27. August 2016

Bakemono no Ko [Der Junge und das Biest]

Too slow.

Zwar heißt es, das Leben ist die beste Schule, dennoch geht wohl nichts über eine Erziehung durch die Eltern, um ein Kind auf den Alltag vorzubereiten. Insofern ist es nicht ungewöhnlich, dass in Geschichten oft die Kinder verloren wirken, die als Waisen aufwachsen. Sei es Harry Potter in J.K. Rowlings Romanreihe oder die kleine Anna vergangenes Jahr in Yonebayashi Hiromasas Ghibli-Film Omoide no Mānī. Auch Ren (Miyazaki Aoi), die Hauptfigur in Hosoda Mamorus jüngstem Film Bakemono no Ko – bei uns: Der Junge und das Biest –, ist zu Beginn der Geschichte auf sich allein gestellt. Etwas, das nicht nur auf ihn zutrifft, egal ob die anderen Charaktere über Eltern verfügen oder auch wie Ren selbst zurecht kommen müssen.

Eingeleitet wird Bakemono no Ko mit dem Unfalltod von Rens Mutter. Der Neunjährige soll nun als Stammhalter seiner Familie bei Verwandten aufgezogen werden, denn seit sich die Mutter von Rens Vater scheiden ließ, sei dieser „nur noch ein Fremder“ für den Jungen. Überwältigt von seinen Gefühlen nimmt Ren Reißaus – und trifft in einem Tokioter Stadtteil plötzlich auf das Tiermonster Kumatetsu (Yakusho Kōji). Der humanoide Bär sucht einen Schüler, will er doch in seinem Tierreich Jutengai den dort abtretenden Großmeister beerben. Hierzu muss es der heißspornige Kumatetsu aber zuvor noch mit seinem direkten Konkurrenten Iōzen (Yamaji Kazuhiro) aufnehmen und diesen in einem Zweikampf in seine Schranken weisen.

Geht es nach Kumatetsus Kumpel, will dieser sich mehr mit dem populären Iōzen messen als wirklich Großmeister von Jutengai zu werden. Für das Tiermonster wird die Schülerschaft Rens dennoch bald zum Prinzip. Aufgrund seines Alters wird der Lehrling kurzerhand in Kyūta umgetauft, doch die ersten Ausbildungsmaßnahmen scheitern an der Sturheit beider Figuren. „Wer selbst noch unreif ist, kann unmöglich jemanden erziehen“, urteilt Iōzen, selbst Vater zweier Söhne. In der Folge müssen Kumatetsu und Kyūta lernen, Verantwortung füreinander zu entwickeln. Der Neunjährige, indem er seinen Pflichten im Haushalt nachkommt, das Tiermonster dadurch, dass es mit Geduld und Nachsicht dem Menschenkind sein Können beibringt.

Offensichtlich ist, dass Lehrer und Schüler Seiten einer Medaille sind. „Er nimmt keinen Rat an, kann aber selbst auch keinen erteilen“, beschreibt eine Figur die Krux in Kumatetsus Verhalten. Der hatte wiederum nie einen Lehrmeister, sondern brachte sich seine Kenntnisse im Kendo als Autodidakt selbst bei. Ähnlich wird es Kyūta handhaben, nachdem die Lehrbemühungen von Kumatetsu im Sand verlaufen. Bakemono no Ko erzählt somit eine Coming of Age-Geschichte im doppelten Sinne, an deren Ende sich Kumatetsu wie Kyūta gleichermaßen durch ihre Beziehung weiterentwickelt haben. Indem aus zwei ursprünglichen Einzelgängern vielleicht keine Teamplayer werden, aber Personen, die am allgemeinen Leben teilnehmen.

Über das Element des Fantasy-Abenteuers hinaus greift Hosoda in einem Subplot aber auch auf die Realität zurück. Der Film thematisiert die in Menschen vorherrschende Dunkelheit in ihrem Herzen als potentielle Gefahr für Jutengai und das Tiermonsterreich. Und in der Tat kristallisiert sich diese Dunkelheit als Ausdruck von Einsamkeit, Verlorenheit und Unverständnis im Verlauf der Geschichte als eigentlicher Antagonist heraus. Und führt im finalen Akt, der wieder in den Straßen Tokios stattfindet, beinahe schon zur leichten Sozial-Allegorie auf die immer häufiger auftretenden Vorfälle von Amokläufen und Anschlägen durch junge Männer, wie sie dieses Jahr in München oder Nizza bereits mehrfach die Gesellschaft erschüttert haben.

Wer nicht vermag, die Leere in seinem Herzen zu füllen, wird ihr letztlich erliegen. Und seine Umwelt durch seinen Hass und Jähzorn ins Unglück stürzen. Aufgrund seines Produktionsjahres – der Film lief bereits vergangenes Jahr in seiner Heimat – greift Bakemono no Ko wenn überhaupt auf die Gegenwart voraus. So lässt sich die Terrorgefahr eher in den Film lesen als aus diesem heraus. Die ursprüngliche Botschaft von Hosoda mag da also womöglich eher lauten: Freunde dich mit deinem inneren (Tier-)Monster an. Insofern man Kumatetsu „nur“ als Erweiterung von Kyūtas eigener Persönlichkeit lesen mag. Also nicht unähnlich der Interpretation von Where the Wild Things Are durch Spike Jonze aus dem Jahr 2009.

Hosoda versteht es dabei wie schon in seinen Vorgängern geschickt, gerade zum Ende der Geschichte die Emotionalitätsschraube enger zu ziehen. Selbst wenn seinem jüngsten Film in dessen Klimax die erzählerische Dringlichkeit eines Samā Wōzu ebenso abgeht wie die emotionale Ergriffenheit aus Ōkami Kodomo no Ame to Yuki und allen voran seines Meisterwerks Toki o Kakeru Shōjo. Ansonsten fühlt sich Bakemono no Ko jedoch durchweg an wie ein klassischer Hosoda, vom Zeichenstil (Kyūta erinnert visuell unweigerlich an Samā Wōzus Kenji und Wabisuke oder Ame aus Ōkami Kodomo no Ame to Yuki und mit Abstrichen Chiaki aus Toki o Kakeru Shōjo) über die Musik von Masakatsu Takagi bis hin zu den humorvollen Auflockerungen.

Auch mit seinem jüngsten Werk enttäuscht Hosoda nicht – kein Wunder, dass er für dieses wie für die drei Vorgänger den Japanese Academy Award für den besten Animationsfilm erhielt. Gleichzeitig avancierte Bakemono no Ko zum erfolgreichsten japanischen Film von 2015 in seiner Heimat, wo er in den Jahrescharts am Ende auf Platz 4 landete. Beibringen muss man Hosoda-san also definitiv nichts mehr – im Gegensatz zu Kyūta, der in einem, wieder leicht an Ōkami Kodomo no Ame to Yuki erinnernden, Subplot durch das ausgegrenzte Mädchen Kaede (Hirose Suzu, Umimachi Diary) den Spaß von Bildung kennenlernt. Denn wie sagte schon der Philosoph John Dewey: “Education is not preparation for life, education is life itself.”

8/10

20. August 2016

Weiner

Never quit. Never quit.

Es ist eine bezeichnende Szene in Josh Kriegsmans und Elyse Steinbergs Dokumentation Weiner. Humorvoll und ironischer Weise treffend zugleich. Mitten in New York City will sich der demokratische Bürgermeisterkandidat Anthony Weiner mit dem Rad in den Straßenverkehr stürzen. “Why are they filming you?”, fragt ihn eine Passantin mit Verweis auf Kriegmans Kamera. “Most of the time I don’t know why they’re filming me”, entgegnet Weiner. “Are you somebody I’m supposed to know?”, hakt die Fußgängerin nach. “Believe me, no“, erwidert ihr Gegenüber. Im Verlauf der nächsten Wochen bis zur Wahl des neuen Stadtoberhauptes wird Anthony Weiner aber weitaus mehr zum Begriff werden, als es ihm ursprünglich lieb gewesen sein dürfte.

Mit 35 Jahren für seinen New Yorker Distrikt zum Kongressabgeordneten geworden, stolperte Weiner wie viele Politiker letztlich über einen Skandal. Am 27. Mai 2011 schickte er – wohl versehentlich – über seinen privaten Twitter-Account ein anzügliches Selfie von sich selbst. Und musste rund zwei Wochen später nach zwölf Jahren im Kongress sein Amt niederlegen. Über drei Jahre hinweg pflegte Weiner mit sechs Frauen das Sexting, stritt jedoch zuerst ab, dass das getwitterte Bild ihn selbst zeige. “Almost immediately I knew I had to lie about this”, reflektiert er in Weiner. Und schließt dabei auch seine frischangetraute Ehefrau Huma Abedin, eine von Hillary Clintons politischen Beraterinnen, mit in sein anfängliches Lügenkonstrukt ein.

Die Dokumentation begleitet Weiner nun in den zwei Monaten vor der New Yorker Bürgermeisterwahl von 2013, als sich der heute 51-Jährige zum zweiten Mal um das Amt im Big Apple bewarb. Bereits 2005 hatte er es versucht, musste sich bei den demokratischen Vorwahlen jedoch Fernando Ferrer geschlagen geben. Ferrer hatte kurz darauf gegen Michael Bloomberg selbst das Nachsehen. Für Weiner ist die Bürgermeisterwahl die Chance für eine Rückkehr auf die politische Bühne. Und, so stellt es die Dokumentation und Weiner selbst dar, für Gattin Huma die Chance, mit einem Wahlerfolg ihres Mannes diesen von dem Skandal zu bereinigen. Und damit in gewisser Weise vor Hillary Clintons Präsidentschaftskandidatur 2016 auch sich selbst.

Und anfangs ist die Aussicht auf eine Rehabilitation nicht schlecht. Es scheint genug Gras über den Skandal zwei Jahre zuvor gewachsen zu sein, abgesehen von wenigen Journalisten, die weiter an der alten Wunde kratzen. Thema ist der Sexting-Vorfall von 2011 natürlich dennoch. Das Wort „Fehler“ ist unabwendbar, wenn Weiner oder Huma die Wahltrommel rühren. Er habe Fehler gemacht, heißt es öfters von der Gattin und ihm selbst. Aber eben auch eine zweite Chance verdient. Weiner besinnt sich auf das, was er am besten kann: ein Mann des Volkes sein. Mehrfach zeigt ihn die Dokumentation bei Paraden und Straßenumzügen. Egal ob von der kolumbianischen, jamaikanischen oder homosexuellen Minderheit der Stadt.

Zuversichtlich und strahlend gibt sich Anthony Weiner dabei, Huma wirkt meist betroffen und enttäuscht. Über den Vorfall von 2011 zu sprechen ist sichtlich keine schöne Angelegenheit für sie. Als Weiner dann acht Wochen vor der Wahl in Umfragen mit gut 25 Prozent an der Spitze liegt, löst sich jedoch selbst Humas Stimmung. Plötzlich sehen wir sie lachen, wirkt sie allgemein gelöster. Die Chance auf das politische Comeback, sie scheint greifbar. Bis zum 23. Juli 2013, als ein neuer Sexting-Skandal die mediale Runde macht. Wie wird dieser angegangen, fragt jemand aus Weiners Wahlkampf-Team. Werden die Vorwürfe abgestritten? Nein, stellt Weiners Kommunikationschefin Barbara Morgan klar. Keine Fehler nochmal machen.

Die anschließende Pressekonferenz live auf CNN hat etwas Absurdes. Während Weiner und Huma sich zu einem Statement aufraffen, läuft unten im News-Ticker die Nachricht, dass ein Mann elf Frauen getötet hat. Und das Amanda Bynes wegen psychischer Probleme klinisch behandelt wird. Humas Zuversicht weicht wieder Resignation. Sie scheint zu ahnen, was sich in den kommenden sechs Wochen bewahrheiten wird: das frischgewachsene Gras wird von den Medien flugs abgemäht. Die politischen Inhalte von Weiners Kampagne interessieren nicht mehr, On-Topic-Fragen werden nicht mehr gestellt. Der Fokus liegt auf dem Sexting-Skandal mit einer 22-Jährigen, die diesen zu eigenen Zwecken für ihre 15 Minuten Ruhm ausschlachtet.

Was als Dokumentation von Weiners Wahlkampf begann, avanciert in Weiner fortan zumindest auf einer zweiten Ebene zum Festhalten des Verfalls der Medien. Der Politiker Anthony Weiner interessiert nicht (mehr), der Mensch tat es ohnehin nur bedingt. Mit den Fernsehsendern und Journalisten gegen sich schwinden Weiners Chancen, selbst wenn ein Teil der Menschen weiter an seiner Seite steht. “Never quit. Never quit”, appelliert da ein Bürger. Eine andere schimpft gegenüber den Medien, sie interessiere keine privaten Skandale des Kandidaten, sondern wie er ihrem Stadtteil helfen wolle. Doch alle Hoffnung kommt zu spät. “I lied to them”, sieht Weiner im Dialog mit Josh Kriegman einen der Gründe. Und ergänzt: “I got a funny name.”

Die Wortspiele mit Weiner/Wiener liegen auf der Hand, die Medien – allen voran die gehässige New York Post – pflegen sie mit Genuss. “The name of a man is a numbing blow from which he never recovers”, leitet den Film ein Zitat von Marshall McLuhan ein. Und dieses wird sich im Fall des ehemaligen Kongressabgeordneten aus New York gleich doppelt bewahrheiten. Die Schatten der Vergangenheit reichen bis in die Gegenwart. Unschuldig daran ist der 51-jährige New Yorker keineswegs, selbst wenn Eheprobleme als Gründe für die neuerlichen Sexting-Vorfälle genannt werden. Aus Fehlern gilt es zu lernen. Zumindest, nicht dieselben erneut auf dieselbe Weise zu machen. Und daran war Anthony Weiner schlussendlich gescheitert.

“Why have you let me film this?”, fragt Josh Kriegman am Ende von Weiner den Namensgeber seines Films, als die Wahl verloren ist. Der zuckt nur mit den Schultern. Was als mögliches Dokument seines Aufstiegs zum Bürgermeister und Instrument im Wahlkampf dazu gedacht war, wurde letztlich durch den neuerlichen Skandal eingeholt. Das Ergebnis ist ein intensiver Einblick nicht nur in einen klassischen US-Wahlkampf von außen wie innen, sondern auch in das Privatleben des Kandidaten. “The laws of entertainment gravity are gonna suck the documentary into the same vortex”, sinniert Weiner. Ähnlich wie der Sexting-Skandal ad absurdum geführt wurde. Und irrt sich doch. Denn Weiner ist ein absoluter Gewinn.

8/10

13. August 2016

L’avenir [Alles, was kommt]

My Dad builds the planes and they fly through the sky
And that’s what keeps your daddy up there so high.
(Woody Guthrie, “Ship In The Sky”)


Es gibt sicher schlechtere Gesellschaft als die von Legenden wie Akira Kurosawa, Éric Rohmer, Jean-Luc Godard und Krzysztof Kieślowski. Im Februar dieses Jahres reihte sich Mia Hansen-Løve als siebter französischer Gewinner und dabei erst dritte Frau nach Astrid Henning-Jensen und Małgorzata Szumowska in die Reihe der Preisträger des Silbernen Bären der Berlinale ein. Zu verdanken hatte sie dies ihrer fünften Regiearbeit L’avenir – bei uns: Alles was kommt –, einer für Isabelle Huppert geschriebenen Geschichte, die teilweise auf dem Leben von Hansen-Løves eigener Mutter basierte. Ein reifer, sehr erwachsener und rationaler Film über eine Frau um die 50, die nach vielen Jahren ihre familiäre Freiheit wiedererlangt.

Huppert spielt Nathalie, eine Philosophielehrerin und Mit-Herausgeberin von Schulmaterial, die ein relativ unbeschwertes Leben führt, abgesehen von ihrer depressiven Mutter (Édith Scob). Bis zu jenem Tag, an dem ihr Mann Heinz (André Marcon) ihr offenbart, dass er eine Affäre und sich nach 25 Jahren Ehe für eine andere Frau entschieden hat. Plötzlich geht es Schlag auf Schlag für Nathalie, als sich der Zustand ihrer Mutter verschlechtert und ihr Verlag mit immer neuen Änderungswünschen für ihre Publikationen an sie herantritt. Ablenkung bietet ihr nur der Kontakt zu ihrem ehemaligen Schüler Fabien (Roman Kolinka), der mit Freunden einen Bauernhof in einem Vorort gekauft hat, wo sie fortan ihren anarchistischen Ideen nachgehen.

Ihrem neuen Alltag begegnet Nathalie mal ironisch, mal hoffnungslos. “After 40 women are fit for the trash”, sieht sie ihre Zukunft in Einsamkeit, auch wenn ihr Fabien zuredet, sie könne einen neuen Partner finden. Heinz hat zwar derweil seine Entscheidung für die jüngere Frau getroffen, kann aber dennoch nicht so ganz von seinem bisherigen Leben lassen. Kurz nach dem klärenden Gespräch bringt er, sehr zu Nathalies Verärgerung, Blumen mit. Als beide zu ihrem Haus in der Bretagne fahren, räumt Nathalie den Schrank leer, um Platz für ihren Ersatz zu schaffen – zu Heinz’ Verwunderung. Beinahe bemitleidenswert gerät eine Szene, in der Heinz an Weihnachten auf eine Einladung zum Essen wartet, da er sonst alleine feiern muss.

“Clear conscience, same lifestyle” lautet ein Vorwurf, den sich Nathalie gegen Ende von Fabien anhören muss. Der auf sie und Heinz in gewisser Weise jedoch gut zutrifft. Routine bestimmt das Leben der beiden. Als Fabien und seine Freunde abends das Für und Wider von Autorenschaft diskutieren, schaltet sich Nathalie aus der Diskussion aus. Sie habe all das schon vor zwei Jahrzehnten debattiert, als sie selbst in dem Alter der Gesprächsteilnehmer war. Etwas abschätzig blickt Nathalie auch auf gegen die Rentenreform demonstrierende Jugendliche herab, selbst wenn sie in deren Alter selbst drei Jahre lang Kommunistin war. Bourgeois ist ihr Lebensstil, obschon der Begriff für sie und Fabien eher negativ und konservativ behaftet scheint.

Entsprechend reagiert sie auch ob der Neugestaltung ihrer Lehrbücher, deren Absatzzahlen zurückgehen. “Modern, aggressive, catchy”, ätzt Nathalie und beschreibt damit zugleich auch jene Sorte Film, die L’avenir nicht ist. So stilvoll wie Nathalie ihre Bücher gestaltet, inszeniert Hansen-Løve auch ihre Geschichte. Nur in Nuancen scheint da das Innenleben der Figur durch, die ansonsten bemüht ist, sich beinander zu halten. Der Frust mit ihrer Mutter wird in der Beziehung zu deren Katze verarbeitet, die Verzweiflung ob der Umwälzung ihres Lebens bricht sich teils in Tränenausbrüchen Bahn. “Total freedom. It’s extraordinary”, reklamiert Nathalie zwar bezüglich ihrer neuen Lebensumstände. Wirklich derart empfinden tut sie allerdings nicht.

Ihre neugewonnene Freiheit vom Ehemann, von der abhängigen Mutter und von den Kindern (Sarah Le Picard, Solal Forte), die inzwischen ihr eigenes Leben führen, ist für Nathalie somit weniger außer- als ungewöhnlich. Zugleich lernt die Figur, besser zurechtzukommen. Mit allem, was kommt. Eine Erfahrung, die gegen Ende auch ihre Tochter macht, als diese selbst zur Mutter wird. Trotz verschiedener Umwälzungen wirkt L’avenir fast schon ereignislos, so ruhig und bedacht inszeniert Hansen-Løve den Film. Der wird im Alleingang getragen von einer wie so oft starken Leistung von Isabelle Huppert, die gekonnt von überzeugten in verletzliche Momente wechselt. Sodass Nathalie am Ende der Geschichte so stark ist wie zu deren Beginn.

7.5/10

6. August 2016

Der Bunker

It’s party time!

Das deutsche Kino kennt größtenteils nur drei Sorten Film. Da sind die Dramen zum Zweiten Weltkrieg, mal mehr, mal weniger auf den Holocaust fokussiert. Dazu, quasi als Schwesternfilm, jene Werke zur DDR und Trennung der beiden deutschen Länder respektive ihre Wiedervereinigung. Und dann noch die Filme der Marke Schweiger, Schweighöfer und Sat.1, die primär eingedeutschte Remakes von schlechten 0815-Hollywood-Rom-Coms auf Katherine-Heigl-Niveau sind. „Deutschland und Genrefilm gehen nur bedingt zusammen“, urteilt auch der Filmkritiker Oliver Nöding (Remember It For Later) in seinem Essay, den er für das Booklet des Labels Bildstörung zu dessen Blu-ray-Veröffentlichung von Nikias Chryssos’ Der Bunker schrieb.

Dem Titel zum Trotz erzählt Chryssos darin nicht von den finalen Tagen Adolf Hitlers, sondern eine originäre Geschichte. „Was Eigenes, was Besonderes“ sollte sein Spielfilmdebüt sein, erzählt der Regisseur im Making of. Und wie schwierig die Finanzierung für das Projekt war, so ganz ohne Franchise-Bezug oder sozialen Zusammenhang. Kein WW2, keine DDR – da scheinen die deutschen Filmförderungen den Geldbeutel zuzumachen. Dabei ist Deutschland eigentlich so innovativ, in Europa gar Patent-Europameister. 180 Erfindungen pro Tag reichten die Deutschen im Jahr 2014 im Schnitt ein. Bei Filmen sind sie dennoch höchstens Mittelklasse. Umso mehr ragt da ein Werk wie Der Bunker heraus, ein witzig-grotesker Genremix mit sozialer Note.

Chryssos erzählt darin von einem namenlosen Studenten (Pit Bukowski), der sich in einem Kellerzimmer eines Ehepaars (David Scheller, Oona von Maydell) in deren Haus im Wald einmietet. Ruhe und Abgeschiedenheit sucht der „Möchtegernprofessor“ – wie ihn Chryssos im Audiokommentar nennt –, um den Durchbruch in seiner wissenschaftlichen Arbeit zu schaffen. „Dann freue ich mich schon auf unseren geistigen Austausch“, verabschiedet ihn der Vater in seine erste Nacht und verweist auf seine eigenen Diplome. Der Hang des Studenten zum Nachschlag beim Abendessen – der Vater führt Buch über seinen Knödel-Verzehr –, läutet die Handlung ein. Zum Abbau seiner Schulden soll der Student den Sohn seiner Vermieter unterrichten.

Als Clou des Films wird der acht Jahre alte Klaus dabei vom 32-jährigen Daniel Fripan gespielt, in verschrobenen Kleidern mit Spätsiebziger-Muff und Prinz-Eisenherz-Frisur. Im Hausunterricht wird der vermeintlich hochbegabte Klaus auf seine zukünftige Rolle als US-Präsident vorbereitet. Neben der fiktiven Lektüre „Das globale Finanzsystem“ tummeln sich auch Hobbes’ Leviathan, Macchiavellis Principe und Platons Politeia im Unterrichtsmaterial. Wie der Student bei der Abfrage der Hauptstädte merkt, ist Klaus jedoch alles andere als hochbegabt. Die vorsichtige Frage beim späteren Abendessen, ob die Eltern mit dem Berufsziel als US-Präsident nicht etwas hoch greifen, fassen diese dennoch direkt als persönlichen Affront auf.

Insofern ist Der Bunker in gewisser Weise eine Art Parabel auf das deutsche Bildungssystem. Und thematisiert den Drang von Eltern, die bestmögliche und umfangreichste Erziehung gleichzusetzen mit späterem Erfolg im Leben. So stieg die Anzahl der überforderten Kinder an baden-württembergischen Gymnasien seit dort die Eltern über die weiterführende Schule ihres Nachwuchses entscheiden dürfen. Ähnlich wenig Widerworte dulden bei Chryssos Vater und Mutter. Denn Klaus ist zu Höherem bestimmt und der Student hat ihm dorthin zu helfen. Der junge Mann verliert sich wiederum in der Folge in einer Art Faustus-Allegorie, wenn er den Unterricht mit Klaus von der Mutter mit Inspiration für seine Studien vergütet bekommt.

Die Anspannung unter den vier Beteiligten nimmt nun mit fortlaufender Handlung zu, als sich zwischen Klaus und dem Studenten eine leichte Freundschaft entwickelt und die Mutter dadurch das große Ganze in Gefahr sieht. Der Film driftet hierbei gerade in seinem dritten Akt verstärkt in Gefilde des Thrillers und Horror-Films ab, nachdem er in seiner ersten Hälfte primär vom grotesken Charakter des Szenarios lebte, wenn Klaus zur Strafe auf der Terrasse sitzen muss statt am Esstisch oder der Vater müde Kalauer aus einem Witzbuch versucht mit philosophischer Bedeutung aufzuladen („Wo hört das Ich auf, wo beginnt das Du?“). Ein wiederkehrendes Highlight des Films ist dabei sicher Daniel Fripan als beschränkter Achtjähriger.

Zwischen Komödie, Melodrama und Horror verortet Chryssos seinen Film in seinem vorgetragenen Audiokommentar. Der hebt zugleich hervor, dass es ganz ohne Inspiration selbst bei Deutschlands Kreativen nicht geht. Von Sergio Leone über David Lynch und Terrence Malick bis hin zu Stanley Kubrick und Charlie Chaplin reichen die Referenzen, die der Regisseur seinen namhaften Kollegen erwiesen hat. Speziell das Ende gerät dann doch etwas generisch, sowohl was die narrative Auflösung als auch die visuelle Umsetzung angeht. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Der Bunker über weite Strecken – und sogar in seinem eher gewöhnlichen Ende – mehr zu leisten im Stande ist, als das Gros der übrigen deutschen Filme.

Reift der Mensch automatisch mit dem Alter oder hängt die Reife mit der Auf- beziehungsweise Erziehung ab? Offensichtlich schwankt Der Bunker mehr in letztere Richtung, wenn Klaus erst mit Ankunft des Studenten und dessen steigender Fürsorge für den Achtjährigen eine Weiterentwicklung beginnt. Nikias Chryssos erzählt seine Geschichte mit simplen Mitteln sehr effizient und verbindet als Botschaft eine nicht mit dem Holzhammer vorgetragene leichte Sozialkritik geschickt und gekonnt mit ungewöhnlichem deutschen Humor. Eigen und besonders ist das Ergebnis, weshalb Der Bunker aus der Masse an beliebigen deutschen Filmen problemlos herausragt. Und beweist, dass Genrefilm auch in Deutschland möglich sind.

7/10

Blu-ray
Der HD-Transfer der Blu-ray weiß zu überzeugen, gerade da der Großteil des Films ohne Tageslicht auskommt. Die HD-Tonspur gerät ebenso zufriedenstellend. Etwas durchwachsener, obschon umfangreich, fällt das Bonusmaterial aus. Nikias Chryssos’ Audiokommentar gerät etwas nüchtern und doppelt sich inhaltlich teils mit dem einstündigen Making of, das nacheinander verschiedene Produktionsumstände (Finanzierung, Bildausstattung, Figuren, etc.) anspricht. Die Deleted Scenes fehlen zurecht im Film, die Outtakes unterstreichen teils Äußerungen des Audiokommentars. Für Fans des Regisseur gibt es mit Schwarze Erdbeeren und Der Großvater noch zwei Kurzfilme in DVD-Qualität sowie das für Bildstörung übliche Booklet mit Oliver Nödings Essay (der sich jedoch mitunter zu sehr vom Film als solchen entfernt).