4. Januar 2019

Filmjahresrückblick 2018: Die Top Ten

A film is – or should be – more like music than fiction.
(Stanley Kubrick)

Das Leben – ein ewiger Kreis. Fast wie in Black Mirror: Bandersnatch, einem interaktiven Multiple-Choice-Film von Netflix, den der Streaming-Dienst ad hoc noch zum Jahresende auf seine Plattform lud. Kino war gestern und Netflix ist in aller Munde. Sei es, weil womöglich der kommende Oscar-Preisträger ein Produkt des Online-Services ist oder er seine ganzen Marvel-Serien einstellte, da Disney künftig lieber selbst ein Stück vom Streaming-Kuchen abhaben möchte. Wen wundert es da, dass die Zahl der deutschen Kinobesucher in 2018 einen Tiefstand in diesem Jahrhundert erreichte, wenn „Kino“ wie zuletzt im Dezember wöchentlich jeden Freitag als „Netflix Original“ über den Smart-TV, das Handy, Tablet und Co. zugreifbar war?

Alfonso Cuaróns Netflix-Beitrag Roma müsse man eigentlich im Kino sehen, hieß es zwar. Nur galt es erstmal eine Stadt zu finden, wo er in einem solchen lief. Was jedoch nicht nur auf Roma zutraf, sondern auch andere Filme, die nicht gerade Superhelden beherbergten. Nachdem die Zahl meiner Kinobesuche in 2017 bereits von 30 auf 19 zurückging, schrumpfte sie dieses Jahr erneut: 15 Filme habe ich auf der großen Leinwand gesehen, einen davon sogar zweimal (was somit 16 Besuche macht). In der Summe waren es nunmehr 155 Filme, was gegenüber dem letzten Rekordjahr (mit 217 Sichtungen) wieder eher dem Niveau aus zuletzt 2014 und 2015 entspricht – passender Weise etwa auch hinsichtlich der Summe meiner Kinobesuche.

Deutsche Kinobesuche erreichten 2018 den bisher tiefsten Wert im 21. Jahrhundert.
Insofern bin ich natürlich mitschuldig an der vermaledeiten Netflix-Spirale, die einst wegen dem Zugriff auf deren Filmbibliothek begann, die nun aber zu Lasten des ausufernden Original-Outputs immer mehr schrumpft. Sonderlich beliebt macht sich die Plattform damit nicht, mehr Charme versprühte da die jüngste – zugleich bereits 4. – Spider-Man-Origin-Story von Sony. Spider-Man: Into the Spider-Verse entpuppte sich als visuell und narrativ einfallsreiche animierte Comic-Adaption, die sich mit einer Wertung von 8.7/10 bei den Usern der Internet Movie Database (IMDb) auf den ersten Popularitätsplatz schwang (Stand: 4.1.2019). Wenn auch dicht gefolgt von ihrem Marvelschen Superhelden-Vetter Avengers: Infinity War (8.5/10).

Ebenfalls überraschend gut kam das Queen-Biopic Bohemian Rhapsody mit 8.3/10 bei den Zuschauern an – aller Behind-the-Scenes-Querelen um Regisseur Bryan Singer zum Trotz. So beliebt Sonys Spider-Man-Abenteuer aber auch ist – für die zehn erfolgreichsten Filme des Jahres reichte es nicht. Mit einem Einspiel jenseits der 2-Milliarden-Dollar-Grenze pulverisierte Avengers: Infinity War seine Konkurrenz und streifte sich den Sieges-Handschuh über. Dabei stammt der zweite Sieger mit Black Panther ebenfalls von Marvel. Nur Universals Jurassic World: Fallen Kingdom verdankt es das Filmjahr 2018, dass das Mouse House Disney nicht alle drei Spitzenpositionen der weltweiten Kinokasse für sich alleine reklamiert.

Bohemian Rhapsody ist der einzige Vertreter der erfolgreichsten Filme ohne Franchise.
Denn auf Rang 4 folgt bereits Pixars Incredibles 2, dem es ebenfalls gelang, über eine Milliarde Dollar einzuspielen. Wider Erwarten avancierte über den Jahreswechsel hinweg gerade Aquaman zum bis dato erfolgreichsten Film des DCEU und vermochte damit Sonys Venom zu überflügeln. Auch Ryan Reynolds schaffte es mit seinem Sequel Deadpool 2 wieder unter die Top Ten, musste jedoch Tom Cruises jüngstem Action-Abenteuer Mission: Impossible – Fallout den Vortritt bezüglich Platz 7 lassen. Während Fantastic Beasts: The Crimes of Grindelwald die zehn erfolgreichsten Filme des Jahres abschließt, markiert Bohemian Rhapsody auf Rang 9 den einzigen originären Film von 2018, der nicht auf einem Comic oder einem Franchise basiert.

Wie echte Champions fühlten auch die Niederländer, Kroaten und Tschechen mit Freddie Mercury mit, bei denen Bohemian Rhapsody zum Jahressieger wurde. Mamma Mia! Here We Go Again dachten sich die Finnen, Isländer sowie – natürlich – die Schweden, die ABBA den Vorzug vor Queen gaben. Black Power wiederum lobten die USA aus, wo sich Black Panther gegenüber Avengers: Infinity War durchsetzte. Selbiges gelang dem Held aus Wakanda nachvollziehbar auch in Südafrika. In Deutschland waren die Avengers bis vor Jahresende überraschend Spitzenreiter, obschon die Vorgänger zuvor eher weniger Interesse bei den Deutschen weckten. Am Ende ließen sie sich aber doch von Fantastic Beasts: The Crimes of Grindelwald verzaubern.

Jahressieger der deutschen Kinocharts: Fantastic Beasts: The Crimes of Grindelwald.
Ansonsten regierte das Avengers-Klassentreffen die Kinocharts. In Europa begeisterten sich Franzosen, Briten, Italiener, Ungarn, Bulgaren, Dänen und Österreicher für den Infinity War, ebenso die Kinobesucher in Australien. Während sich die Avengers in Russland knapp vor Venom durchsetzten, ließen sie in Griechenland wiederum Deadpool 2 hinter sich. Auch in Bolivien, Chile und Kolumbien hielten die Zuschauer den Marvel-Helden die Treue, während sich sowohl Brasilianer als auch Argentinier und Mexikaner jeweils einig waren, dass der Infinity War dann doch unterhaltsamer war als Incredibles 2. Nicht d’accord gingen allerdings die Menschen in Venezuela, die – neben den Portugiesen – dem Pixar-Sequel ihre Stimme schenkten.

Animation begeisterte auch das Volk in Uruguay, jedoch weniger aus dem Hause Pixar oder Sony, sondern in Form von Hotel Transylvania 3: Summer Vacation. Zustimmung fand dieser Entscheid lediglich in Israel. Ecuador und Peru waren ebenfalls südamerikanische Avengers-Ausreißer, die – wie auch die Zuschauer in Spanien und Belgien – lieber das Dinosaurier-Sterben in Jurassic World: Fallen Kingdom begutachten wollten. Dass Venom fast so viel Geld einspielte wie Spider-Man: Homecoming verdankt sich womöglich auch Ägypten und Rumänien, wo das Spin-Off zum Spinnenmann-Widersacher die Kinocharts anführte. Anderswo gaben sich die Zuschauer unterdessen wie gewohnt eher patriotisch und damit einheimischen Filmen den Vorzug.

Beste Serie des Jahres: Season 2 der Netflix-Mockumentary American Vandal.
Ausländische Filme haben zum Beispiel in der Türkei stets wenig Chancen auf den Jahressieg, der dieses Mal Müslüm gebührt, einem Biopic über den Sänger Müslüm Gürses. Die Polen lachten lieber über die Kleriker-Komödie Kler, in Serbien fieberten sie im Krimi Južni Vetar mit und die Norweger zeigten sich erschüttert vom Erdbeben-Film Skjelvet, dem Katastrophen-Sequel zu Bølgen. Nationale Action-Ware geht in China immer gut über den Ladentisch, sodass dort Operation Red Sea sorglos zum Chart-Sturm ansetzen konnte. Nebenan in Südkorea schwelgten die Menschen dafür in Along With the Gods: The Last 49 Days in einem Fantasy-Drama und Japan war hin und weg vom jüngsten Detective Conan-Ableger Zero the Enforcer.

Zu den Gewinnern des Jahres zählt erneut Disney, die zwar immer noch nicht 20th Century Fox übernommen haben, aber auch so dank Marvel und Pixar allein in den USA über 3 Milliarden Dollar einnehmen konnten. Auch Guillermo del Toro hatte ein gutes Jahr, belohnt mit zwei Academy Awards für seine Fantasy-Romanze The Shape of Water. Damit ging der Regie-Oscar in den letzten fünf Jahren zum vierten Mal nach Mexiko. Vier Oscars könnte auch Bradley Cooper einheimsen, dem für sein Musik-Drama A Star Is Born Nominierungen als Produzent, Regisseur, Darsteller und das adaptierte Drehbuch blühen. Einen veritablen Hit produzierte John Krasinski, dessen stiller Horror A Quiet Place das 20-Fache seiner Kosten einnahm.

Beste Darsteller des Jahres: Joaquin Phoenix, Thomasin McKenzie, Terajima Shinobu.
Das einzige, was noch betrüblicher als das wieder mal schwache Filmjahr war, findet sich beim Blick auf die TV-Landschaft. Viel Durchschnitt, wenig Überzeugendes, selbst wenn gerade Netflix und Amazon ordentlich aus den Rohren feuerten, um zu sehen, was hängen blieb. Insofern müsste das beste Format eigentlich von einem Nicht-Streamer wie HBO stammen, am Ende wurde ich jedoch von Netflixs Crime-Mockumentary American Vandal – Season 2 am besten unterhalten, die gerade nach hinten heraus mit einer pointierten Botschaft ihre 1. Staffel übertraf (aber dennoch eingestellt wird). Bei den Videospielen ist es wenig besser, hier würde ich am ehesten noch David Cages Detroit: Become Human zu meinem Game des Jahres küren.

Eine größere Auswahl boten da erneut die Leistungen der Darsteller. Selbst wenn Nicolas Cage sowohl in Mandy als auch Mom and Dad herrlich am Rad drehen durfte, fand ich Joaquin Phoenix doch eindrucksvoller, der neben You Were Never Really Here auch noch in Mary Magdalene sowie Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot in vielseitigen Rollen überzeugen konnte. Bei den Newcomern war Thomasin McKenzie noch das Beste an Debra Graniks Aussteiger-Drama Leave No Trace, obgleich Matilda Anna Ingrid Lutz im Sleaze-Thriller Revenge ebenfalls gefiel. Einprägsam war auch Joanna Kulig in Paweł Pawlikowskis Zimna wojna [Cold War], aber letztlich doch nicht so sehr wie Terajima Shinobu im schrägen Oh Lucy! von Hirayanagi Atsuko.

So war 2018 ein weiteres, durchwachsenes Jahr mit wenigen cineastischen Höhepunkten. Selbst Guillermo del Toro oder Alfonso Cuarón wussten mit ihren Werken bestenfalls technisch zu überzeugen, sind dabei aber nicht allein. So war Wes Andersons Isle of Dogs keine Glanzleistung, enttäuschte Alexander Payne mit Downsizing und Woody Allen konnte sich mit Wonder Wheel nicht rehabilitieren. Der Flop Ten gingen sie dennoch alle aus dem Weg, dort finden sich einige andere Graupen (Damien Chazelles First Man habe ich bewusst umschifft). Wie gehabt findet sich die Flop Ten nach den Honorable Mentions als Kommentar, das Ranking aller 155 Filme wiederum auf Letterboxd. Fehlt was? Ach ja, meine zehn favorisierten Filme aus 2018:


10. Sandome no satsujin (Kore-eda Hirokazu, J 2017): Bekannt für seine Familien-Dramen probierte sich Kore-eda Hirokazu mit Sandome no satsujin [The Third Murder] an einem Justiz-Krimi aus, der Elemente seiner bisherigen Werke vereint. Der Film bietet vielschichtige Blicke auf einen scheinbar eindeutigen Mordfall sowie auf Herangehensweisen der Strafverteidigung im Allgemeinen und das japanische Justizsystem im Besonderen. Ruhig und bedacht dröselt Kore-eda gewohnt gekonnt seine narrative Zwiebel auf.

9. American Animals (Bart Layton, USA/UK 2018): In seinem zweiten Filmstück nach The Imposter entwickelt Bart Layton seine semi-dokumentarische Inszenierung nochmals ins Fiktionale weiter, wenn American Animals den gescheiterten Raub einer Gruppe Studenten aufarbeitet. Talking Heads der Beteiligten wechseln sich dabei geschickt mit Spielfilm-Szenen ab, während Layton von der Orientierungslosigkeit einer sich eigentlich zu Höherem berufenen Generation und dem Zusammenhalt von Freundschaften erzählt.

8. Den skyldige (Gustav Möller, DK 2018): Dass Weniger durchaus Mehr sein kann, bewies Gustav Möller mit seinem Thriller Den skyldige [The Guilty]. Darin überschreitet ein zum Polizei-Notruf strafversetzter Drogenfahnder seinen Verantwortungsbereich, als er zu einer vermeintlichen Entführung vom Telefon aus parallel eigene Ermittlungen einleitet. Möller inszeniert dies als Kammerspiel, das nie die Seite seiner Hauptfigur verlässt, und zwar simpel ist, aber gerade dank seiner reduzierten Dramaturgie enorm effektiv.

7. Climax (Gaspar Noé, F/B/USA 2018): Alles kann, nichts muss für die Figuren in Gaspar Noés jüngster Tour de force. Climax ist ein Film über das Schaffen und Scheitern, die Sehnsüchte und Abgründe der menschlichen Gesellschaft. Oder einfach nur über eine LSD-durchtränkte Party, die ihre Figuren und das Publikum gleichermaßen über eine Brüstung hält, nichtsahnend wann Noé uns in den Abgrund stürzen lässt. Eine wilde Achterbahnfahrt der Bilder, ein audiovisueller Fiebertraum und dabei übelerregend im bestmöglichen Sinne.

6. Whitney (Kevin Macdonald, USA/UK 2018): Sie war die “Queen of Pop” und Anfang der 1990er einer der größten Musik-Stars. Kevin Macdonald verfolgt in seiner Dokumentation Whitney nach, wie Whitney Houston innerhalb von zwei Jahrzehnten Drogensucht finanziell und physisch an ihr Ende gelangte. Whitney erzählt vom Aufstieg und Fall der Sängerin sowie der Dichotomie ihrer schwarzen Persönlichkeit zu jener an ihr weißes Publikum angepassten. Ein faszinierender wie bewegender Überblick einer tragischen Karriere.

5. The Death of Stalin (Armando Iannucci, UK/F/B/CDN 2017): Mit reichlich schwarzem Humor inszeniert Armando Iannucci in seiner historischen Polit-Satire The Death of Stalin die Ausmaße der Stalinschen Säuberungen, während sich nach dem Tod des Diktators ein machtpolitisches Ränkespiel zwischen den Figuren um die beste Ausgangslage im post-stalinistischen Kreml entwickelt. Neben dem bitterbösen Witz lebt der Film wie alle Werke Iannuccis von seinem herrlich aufspielenden Ensemble um Steve Buscemi.

4. Under the Silver Lake (David Robert Mitchell, USA 2018): David Cameron Mitchell erschafft Under the Silver Lake als wildes cineastisches Potpourri und Neo-Noir-Film mit Mystery-Elementen, der mit allerlei Bildzitaten und -hommagen aufwartet. Die Geschichte gibt sich gewollt schrullig, wirft Fragen auf, ohne sich um Antworten zu scheren. Mitchell weiß im steten Wechsel der Locations und seiner Figurenkonstellationen sowie dank einprägsamer Szenenmomente die Faszination an der Geschichte aufrecht zu erhalten.

3. Manbiki kazoku (Kore-eda Hirokazu, J 2018): Was eine Familie verbindet oder nicht, gehört bei Kore-eda Hirokazu im Prinzip zum Standardrepertoire. Die Klasse des Meisters zeigt sich aber darin, dass auch Manbiki kazoku [Shoplifters] trotz des Flairs, ein Best of der Themen seiner jüngeren Werke zu sein, reüssiert und unterhält. Mit Manbiki kazoku liefert Kore-eda somit ein weiteres warmes Familien-Drama reich an humorvollen Untertönen über Menschen mit Makel, die vielleicht nicht viel haben, aber immerhin einander.

2. The Florida Project (Sean Baker, USA 2017): Euripides soll gesagt haben, dass die Jugend die beste Zeit sei, um reich oder arm zu sein. Eindrücke, die der Zuschauer auch aus Sean Bakers The Florida Project mitnimmt, der die Alltagseskapaden seiner Figuren präsentiert. Baker widmet sich diesen Menschen am Rande der Gesellschaft, die über begrenzte Möglichkeiten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten verfügen und wo die Kinderfiguren sich – und dem Zuschauer – unweit von Disney World ihre eigene Magie schaffen.

1. Les garçons sauvages (Bertrand Mandico, F 2017): Der Lust und der Kunst verschreiben sich die fünf notgeilen Burschen aus Bertrand Mandicos Debüt Les garçons sauvages [The Wild Boys]. Kongenial mit Schauspielerinnen besetzt, wirft sie Mandico in seine in Schwarzweiß und auf 16 mm gedrehte, wunderbar vulgäre Coming-of-Age-Story. Eine surreale Emanzipation auf hoher See, die wie ein französisches Arthouse-Mash-up aus White Squall und Dead Poets Society anmutet. Schlicht: Ein lustvolles Kunst- wie Meisterwerk.