichung der Memoiren ihrer Mutter, Schauspiel-Ikone Fabienne (Catherine Deneuve), zu feiern. Nur um festzustellen, dass die Erinnerungen der Mutter sich wenig mit der Realität zu decken scheinen, die Lumir als vernachlässigtes Kind eines Kinostars ihrer Zeit erlebt hat. Im Verlauf der folgenden Tage werden alte Wunden wieder aufgerissen und Familienbande auf die Probe gestellt, während Fabienne ihr aktuelles Filmprojekt abdreht.

La vérité erzählt somit vom Einfluss, den Eltern auf ihre Kinder haben, von der Relevanz ihrer Präsenz und Erziehung – davon, woran wir uns erinnern und was wir verdrängen. Aspekte unharmonischer Eltern-Kind-Beziehungen, die Koreeda aus dem Effeff beherrscht. Fabienne wird als klassische Diva inszeniert, die zu sehr mit ihrer Karriere beschäftigt war, als sich um ihre Familie zu kümmern. Ihre Ehe scheiterte, der Ex-Mann muss zu seinem eigenen Erstaunen in Fabiennes Memoiren sogar das Zeitliche segnen. Nicht die einzige Freiheit, die sich Fabienne mit der Realität nimmt, auch die gemeinsamen Spaziergänge mit Lumir zum Schulschluss nach Hause gab es nie, wie die Tochter der Mutter nach der Buchlektüre erbost vorhält.

“I’m an actress. I won’t tell the naked truth. It’s far from interesting”
, entschuldigt Fabienne. Wenn die Realität zu banal ist, muss sie narrativ aufgepeppt werden. Zugleich erhält Lumir einen Hinweis, den ihr später auch Fabiennes Agent, selbst enttäuscht über seine Aussparung in den Memoiren, mitgibt: “You can’t trust memory.” Dies wird verdeutlicht, wenn Lumir ihre Mutter zum Set ihres Sci-Fi-Dramas “Memories of My Mother” begleitet und das Studio-Gelände aus Kindeszeiten viel größer in Erinnerung hat. Sie sei inzwischen ja gewachsen, erwidert die Mutter. Quasi ihrer Erinnerung entwachsen. Woran erinnern wir uns, woran glauben wir uns zu erinnern und was haben wir nie realisiert und so zur Erinnerung avancieren lassen?

Ironischerweise dreht sich “Memories of My Mother” ebenfalls um eine zerrüttete Mutter-Tochter-Beziehung, in der Fabienne die altgewordene Tochter des aufsteigenden Starlets Manon (Manon Clavel) spielt, deren Mutter-Figur sich aufgrund einer Krankheit immer für sieben Jahre ins Weltall verabschiedet und dadurch nicht altert. Fabienne übernimmt quasi die Rolle von Lumir, der vernachlässigten Tochter, deren Mutter nie so intensiv Teil ihres Lebens war, wie erhofft. “Isn’t a little neglect better than being a helicopter mum?”, fragt Fabienne eingangs noch, lernt aber im Verlauf die Beziehung zu Lumir sowie zu ihrer Umwelt zu hinterfragen. Obgleich ihr Koreeda keine Katharsis schenkt, reift die Figur dabei dennoch etwas.

Über weite Strecken fühlt sich La vérité wie ein Film von Olivier Assayas an, konkreter wie eine Mischung aus L'Heure d’été und Clouds of Sils Maria. Letzterer habe Koreeda wohl auch dazu inspiriert, mit Juliette Binoche und Catherine Deneuve in Frankreich zu drehen. Mit Éric Gautier findet sich dann auch neben Binoche ein weiterer Assayas-Vertrauter als Kameramann an Bord. Dessen Einstellungen erinnern mitunter an Assayas, bleiben jedoch dem Stil von Koreedas japanischen Werken durchaus treu, was auch seinem Schnitt geschuldet sein dürfte. Ähnliches lässt sich von Alexeï Aïguis Musik sagen, die zwar konstant französisch gerät, aber in ihrer optimistischen Melancholie stets auch die Aura von Koreedas Filmen einfängt.

Ein autobiografisches Buch hatte schon in Umi yori mo mada fukaku [Atfer the Storm] für Misstöne in einer Familie gesorgt. Dissonanzen zwischen Erzeuger und Kind bildeten das Fundament von Aruitemo aruitemo [Still Walking] und Soshite chichi ni naru [Like Father, Like Son]La vérité fügt sich in diese Reihe geschickt ein, allerdings mit spürbarer französischer Note. Der Respekt, den japanische Kinder gegenüber ihren Eltern entgegenbringen, geht der etwas liberaleren Lumir hier ab, die Figur spricht nicht um den heißen Brei, sondern zielgenau, geht auch dorthin, wo es wehtut. Das macht die Inszenierung seitens des Regisseurs interessant, wird ihm und seinem Stil letzten Endes aber vielleicht nicht hundertprozentig gerecht.

Gelungen ist Koreedas Fingerübung im westlichen Kino aber allemal, seine Inszenierung weiter gewohnt gelassen, selbst wenn die Emotionen der Charaktere einmal höher schlagen. Die Besetzung mit Binoche und Deneuve ist natürlich kongenial und ein Höhepunkt für sich, das übrige Ensemble, darunter Ethan Hawke mit einer wenig ausgearbeiteten Figur, gerät da etwas ins Hintertreffen. La vérité ist ein Film über eine Familie, die das Herz am rechten Fleck trägt, auch wenn sie sich nicht daran erinnern mag. Vielleicht nicht von ungefähr wird The Wizard of Oz in Koreedas Geschichte referiert, denn wie hieß es schon in Victor Flemings Klassiker: “A heart is not judged by how much you love; but by how much you are loved by others.”

7/10

24. September 2020

The Last of Us Part II

It’s time-consuming. 

Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber. So sprach es Konfuzius und selten griff wohl ein Videospiel diese Haltung stärker auf als The Last of Us Part II, Naughty Dogs Fortsetzung ihres Spielklassikers The Last of Us von 2013. In Letzterem begleitete der Spieler in einer von einem Pilzparasit heimgesuchten postapokalyptischen Welt den Schmuggler Joel (Troy Baker) dabei, die 14-jährige Ellie (Ashley Johnson), die immun gegen den Parasit ist, durch die USA zu einer Widerstandsgruppe zu eskortieren. Wider aller Gefahren, zu denen vom Parasiten Befallene als auch Miliz-Gruppen gehören, erzählte The Last of Us davon, wie zwei auf sich gestellte Figuren Halt aneinander finden und langsam eine familiäre Beziehung entwickeln. 

Als Spiel über Liebe wurde es im Nachhinein von Regisseur Neil Druckmann beschrieben, der The Last of Us Part II derweil als dualistisches Gegenstück und Spiel über Hass bezeichnet. Rückblickend eine sehr ironische Beschreibung, angesichts des Gegenwinds, den die Fortsetzung nach ihrer Veröffentlichung von den Fans erhielt. So steht bei Metacritic einer Kritiker-Wertung von 93/100 ein Spieler-Feedback von 5.6/10 entgegen. Das Spiel über Hass evozierte bei vielen Gamern selber Hass, was in gewisser Weise teilweise gewollt sein könnte, angesichts der Botschaft des Spiels, nur dass diese nicht wirklich vollends auf der anderen Seite der Konsole bei den Nutzern ankommen wollte. Gewisse Spoiler lassen sich schwer umgehen.

The Last of Us Part II
ist vom Ansatz her ein dualistisches Spiel, zumindest dahingehend, dass auch wenn das Gameplay durch die rund 30-stündige Laufzeit quasi identisch ist, der Spieler letztlich von zwei unterschiedlichen Seiten aus auf dasselbe Ziel zusteuert. Die Themen Hass und Rache stehen über allem und leiten den Katalysator der Geschichte in deren ersten Akt ein. Im Mittelpunkt des Narrativs stehen dabei Ellie, nun fünf Jahre älter und mit Joel bei dessen Bruder Tommy (Jeffrey Pierce) in Jackson, Wyoming lebend, sowie die etwas ältere Abby (Laura Bailey), ehemaliges Mitglied der Widerstandsbewegung Fireflies aus dem Vorgänger und nun Bestandteil der Miliz der Washington Liberation Front (WLF) in Seattle, Washington.

Angetrieben von einem Verlust streben beide Figuren nach Rache und befinden sich infolgedessen auf einem Kollisionskurs. Indem The Last of Us Part II nach etwas mehr als der Hälfte der Spielzeit die Perspektive wechselt, die Spieler statt Ellie wiederum die zuvor weitestgehend abwesende Abby kontrollieren, zwingt Naughty Dog – so zumindest die Intention – die Spieler dazu, das zuvor Geschehene (den Vorgänger miteinbegriffen) zu reflektieren. Wenn man so will ein Videospiel-Gegenentwurf zu Clint Eastwoods Weltkriegs-Spiegelfilmen Flags of Our Fathers und Letters from Iwo Jima. Eine durchaus interessante Intention, die jedoch nicht vollends glücken will, auch deshalb, weil ihre Umsetzung etwas konstruiert und repetitiv wirkt.

Nach einem kurzen Konflikt mit Abby und einem halben Dutzend ihrer Freunde zu Beginn des ersten Akts macht sich Ellie wider den Empfehlungen der Erwachsenen auf zu einem Selbstjustiz-Trip nach Seattle. Unterstützung erhält sie hierbei lediglich von ihrer Freundin Dina (Shannon Woodward), nachdem sich zwischen beiden jüngst romantische Gefühle andeuteten. Der Konflikt-Katalysator wirkt zwar etwas unzureichend und unausgereift etabliert, dient aber zuvorderst als Motivator für Ellies Handlungsstrang. Auf den Fersen von Abby geht der Spieler in Person von Ellie mit Dina an ihrer Seite auf Entdeckungstour durch ein verlassenes Seattle, sich primär der Pilz-Befallenen, aber auch einiger WLF-Soldaten entledigend.

Ähnlich kannte man es aus The Last of Us, nur dass man nun statt Joel die Kontrolle über Ellie innehat, während man sich Material für Medikits oder Munition für seine Waffen sammelt. Die Motivation für Ellie ist dabei kein großes Thema, auch aufgrund der Gesellschaft der frischen Liebe zu Dina haben diese Segmente eher Abenteuercharakter. Das Wieso und Warum für den Ausflug macht das Spiel aber immer dann deutlich, wenn Ellie ein WLF-Mitglied in die Hände kriegt. Das Gameplay der Figur selbst ist über weite Strecken wie auch das Waffenarsenal identisch zu dem vor sieben Jahren, natürlich entsprechend angepasst und leicht modifiziert. Alles schön und gut, bis The Last of Us Part II dann Ende des zweiten Akts die Seiten wechselt.

Das Abby-Segment, welches nur halb so lang wie das von Ellie ist, stellt die Uhr zurück, erzählt aber im Grunde dieselbe Geschichte nur aus etwas anderem Blickwinkel. Der narrative Aufbau ist dabei prinzipiell identisch, sowohl von Settings als auch Botschaften etwaiger spielbarer Rückblenden her. Für Druckmann und Naughty Dog sicher als zusätzliche Gewichtung des Dualismus zwischen Ellie und Abby gedacht, aber zum einen hinsichtlich des Gameplays wenig innovativ und zum anderen auch für die Vermittlung der Botschaft kaum subtil. Zumal es schwer fällt – womöglich auch fallen soll –, nach über zwölf Stunden an Ellies Seite plötzlich Sympathien investieren zu müssen für eine neue Figur, deren Abneigung im Fokus stand.

Abby hat es schon schwer genug, da sie im Gegensatz zu Ellie nicht den Bonus hat, bereits vor sieben Jahren in einer anderen Geschichte an der Seite der Spieler gewesen zu sein. The Last of Us Part II gibt sich im Verlauf durchaus Mühe, die zuvor kaum charakterlich vertiefte Figur nun mit einer Dreidimensionalität zu versehen. Und zugleich den dualistischen Ansatz nochmals weiterzuspinnen, indem auch Abby mit zwei jungen Mitgliedern der WLF-verfeindeten Sekte der Seraphites, die Geschwister Yara (Victoria Grace) und Lev (Ian Alexander), eine Beziehung aufnimmt. Immer mit dem Hintergedanken, dass nicht jeder Gegner im Spiel deswegen böse sein muss. Und zudem seine eigene tragische Hintergrundgeschichte aufweisen kann.

Wie erfolgreich The Last of Us Part II für den jeweiligen Spieler funktioniert, hängt letztlich zwangsläufig auch davon ab, wie er Abby als Figur aufnimmt. Wo Ellie aktiv von ihrer Rache angetrieben ist, der Spieler sich mit dieser identifizieren kann, ist Abby in ihrem Segment eher passiv motiviert, reagiert auf Dinge, statt zu agieren. Eben auch, weil sie ihren Rachedurst vor dem spielbaren Segment bereits gelöscht hat, eher dieser gegen Ende des dritten Akts wieder aufflammt. Für das, was Naughty Dog erzählen wollte, wäre es eventuell also besser gewesen, die Geschichte eher mit Abby einzuleiten, um als Spieler zuerst zu ihr eine gewisse Beziehung aufzubauen, anstatt dies erst dann zu tun, wenn die Figur vom Spieler bereits verteufelt scheint.

Prinzipiell hätte Druckmann der Geschichte und auch seiner Botschaft aber weitaus mehr Tiefe verleihen können, wenn der narrative Ansatz bereits ein anderer gewesen wäre. Weg vom „Zwei Seiten einer Medaille“-Denken hin zu einer Verstärkung der Tragik, indem Ellie und Abby nicht separat auf ihre Ähnlichkeit abgeglichen worden wären, sondern sie und die übrigen Figuren wie Joel, Tommy oder Sekundärcharaktere wie Jesse (Stephen Chang) und Owen (Patrick Fugit), Ex-Freunde von Dina bzw. Abby, mehr Gelegenheit gehabt hätten, sich selbst durch die Beziehung zueinander zu reflektieren. Was durchaus möglich gewesen wäre, hätte das Spiel den Katalysator ans Ende des ersten Akts gestellt und den Figuren mehr Raum geschenkt.

Abseits des narrativen Ansatzes, der in der zweiten Hälfte des Spiels dieses etwas von seiner Qualität beraubt, ist die technische Umsetzung jedoch über alle Zweifel erhaben. The Last of Us Part II ist ein visuell atemberaubendes Spiel, voller kleiner wie großer Details, die dazu verleiten, innezuhalten. Die Detailschärfe der Landschaften, vom Grashalm über Regen, Schnee und Eis, hin zur Ausstattung der Charaktere, Nahtstellen auf ihrer Kleidung oder Blut und Narben, war wohl noch nie so gut wie hier. Gameplay-Ergänzungen wie Springen oder Kriechen gegenüber dem Vorgänger sind eine willkommene Verbesserung, während der generelle Ansatz sich wenig von The Last of Us unterscheidet, was den Wiedereinstieg nach sieben Jahren erleichtert.

Gewalt erzeugt Gegengewalt ist ein Mantra, dem sich The Last of Us Part II verschreibt. Entscheidungen aus dem Vorgänger holen die Figuren ebenso ein wie solche aus dem ersten Akt. Eine hehre Botschaft, bloß zu didaktisch, statt die Spieler sie selbst realisieren zu lassen (zum Beispiel in einem offeneren interaktiven Ende). Visuell und im Gameplay steigert sich die Fortsetzung zu The Last of Us, steht sich nur am Ende narrativ selbst im Weg. Der Community-Hass scheint aber übertrieben – und animiert vielleicht doch zur Reflexion, wie sie auch die Figuren erleben. Schließlich bezweifelte bereits Augustinus in seinen Confessiones, dass man „von irgendeinem Feinde Verderblicheres erfahren könnte als von seinem Hasse selbst“.

7/10

28. August 2020

Vivarium

Coffee?

Das Elterndasein kann die Hölle sein – in Lorcan Finnegans Vivarium darf dies gerne bildhaft verstanden werden. Eigentlich sind darin Gemma (Imogen Poots) und Tom (Jesse Eisenberg) nur auf der Suche nach einem gemeinsamen Haus, was sie dann jedoch erwartet, ist ein 18 Jahre währendes Martyrium in der als Metapher dienenden Wohnanlage “Yonder”. Diese beherberge eigentlich eine bunt gemischte Nachbarschaft, versichert dem Paar der schrullige Makler Martin (Jonathan Aris). Zudem sei die Lage zur Großstadt ideal: “Near enough. And far enough. Just the right distance.” Obschon nicht wirklich interessiert, werfen Gemma und Tom doch einen Blick nach dort drüben (engl. yonder) – bereuen dies aber bereits alsbald.

“Quality family houses. Forever”, preist sich Yonder an. Seines Zeichens eine gleichförmige Reihenhaussiedlung, in der nicht nur jedes Haus identisch aussieht, sondern jeder Raum darin der Mise en abyme folgt, indem er ein Bild des jeweiligen Zimmers beherbergt. Nach einer Führung durch den Garten ist Martin plötzlich verschwunden, Gemma und Tom wiederum in Yonder gestrandet, ein verkehrstechnischer Ausweg für ihr Auto unauffindbar. Stattdessen erwartet sie ein Paket mit einem neugeborenen Jungen darin. “Raise the child and be released”, lautet eine Botschaft. Ihre Freiheit scheint das junge Paar somit erst wiederzuerlangen, wenn der Nachwuchs groß genug ist, dass er auf eigenen Beinen stehen kann.

Finnegan inszeniert diese Eltern-Metapher über weite Strecken ziemlich plakativ, beispielsweise wenn Gemma und Tom die Hausnummer 9 zugeteilt bekommen, gemäß der neun Höllenkreise aus Dantes „Göttlicher Komödie“, oder das vermeintliche Idyll von Yonder ins Gegensätzliche verkehrt wird durch seine multiplikatorische Verzerrung. Vivarium kondensiert dieses scheinbare Fegefeuer nochmals durch die Tatsache, dass das aufzuziehende Kind durchaus schneller altert als in der Realität. Nach einem Zeitsprung von 98 Tagen ist es bereits so groß wie ein Sechsjähriger, folglich darf davon ausgegangen werden, dass mit Ablauf eines Jahres die Volljährigkeit erreicht wäre – obschon die psychische Entwicklung nicht der physischen entspricht.

Gemma und Tom lassen sich nur bedingt auf ihre Elternrolle ein, gefüttert wird das Kind, weil es erst dann aufhört zu schreien. Ansonsten referiert Tom den Jungen nur als “it”, während etwaige Mutter-Anreden gegenüber Gemma stets von dieser mit “not your mother”-Repliken abgekanzelt werden. Prinzipiell eine verständliche Haltung, die nach fast 100 Tagen und einem unveränderten Status quo – obschon Tom in einer Sisyphus-Beschäftigung Hoffnung zu schöpfen beginnt – aber etwas naiv erscheint. Warum sich nicht einfach in der Aufgabe verlieren, die Elternrolle annehmen? Zumal die Lage keine Alternativen liefert. Vivarium bietet seinen beiden Figuren nur wenig Entlastung, zugleich wird auch von ihnen kaum eine solche besorgt.

“It’s only horrible sometimes”, hatte Gemma in ihrer Funktion als Lehrerin einer ihrer Grundschülerinnen mit auf den Weg gegeben, als diese einen toten Vogel vor der Schule fand. Ähnlich ließe sich die Aussage auf das Elterndasein münzen und die augenscheinliche Hölle, in einem biederen Vorort gefangen, ein Kind auf Kosten der eigenen Freiheit erziehen zu müssen. Während Jesse Eisenberg grundsätzlich ideal für die Rolle des narzisstischen Arschlochs zu passen scheint, allerdings keinerlei Nuancen in seiner Darstellung von Tom findet, erscheint Gemmas Widerstreben angesichts ihrer pädagogischen Qualifikation etwas überraschend, wird jedoch ebenfalls nicht sonderlich von Imogen Poots im Verlauf vertieft.

Vivarium funktioniert prinzipiell wegen seiner Metapher, die zwar selten sonderlich subversiv gerät, aber dennoch weitestgehend unterhaltsam. Aus der Prämisse hätte sicher etwas mehr gemacht werden können, der Film, obschon nur 90 Minuten lang, verliert sich etwas in seinem Übergang vom zweiten zum dritten Akt. Generell wäre das Konzept vermutlich als halb so lange Episode à la The Twilight Zone etwas runder geraten, Finnegans Film ist in einem von Corona-geprägten Filmjahr dann aber doch originell genug, um zu den gelungeneren Beiträgen des Jahres zu zählen. Elternschaft kann mühselig sein, Soren Kierkegaard verglich Mühsal mit einer Straße: Es müsse zu etwas führen und gangbar sein – sonst wird es zur Einbahnstraße.

7/10

19. Juli 2020

Basic Instinct

He got off before he got offed.

Sharon Stones Beinüberschlag in Paul Verhoevens und Joe Eszterhas’ Basic Instinct gilt als einer der kultigsten Momente der Filmgeschichte, dabei ist die Sequenz, in der er stattfindet und der er dient, eigentlich viel eindringlicher als die entblößte Vulva der Hauptdarstellerin. Das Verhör der Krimi-Autorin Catherine Tramell (Sharon Stone) durch eine Gruppe schmieriger Polizisten des Morddezernats visualisiert den Kontrollverlust der Beamten rund um ihren Ermittler Nick Curran (Michael Douglas). Vermeintliche Trümpfe erhärten sich nicht, ins Schwitzen geraten eher die Polizisten, spätestens dann als Catherine pointiert ihre Sexualität einsetzt, um das Kartenhaus von Nick und Co. vollends zum Einsturz zu bringen.

Kontrastiert wird diese Szene etwas später im Film, wenn es Nick ist, der sich plötzlich im Verhörzimmer den Fragen seiner Kollegen stellen muss, als der gegen ihn ermittelnde Kollege für innere Angelegenheiten ermordet wird. Nick versucht sich ähnlich aalglatt wie zuvor Catherine zu geben, wirkt jedoch weitaus weniger souverän. Bereits zuvor hat er seine Gelassenheit verloren, nach mehrmonatiger Abstinenz wieder mit dem Trinken und Rauchen angefangen. Auch hierin finden sich weitere Anzeichen des Kontrollverlusts der Detektiv-Figur, die exemplarisch für die Polizei als Ganzes steht. Dass dieser Kontrollverlust durch eine Frau herbeigeführt wird, ist nochmals emaskulierender, die Versuche, ihn zurückzugewinnen, kläglich.

“You like playing games, don’t you?”, fragt Nick noch punktgenau in Catherines Polizeiverhör. Und erhöht im Laufe des Films immer mehr die Einsätze für ein Spiel, dessen Regeln er sich nicht wirklich bewusst ist. “You shouldn’t play this game”, weist ihn Catherine an einer Stelle entsprechend an. “You’re in over your head.” Für Macho Nick ist dies jedoch nur weiterer Anreiz, All-in zu gehen. Gekonnt spielt die gewitzte Multimillionärin mit Chic mit dem heruntergekommenen Großstadt-Bullen. Der gemeinsame Sex der Nacht zuvor wird von diesem als “fuck of the century” deklariert, für Catherine ist er allenfalls ein solider Anfang. Der nächste Kratzer in Nicks Ego, der nie über Catherines Sexualität hinauszuschauen vermag.

Jene Kontrolle, die Nick in seinen Mordermittlungen und gegenüber Catherine verliert, versucht er sich in seiner gescheiterten Beziehung zu der Polizeipsychologin Beth Garner (Jeanne Tripplehorn) zurückzuholen. Kulminierend in der Vergewaltigung als direkte Folge auf Catherines Verhör zuvor. “You’ve never been like this before”, versucht sich Beth die Vergewaltigung zu erklären. “I wasn’t making love to you”, erklärt Nick lapidar – und differenziert zwischen einer romantizierten Sicht auf Sex und einer animalischeren, zu der ihn Catherine animiert. “I wasn’t dating him. I was fucking him”, beschrieb die ihr Verhältnis zum ersten Mordopfer. Folglich umschreibt auch Nick ihre Liebesnacht daher als “fuck of the century”.

Prinzipiell ist Basic Instinct ein sexualisierter Film noir, dessen “hard-boiled detective” sich in seiner Faszination für eine undurchsichtige Femme fatale verliert. Quasi ein vulgär-obzöner Hitchcock-Film, was nochmals durch Jerry Goldsmiths an Bernard Herrmann angelegte musikalische Untermalung verstärkt wird. Im Zentrum steht dabei weniger Michael Douglas’ Polizist als vielmehr Sharon Stones alle Fäden in der Hand haltende Mordverdächtige. Sie lebt außerhalb der Konformität, zieht ihre Eiswürfel statt vorgefertigt aus einer Form lieber unsauber abgeschlagen mit einem Eispickel vor. “I like rough edges”, erklärt sie – und geht mit dieser Erklärung über ihre Vorliebe für Eiswürfel hinaus, quasi hin zu einer allgemeinen Lebensphilosophie.

Verhoeven und Eszterhas versehen Basic Instinct zugleich mit einem gewissen Meta-Element, wenn vergangene Bücher von Catherine alte Mordfälle beschreiben und ihr aktueller Roman, der von Nick inspiriert ist (“he falls for the wrong woman”), zugleich kommende Morde vorwegnimmt (“it’s practically writing itself”). Sharon Stone vereinnahmt diesen 90er Jahre Sex-Thriller und untermauert ihr kokettes Talent, welches sie zuvor bereits in Verhoevens Total Recall hatte aufblitzen lassen. Der Schlussakt verliert sich zwar ein bisschen in sich selbst, das passende Ende tröstet darüber aber in gewisser Weise hinweg. Was bleibt ist ein sehr unterhaltsamer, sleaziger Film, der weitaus mehr zu bieten hat als lediglich einen Beinüberschlag.

7.5/10

2. Mai 2020

Wendy

Our lives are gonna be the greatest story ever told.

Generell wenig Liebe erfährt Hook im Œuvre von Steven Spielberg, ist quasi ein “lost boy” innerhalb seiner sonst so wertgeschätzten Filmografie. Als Frevel wurde erachtet, dass Peter Pan in dem Film erwachsen wurde, er hätte sich doch besser näher an der Vorlage bewegt, kritisierte seiner Zeit Roger Ebert. Dabei erzählt Hook wie J.M. Barries Peter Pan vom Kindsein und von Zeitlosigkeit, von Spielbetrieb und Emanzipation. Allesamt Elemente, die auch Benh Zeitlins neuesten Film Wendy ausmachen, seines Zeichens eine lose Neuinterpretation von Barries Pan-Vorlage. Rund acht Jahre nach seinem imposanten Debüt Beasts of the Southern Wild dürfte Wendy allerdings ähnlich wie Spielbergs Hook zu Unrecht wenig Liebe erfahren.

In Zeitlins Version ist Peter (Yashua Mack) eher eine Randfigur. Weniger Charakter als ein personifiziertes Konzept von Freiheit und Jugendlichkeit für Wendy (Devin France) und ihre Brüder Douglas (Gage Naquin) und James (Gavin Naquin). Die folgen eines Nachts von ihrem Zimmer aus Peter auf einen vorbeifahrenden Zug, der sie schließlich zu einer abgelegenen Insel bringt, bevölkert von einigen verlorenen Kindern. Darunter zu ihrem Erstaunen auch Thomas (Krysztof Mayn), ein Junge aus ihrer Nachbarschaft, der vor vielen Jahren als vermisst gemeldet wurde. Doch der Schein auf der Insel scheint zu trügen und die Abenteuerlust weicht nach einem tragischen Vorfall bald dem Realitätsfrust, der die Welt von Peter aus den Fugen bringt.

Ähnlich wie in Beasts of the Southern Wild ist das Setting der Geschichte essentiell. Wendy wächst in Darling’s Diner auf, dem Bahnhofsimbiss ihrer Mutter. Er existiert in einer Art gesellschaftlichem Vakuum. Um Darling’s Diner ist alles im Wandel begriffen, die Leute in den Zügen lediglich auf Durchreise, stets in Bewegung – nur das Diner und seine Gäste verharren. Stagnieren. “Your life will go by and nothing will ever happen”, befürchtet Wendy zu Beginn, konfrontiert mit der Vergangenheit ihrer Mutter. Die wollte einst Rodeos reiten, ehe sie ihre Kinder bekam und nun deren Erziehung, wie es Eltern eben so tun, alles unterordnet. “The more you grow up, the less things you get to do that you wanna”, klärt James seine Schwester auf.

Erwachsenwerden wird hier gleichgestellt mit der Aufgabe von Träumen und Abenteuerdrang. Mit ein Grund für Wendy, als sie nachts Peter wahrnimmt, ihm auf einen der passierenden Züge zu folgen. Sie stagniert nicht mehr, das Leben geht nicht an ihr vorbei, sondern sie und ihre Brüder am Leben. “Past billions of people who never dared to leave”, erklärt sie vollmundig. Der Ausbruch aus dem System als ultimatives Abenteuer. Auf Peters Insel müssen die Kinder nicht erwachsen werden – was allerdings, wie wir schnell erfahren, nicht bedeutet, dass sie nicht altern. Erkennbar an Buzzo (Lowell Landes), einem älteren Mann, der früher einmal einer der Lost Boys war. Und wie sich zeigen wird, mit diesem Schicksal auf der Insel nicht alleine ist.

Traurigkeit war es, die ihn habe altern lassen. Wer seine infantile Leichtigkeit verliert, verliert seine Jugend. Buzzo wird zum Aussätzigent, während Peter seine Identität und die der anderen alten Menschen auf der Insel ignoriert. “Peter knows what he wants to know”, sagt einer von ihnen. Sie leben in einer verlassenen Siedlung, bezeichnender Weise ebenfalls mit einem Diner – losgelöst von Zeit und Raum. Das wahre Leben spielt sich draußen, fernab des Diners und der Siedlung ab, wie schon zuvor bei Darling’s Diner der Fall. Buzzo und Co. können von Peter und den Lost Kids nicht akzeptiert werden, wollen sie nicht wie diese enden. Schließlich manifestieren sie all das, was Peter und Co. eher negativ assoziieren mit der Tatsache, älter zu werden.

In einer Umfrage unter Kindern Ende des 20. Jahrhunderts zeigte sich, dass jedes dritte Kind angab, Altsein würde sich unheimlich, erschreckend und einsam anfühlen (s. “Children's Views on Aging: Their Attitudes and Values”, in: The Gerontologist, Vol. 37, No. 3,1997 S. 414). Sie hätten eine negative Sichtweise zum alt zu sein, heißt es weiter (S. 415). Schaut man sich Buzzo und Co. an, kann man dies gut verstehen. Umso strenger ist Peter daher, keine traurigen oder negativen Gedanken zuzulassen. Wer alle Sorgen aussperrt, hält das Alter von sich fern. Zugleich sind die Erwachsenen auf der Insel erpicht darauf, wieder ihre Jugendlichkeit zu erlangen. Ähnlich wie es Robin Williams’ Peter im Verlauf von Spielbergs Hook erlebt hat.

Wendy ist kein klassischer Coming-of-Age-, sondern eher ein Staying-Young-Film, die Insel von Peter dient vor allem Wendy – ähnlich wie die in Spike Jonzes Where the Wild Things Are – als Doublette für den Alltag, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Und die Realität zu akzeptieren. “All kids grow up”, wusste Wendy schon zu Beginn und getreu Barries Vorlage wird sie auch bei Zeitlin zum Schluss Nimmerland den Rücken kehren, den Kreislauf vom Kind zum Elternteil zu werden abschließen. Ebenjenen Kreislauf, den Spielberg in Hook als Ausgangspunkt für seine Fortsetzung der Geschichte nahm. Denn Kinder können nur Kinder sein, wenn es Erwachsene gibt. “Our lives”, proklamiert Wendy, “are gonna be the greatest story ever told.”

Zeitlin inszenierte dies in einer langjährigen Produktion (die ersten Arbeiten begannen bereits im Jahr 2013) wie schon in seinem Debüt als von Kindern getragenes pompöses audio-visuelles modernes Märchen, untermalt mit eindringlicher, kraftvoller Hornbläser-Musik von Dan Romer und eingefangen in mitreißenden Bildern von Sturla Brandt Grøvlen. Wendy besitzt dabei weniger Sozialkommentar als Beasts of the Southern Wild und auch das Kinderensemble agiert nicht ganz auf der Höhe. Weder Yashua Mack noch Devin France sind auf dem Level einer Quvenzhané Wallis, für das, was Wendy erzählt, erfüllen sie ihren Zweck. Der Film dreht sich weniger um eine spezielle Handlung oder ihre Figuren als um die Vermittlung eines Gefühls.

Wendy ist ein mit viel Liebe inszenierter Film darüber, was es bedeutet Kind zu sein. Sowie darüber, dass Erwachsen zu sein nicht gleichbedeutend mit Traurigkeit ist. Das Jung und Alt nicht getrennt von-, sondern miteinander existieren und zusammen Abenteuer erleben können, wie die Beziehung von Peter und Hook im Schlussakt zeigen wird. Es ist eine Adaption von Barries Geschichte, die sich nah an deren Geist bewegt, aber doch gänzlich anders ist (Ebert wäre vermutlich zufrieden). Zwar ein kleiner Rückschritt gegenüber seinem imposanten Debüt von 2012, aber dennoch ein gelungener Blick aufs Kindsein, der ganz George Bernard Shaws Erkenntnis folgt: “We don’t stop playing because we grow old, we grow old when we stop playing.”

7/10

31. Januar 2020

Showgirls

Sell! Sell your bodies!

In der mythologischen Heldenreise nach Joseph Campbell sollte eine Figur etwa in der Mitte der Handlung kurzzeitig ihren tiefsten Punkt erreichen, dessen Überwindung sie dann auf die Siegesstraße (zurück-)führt. In Showgirls von Regisseur Paul Verhoeven und Autor Joe Eszterhas aus dem Jahr 1995 findet sich die Hauptfigur allerdings bereits zu Beginn des Films an ihrem persönlichen Tiefpunkt. “I just got here”, lamentiert Nomi (Elizabeth Berkley) als sie kurz nach ihrer Ankunft in Las Vegas ihres Koffers beraubt wird. Ohne Geld und ohne Klamotten bleibt der Figur zu diesem frühen Zeitpunkt nichts außer ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben, die sie mit dem Traum, eine Tänzerin zu werden, in die Stadt der Sünde lockte.

“Shit happen. Life sucks”, würde Nomi wohl resümieren. Für sie sind derartige Floskeln quasi über die Jahre zum Mantra geworden. Sie ist eine Figur, die inzwischen kaum noch etwas erschüttern kann, was wir den ganzen Film hindurch in Ansätzen spüren, obschon ihre Biografie erst in der Schlussviertelstunde von Showgirls wirklich näher umrissen wird. Nach einem Zeitsprung von einigen Wochen scheint Nomi jedenfalls bereits wieder auf ihren Füßen zu sein. Sie hat Unterschlupf bei der Kostümdesignerin Molly (Gina Ravera) gefunden und einen Job als Tänzerin im Strip-Club Cheetahs. So täte es jedenfalls Nomi beschreiben. “If it’s at the Cheetah, it’s not dancing”, kommentiert Burlesque-Star Cristal Connors (Gina Gershon).

Die Beziehung zwischen diesen beiden Figuren, Nomi und Cristal, ist die entscheidende in Eszterhas’ Drehbuch und im Kern eine exemplarische für unsere Gesellschaft. Cristal nimmt Nomi unter ihre Fittiche und zieht sie als ihre Nachfolgerin heran, stählt sie aber zugleich durch zynisch-fieses Verhalten für die Welt, in der sich Nomi niederlassen will. Motivationen, die der Hauptfigur selbst eher verborgen bleiben bis zur finalen Konfrontation, die in ihrer gut gemeinten, aber teilweise verletzenden Art und der damit einhergehenden Ambivalenz aber das menschliche Miteinander widerspiegeln sowie den sozial-moralischen Konflikt, der einer solch ausbeuterischen Stadt wie es Las Vegas ist mit ihrem Lockvogel-Charakter durchaus innewohnt.

“You and me are exactly alike”, beschwört Cristal, die ursprünglich Chrissie Lou hieß und aus einem texanischen Kaff stammt. Das eint sie wiederum mit Nomi respektive Polly-Ann, die ihre Heimat nur als “from back East” und “different places” angibt. Woher sie kommen und wer sie waren ist für beide Frauen irrelevant, solange sie sich nun in Las Vegas neu erfinden können. “She thinks she could be a worthy successor”, erklärte Gina Gershon in einem Interview damals Cristal. Und hebt hervor, dass sich beide Figuren erstmals im Spiegel begegnen – als Kontrast von Gegenwart und Zukunft. Cristal ist dann letztlich die treibende Kraft, die Nomi in der Glitzerwelt von Las Vegas einen Schritt näher zur Erfüllung ihres Kindheitstraums führt.

Verhoeven kontrastiert beide Frauen dabei mehrfach und betont ihre Ähnlichkeiten. So imitiert Nomi die Bewegungen von Cristal bei ihrem ersten Besuch der “Goddess”-Show im Stardust Hotel, ähnlich wie Cristal später als sie mit Zack (Kyle Maclachlan), dem Entertainment-Manager des Stardust, die Performance von Nomi im Cheetahs besucht und einen Privattanz bucht. Es ist daraufhin Cristals Empfehlung, die Nomi ein Vortanzen für “Goddess”-Direktor Tony Moss (Alan Rachins) beschert und ihr damit letztlich eine Funktion in der Aufführung. “Maybe I like the way you dance, maybe I like you”, hält Cristal ihre Karten gegenüber Nomi bedeckt was ihre Motivation anbelangt. Was wiederum eine der Stärken ihrer Beziehung darstellt.

Viele von Cristals Handlungen werden von Nomi oftmals missverstanden – zumindest andeutungsweise. Die Buchung des Privattanzes empfindet Nomi da als Affront und Versuch, sie für ihre Tätigkeit als Stripperin bloßzustellen. Der Privattanz avanciert dabei aber nicht nur zum ersten Casting seitens Cristal für “Goddess”, sondern ermöglicht es Nomi auch, durch den erhöhten Preis von $500 ein Kleid von Versace (oder wie sie es betont: “Versayce”) zu erstehen. Zugleich weiß Cristal, dass ein reines Betüdeln von Nomi ihr im Sündenpfuhl Vegas auf lange Sicht hinderlich ist, ihr Zuckerbrot-und-Peitsche-Gebaren ist somit Kalkül, um Nomi auf die Zacks von Las Vegas vorzubereiten – genauso wie auf die irgendwann eintreffende Nomi 2.0.

“There’s always someone younger and hungrier coming down the stairs after you”, verzeiht Cristal am Ende des Films ihren durch Nomi ausgelösten Unfall. Zumal der im Grunde von dem ehemaligen Show-Star selbstverschuldet ist. “The best advice I ever got? (…) If someone gets in your way, step on ’em”, verriet Cristal ihrem Zögling da zuvor. Nach acht Jahren auf der Bühne bietet Nomis Ankunft für Cristal auch die Möglichkeit zum Ausstieg – denn der, so suggeriert Showgirls, muss das Resultat einer Wirkung von außen sein. Mit der Positionierung von Nomi als Nachfolgerin findet sich ein Ausweg aus dem moralischen Sumpf für Cristal – zugleich bietet der Film auch Nomi am Ende einen solchen, allerdings fehlgeleitet.

Die Gruppenvergewaltigung von Molly durch Andrew Carver (William Shockley) dient ihrer Freundin schließlich zum Ausstieg aus dem Showgeschäft der Glitzerstadt. Für Joe Eszterhas war Showgirls ein Film über ein Mädchen, das sich von einer korrupten Welt abwendet. In dem guten Menschen in Vegas schlimme Dinge widerfahren, wenn sie sich selbst nicht korrumpieren. Dass die einzig moralisch integre Figur der Geschichte ihr zum Opfer fallen muss, sollte dies unterstreichen. Nur fällt Mollys Vergewaltigung sowohl tonlich als auch narrativ aus dem Rahmen dieser zuvor sleazigen Strip-Sozialsatire. “The rape scene was a god-awful mistake”, räumte Joe Eszterhas bereits im Jahr 1997 gegenüber der Washington Post ein.

Ebenfalls wenig zweckdienlich ist, dass Nomis Vergangenheit erst in der Schlussviertelstunde zum Thema wird. Hätte Verhoeven die Aufdeckung ihrer tragischen Familiengeschichte und die daran anschließende Prostitution ans Ende des zweiten Aktes gestellt (sodass die Figur an ihrem vermeintlich tiefsten Punkt angelangt und ihr Erfolg gefährdet scheint), hätte Nomi im Laufe des finalen Aktes zusätzlich an Profil gewinnen können. Eszterhas zeichnet sie als durchaus interessante flatterhafte Frau, die einerseits leicht in Wutausbrüche fällt, wenn sie sich vorgeführt oder angegriffen fühlt, die andererseits aber auch problemlos mädchenhafte Züge annehmen kann, wenn sie – meist von Molly – Warmherzigkeit durch andere verspürt.

Showgirls erzählt somit auch von einer Selbstfindung seiner Hauptfigur, die weniger zu ihren Ursprüngen gelangen als mit sich ins Reine kommen muss. “I see you hidin’ (…) from you”, bemerkt Nomis kurzweilige Affäre James (Glenn Powell). Ihre Vergangenheit kann sie folglich nicht einfach irgendwo im Osten lassen, auch sie folgt ihr per Anhalter nach. Zumal Cristal mit ihrem Prostitutionsvergleich der “Goddess”-Aufführung nicht allzu Unrecht hat, was durch Nomis echauffierte Reaktion quasi bestätigt wird. Es ist also eine schöne narrative Klammer, wenn Nomi am Ende des Films erneut zufällig in den Wagen von Jeff (Dewey Weber) steigt und ihr Springmesser zückt, nur um dieses Mal jedoch unterwegs ins Ungewisse zu sein.

Eher unerklärlich galt Showgirls lange Zeit als einer der schlechtesten Filme aller Zeiten, hatte jedoch auch schwierige Voraussetzungen. Sein NC-17-Rating (entspricht unserem FSK 18) schränkte die Möglichkeiten des Marketings ein, sodass trotz breiter Kino-Auswertung auf ein damals üppiges Budget (für einen NC-17-Film zumindest) von $45 Millionen nur ein Einspiel von $37 Millionen folgte. Showgirls avancierte dann zu einem dieser Filme, der per VHS und DVD Kultcharakter entwickeln sollte. So geriet er schlussendlich mit weiteren Einnahmen von $100 Millionen doch noch profitabel und nach seinem Tiefpunkt doch noch zu einem späten Sieger. Wie sagte schon Jeff zu Filmbeginn: “Gotta gamble if you’re gonna win.”

7/10

3. Januar 2020

Filmjahresrückblick 2019: Die Top Ten

Cinema is life itself. Life is cinema and cinema is life.
(Murata Joe, Ai-naki mori de sakebe [The Forest of Love])

Repetition führt zu Reputation – so soll es die US-Unternehmerin Elizabeth Arden einmal verlautet haben. Angesichts der darniederliegenden Besucherzahlen dieses Blogs aber eher ein leeres Versprechen und doch habe ich – wider Erwarten – auch für 2019 wieder den obligatorischen Filmjahresrückblick zu Stande gebracht. Wie schon in den vergangenen 13 Jahren. Der Habitus obsiegt, obschon ich mich jährlich frage, es nicht einfach gut sein zu lassen, wo sich die Bloggersphäre von vor zehn Jahren doch nun soweit gewandelt hat, dass Leserschaft sowie Interaktion kaum mehr der Rede wert sind. Geschweige denn der Mühe der Reviews. Gut möglich, dass dies auch nur die Konsequenz einer generellen filmischen Übersättigung ist.

Kino – brauchen wir das noch oder kann das weg? Die Welt spielt sich verstärkt online ab, jeder will dabei ein Stück vom Kuchen abhaben. Disney+, AppleTV+, Content+ – statt Netflix hortet jeder seine Filme und Serien als exklusives Angebot. Kein Wunder, dass nach dem Tiefstand von vergangenem Jahr die Kinobesuche in Deutschland in 2019 nochmals zurückgingen und nichtmal die 100-Millionen-Marke überschreiten. Ich selbst bin hier natürlich mitschuldig, von meinen insgesamt 166 Filmsichtungen aus 2019 (in 2018: 155 Filme) entfielen rund sieben Prozent auf Kinobesuche. 13 Mal suchte ich die Lichtspielhäuser auf, immerhin zweifach für James Grays Ad Astra. Dennoch ein erneuter Rückgang zum Vorjahr (15 Besuche).

Nach dem Tiefstwert in 2018 waren die deutschen Kinobesuche auch 2019 rückläufig.
Statt zur cineastischen Kathedrale avanciert das Kino immer stärker zum Event-Raum. Außer für die großen Blockbuster bequemen sich die Menschen kaum noch von ihrem Sofa weg – es sei denn, ein Film macht entsprechend Furore. Darunter Todd Phillips’ Scorsese-Hommage und DC-Prequel Joker, das den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig abräumte und mit einer Wertung von 8.7/10 auch für die Nutzer der Internet Movie Database (IMDb) den ersten Platz der beliebtesten Filme belegte (Stand: 01.01.2020). Dicht gefolgt von einem weiteren Festival-Sieger: Bong Joon-hos Gesellschaftssatire Gisaengchung [Parasite], Gewinner der Palme d’Or in Cannes 2019 und mit einer Bewertung von 8.6/10 auf dem zweiten Rang.

Der drittbeliebteste Film mit einer Wertung von 8.5/10 war 2019 Avengers: Endgame, der CGI-Bombast-Abschluss unter mehr als zehn Jahre und zwei Dutzend Filme umspannende Pixel-Penetration. Die jüngste narrative Nebelbombe aus dem Hause Disney avancierte zugleich zum erfolgreichsten Film des Jahres und aller Zeiten – und ließ mit einem Einspiel von fast 2,8 Milliarden Dollar auch James Camerons Avatar hinter sich. Den Kassen-Hattrick komplettiert das Mouse House dann mit seinem CGI-Remake The Lion King auf dem zweiten Rang und zugleich einer Milliarde weniger Einspiel sowie dem Pixar-Sequel Frozen II, das ebenfalls eine weitere Milliarde in die Taschen von Disney-CEO Bob Iger und Konsorten hievte.

Prequels, Sequels, Spin-offs, Remakes – originäre Filme ziehen beim Publikum nicht mehr.
Große Risiken geht kaum noch ein Studio ein – weshalb alle der zehn erfolgreichsten Filme aus 2019 ein Pre-, Sequel, Spin-Off oder Remake waren. Auf Platz 4 schob sich mit Spider-Man: Far From Home noch Sony Pictures, prinzipiell aber auch durch das MCU gepusht. Das findet sich auf Platz 5 mit Captain Marvel wieder, ehe auf Rang 6 mit Toy Story 4 die dritte Fortsetzung von Pixars Debüt landete. Warner Bros. schiebt sich mit Joker auf die sechste Position, ehe Disney mit der lieb- und leblosen Live-Action-Version von Aladdin den achten Film des Jahres ablieferte, der über eine Milliarde Dollar einnahm. Star Wars – Episode IX: Rise of Skywalker landet derzeit (passend) auf Platz 9, vor Fast & Furious Presents: Hobbs & Shaw.

Der erfolgreichste Film 2019, der auf keinem Franchise basierte, war auf Platz 11 dann der chinesische Animationsfilm Ne Zha, zugleich Jahressieger in seiner Heimat. Traditionell ziehen die Asiaten einheimische Filme denen des Westens vor, was sich auch in Südkorea in der Undercover-Komödie Geukhanjikeob [Extreme Job] sowie in Japan in Shinkai Makotos jüngsten Animationswerk Tenki no ko [Weathering With You] jeweils zeigte. Patriotisch sind stets auch die Türken, obgleich dort mit 7. Kogustaki Mucize wiederum ein Remake von Miracle in Cell No. 7 auf Platz 1 landete, sechs Jahre zuvor noch ein Kassenschlager in Südkorea. Nationale Ware goutierten ebenso Ägypter mit Kasablanka und Tschechen mit Ženy v běhu [Women on the Run].

Jahressieger der deutschen Kinocharts: das Pixar-Sequel Frozen II.
Dagegen teilte sich der Großteil der Welt in zwei Disney-Lager zwischen Superhelden und Löwenkönigen. Avengers: Endgame siegte naturgemäß in den USA, aber auch in den übrigen englischsprachigen Ländern wie Großbritannien, Australien oder Neuseeland. Auch in Indien, Vietnam und Thailand konnten Iron Man und Co. überzeugen, während in Südamerika Brasilianer, Kolumbianer, Bolivianer, Chilenen und die Besucher in Paraguay den Avengers die Treue hielten. In Europa traf dies darüber hinaus noch auf Länder wie Rumänien, Ukraine, Dänemark, Ungarn und die Slowakei zu. Ansonsten lauschten Europäer bevorzugt Löwengebrüll und ließen sich von Simba und seiner “Hakuna Matata”-Entourage in die Savanne entführen.

Den ersten Platz der Jahrescharts belegte The Lion King hierbei in Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, den Niederlanden, Belgien, Österreich und der Schweiz, Bulgarien, Slowenien, Russland, Polen sowie Schweden und Norwegen. Wenig überraschend kam das Spektakel um Löwen, Meerkatzen und Co. auch in Südafrika bestens an. In Deutschland thronte The Lion King ebenfalls auf Rang 1 (im übrigen mit fast halb so vielen Besuchern wie im Nachbarland Frankreich, trotz höherer Einwohnerzahl), es ist aber davon auszugehen, dass Frozen II in den ersten Wochen des Kalenderjahres 2020 noch die erforderliche Zuschauerzahlen generieren dürfte, um Elsa und ihre Familie letztlich zum erfolgreichsten Film 2019 bei uns zu machen.

Beste Serie des Jahres: Nicolas Winding Refns Too Old to Die Young auf Amazon.
Womit Deutschland quasi ein Ausreißer wäre, wie er 2019 eher selten der Fall war. Statt auf die Avengers setzten Peru, Ecuador, Jamaika, Jordanien, Bahrein, der Oman und Kenia lieber auf Spider-Man: Far From Home. Mit Joker hielten es derweil Finnland, Kroatien und Griechenland. Action der anderen Sorte zogen die Zuschauer in Honduras, Costa Rica und Nicaragua vor, die sich an John Wick: Chapter 3 – Parabellum begeisterten. Etwas extravaganter fielen die Ansprüche sowohl in Israel als auch in Trinidad & Tobago aus, die gemeinsam mit Fast & Furious Presents: Hobbs & Shaw aufs Gas traten. Toy Story 4 verzückte dafür Argentinien, Mexiko und Uruguay, während Panama lieber Dora and the City of Gold für sich entdeckte.

Großer Gewinner in 2019 ist fraglos erneut Disney, das sich inzwischen auch noch 20th Century Fox einverleibte. Allein mit den Filmen aus den Top 15 der weltweiten Charts nahm das Studio über 10 Milliarden Dollar ein – zum Vergleich: Sonys erfolgreichste zwei Filme spielten zusammen so viel ein wie The Lion King alleine. Als Gewinner können aber auch Brad Pitt, der viel Lob für seine Rollen in Ad Astra und Once Upon a Time… in Hollywood erhielt, sowie Keanu Reeves erachtet werden. Letzterer reitet weiterhin seine eigene McConaisance-Welle mit Gast-Auftritten in Toy Story 4 oder Always Be My Maybe. Auch Florence Pugh startete mit Rollen in Midsommar und Fighting with My Family durch – und stößt 2020 in Black Widow zum MCU dazu.

Beste Darsteller des Jahres: Willem Dafoe, Zain Al Rafeea, Glenn Close.
Danny Aiello soll Natalie Portman einst am Set von Léon – The Professional den Ratschlag gegeben haben “Don’t do television”. Ein Tipp, der heutzutage auch obsolet scheint, treibt es doch viele Kinostars inzwischen wieder in die Fernseher, bevorzugt in von ihnen selbst produzierten Serien. Fernsehen ist das neue Kino, könnte man fast meinen. Viel Budget wird in Shows wie Game of Thrones – Season Eight gebuttert, gedankt haben es deren meiste Fans den Machern eher nicht. Umjubelt waren dafür HBOs andere Serien Watchmen sowie Chernobyl – mir selbst gefiel 2019 eher Ben Stillers Escape at Dannemora, die TV-Serie des Jahres allerdings war dann jedoch Nicolas Winding Refns Style-as-Substance-Show Too Old to Die Young.

Beeindruckend waren 2019 auch wieder einige Schauspielleistungen. Zwar für einen Oscar als Beste Darstellerin nominiert, aber übergangen, trägt Glenn Close fast alleine das Ehedrama The Wife. Ebenfalls beeindruckend in kleinen Rollen waren zudem Gabriela Maria Schmeide in Systemsprenger sowie Margarete Tiesel in Der Goldene Handschuh. Bei den Herren gefiel Denis Ménochet in François Ozons Grâce à dieu [Gelobt sei Gott], mit zwei starken Leistungen in At Eternity’s Gate sowie The Lighthouse ist Willem Dafoe jedoch für mich der Darsteller des Jahres. Die vielversprechendste Nachwuchsleistung lieferte Zain Al Rafeea in dem Sozialdrama Capharnaüm [Capernaum] ab, knapp vor Newcomerin Tiffany Chu in Ms. Purple.

Viele große Meister legten neue Filme vor, von Scorsese (The Irishman) über Almodóvar (Dolor y gloria) und Boyle (Yesterday) hin zu Allen (A Rainy Day in New York) oder Burton (Dumbo). Wirklich begeisterte mich keiner von ihnen, was aber genauso persönliche Favoriten wie Asif Kapadia (Diego Maradona) oder Hosoda Mamoru (Mirai no mirai) betrifft. 2020 dürfte uns viel von dem erwarten, was bereits die letzten Jahre dominiert: lästige, leblose “Tentpole”-Filme. Ob ich das erneut begleiten werde, muss man noch sehen. Inspiriert von Elijah Wood verzichte ich dieses Jahr auf eine Flop Ten, Honorable Mentions folgen wiederum vorab, statt als erster Kommentar. Eine gesamte Auflistung ist wie üblich auf Letterboxd einsehbar. Und damit ohne weitere Umschweife, hier sind meine zehn favorisierten Filmen von 2019:


Honorable Mentions (in alphabetischer Reihenfolge): Ad Astra (James Gray USA/CN 2019), Batman vs. Teenage Mutant Ninja Turtles (Jake Castorena, USA 2019), Doubles vies (Olivier Assayas, F 2018), The Game Changers (Louie Psihoyos, USA 2018), Jiang hu er nü (Zhangke Jia, CN/F/J 2018).


10. Dragged Across Concrete (S. Craig Zahler, USA/CDN 2018): In seinem reaktionären Cop-Thriller besetzt S. Craig Zahler seine Hauptdarsteller Mel Gibson und Vince Vaughn punktgenau als abgehängte alte Männer, welche die Zeit und der gesellschaftliche Wandel über den Asphalt schleifen. Und erzählt zugleich von Masken, die wir uns alle aufsetzen, um es irgendwie lebend durch den Alltag zu schaffen. Dragged Across Concrete ist ein Film einer anderen Ära, den man mehr mag, als man heutzutage vielleicht sollte.

9. Minding the Gap (Bing Liu, USA 2018): Schickt sich Bing Lius Film zuerst als eine Dokumentation über die Skater-Szene von Illinois an, avanciert Minding the Gap schnell zur packenden Reflexion über Elternschaft und häusliche Gewalt. Lius Protagonisten um den ambivalenten Zack liefern tiefe Einblicke in den Zwiespalt von Erwartung und Realität, in die Diskrepanz zwischen einst unbeschwerter Jugend und den Herausforderungen als Erwachsener allgemein sowie als Elternteil speziell. Quasi eine Montage über das Leben.

8. The Dead Don’t Die (Jim Jarmusch, USA/SWE 2019): Wir ernten, was wir säen – so beschwört Jim Jarmusch in seiner Zombie-Satire The Dead Don’t Die die Untoten als menschengemachte Folge unserer Umweltsünden am Planeten. Zugleich nutzt der Regisseur seinen Genre-Beitrag als Breitseite gegen die konservative Rechte, inszeniert dies aber keineswegs bierernst, sondern derart launig und lakonisch, dass selbst Hauptdarsteller Bill Murray sich ein ums andere Mal vor der Kamera das Lachen verkneifen muss.

7. 63 Up (Michael Apted, UK 2019): Eigentlich nur als einmaliger Kurzfilm über die Klassenunterschiede in England vor 56 Jahren geplant, zählt Michael Apteds Up-Serie zu den langlebigsten Reihen der Filmlandschaft. 63 Up findet viele der Teilnehmer kurz vor der Rente, zugleich im Konflikt mit Krankheiten und ihrer Mortalität. Das alljährliche Wiedersehen erlaubt die Reflexion über das eigene Erlebte, denn wie Sue korrekt zusammenfasst: “The things we go through are what everyone’s going through.”

6. Rizu to aoi tori (Yamada Naoko, J 2018): Das sicher gelungenste Spin-off des Jahres (vor Hobbs & Shaw) fand sich in Yamada Naokos hinreißendem Rizu to aoi tori, der sich intensiv der Beziehung der Schülerinnen Nozomi und Mizore aus der Anime- bzw. Manga-Serie Hibike! Euphonium widmet. Gewohnt gekonnt inszeniert Yamada-sensei auf feinfühlige Weise diese Geschichte über Freundschaften, die im Verlauf des Erwachsenwerdens auf der Strecke bleiben können. Ein Film, den man einfach nur umarmen will.

5. The Beach Bum (Harmony Korine, USA/UK/F/CH 2019): Welche Erwartung an Künstler ist gerechtfertigt und was für Verpflichtungen hat der Urheber gegenüber den Rezipienten seiner Kunst? Fragen, die Harmony Korine auf typisch skurrile Weise in seiner Komödie The Beach Bum subtil aufgreift. Matthew McConaughey überzeugt darin nebst einem illustren Ensemble und begleitet von einem charmanten Soundtrack als Florida-Dichter und Hedonist Moondog, der um des Lebens willen lebt. Ein wahres Vorbild für uns alle.

4. Kamera o tomeru na! (Ueda Shin'ichirô, J 2017): In der zweiten gelungenen Zombie-Komödie des Jahres inszeniert Ueda Shin'ichirô in Kamera o tomeru na! den Angriff der lebenden Toten als Mise en abyme, wenn Dreharbeiten zu einem Zombie-Film plötzlich von echten Untoten heimgesucht werden. In bester William-Friedkin-Manier lässt der fordernde Regisseur Higurashi die Kamera für maximale Authentizität einfach weiterlaufen, während Ueda selbst seiner amüsanten Geschichte im zweiten Akt neues Leben einhaucht.

3. The Last Black Man in San Francisco (Joe Talbot, USA 2018): Gentrifikation in San Francisco und die Folgen auf die ursprünglichen Bewohner sowie was Heimat, Identifikation und Zugehörigkeit für Menschen ausmachen, behandelt Joe Talbot auf tiefsinnige und doch vereinnahmende Art in seinem Debütfilm The Last Black Man in San Francisco. Ein angespanntes Verhältnis von Gewesenem und Gegenwärtigem, die nostalgische Rückbesinnung als Weiterentwicklung, von Talbot mit hoffnungsvoller Melancholie inszeniert.

2. American Factory (Steven Bognar/Julia Reichert, USA 2019): Chinesen, die kapitalistischer denken als Amerikaner und diese zu YMCA unterlegt vor einer die Minions abspielenden Leinwand für sich tanzen lassen, bilden den Kern von Steven Bognar und Julia Reicherts Netflix-Dokumentation American Factory. Um der Arbeit willen heuern ehemalige GM-Angestellte für einen chinesischen Konzern an, der ihr altes Werk übernommen hat. Was folgt ist eine Culture-Clash-Komödie zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

1. Portrait de la jeune fille en feu (Céline Sciamma, F 2019): Manchmal sagen Blicke mehr als tausend Worte, zum Beispiel in Céline Sciammas Meisterwerk Portrait de la jeune fille en feu. Sciamma streicht dabei Rollenbilder und das Verständnis von Freiheit im ausgehenden 18. Jahrhundert an, erzählt aber prinzipiell eine universelle Romanze, in der die beiden Liebenden sich als Gegenentwurf zueinander begegnen. Dabei beobachten die Figuren nicht nur einander, sondern wir als Zuschauer auch starke Gefühle und großes Kino.