27. Juli 2018

Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb

You’re gonna have to answer to the Coca-Cola company.

Heutzutage kann man sich im Grunde nicht vorstellen, dass es gefühlt jeden Moment zum nuklearen Holocaust kommen könnte. Während des Kalten Krieges zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion war dies schon anders; ganz besonders natürlich in der knapp zwei Wochen währenden Kubakrise im Oktober 1962. Eigentlich kein Thema, um darüber zu lachen – so sollte man meinen. Regisseur Stanley Kubrick sah dies seiner Zeit allerdings ein wenig anders, als er seine ursprünglich als Thriller konzipierte Adaption von Peter Georges Roman Red Alert über einen drohenden Krieg zwischen beiden Nuklearmächten ins Absurde verdrehte. Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb war das Ergebnis.

Ungeachtet seines Komödien-Genres war der Film über weite Strecken relativ authentisch gehalten – selbst wenn die Produzenten eingangs eine Texttafel integrierten, um auf die Fiktionalität des Gezeigten hinzuweisen. Ausgangspunkt der Handlung ist die Aktivierung des Wing Attack Plan R durch General Jack D. Ripper (Sterling Hayden). Im paranoiden Wahn vor sowjetischen Einflüssen auf die US-amerikanische Gesellschaft setzt er sich über die Befehlskette hinweg und instruiert die sich in der Luft befindlichen B-52 Bomber zum Gegenschlag auf die UdSSR. Darunter das Kommando von Major ‘King’ Kong (Slim Pickens). Der Gegen- ist dabei ein Präventivschlag – was die Weltvernichtungsmaschine der Sowjets aktivieren würde.

Die Hybris der Figur von Ripper ist es, die ein Untergangsszenario beschwört. Eben auch durch die Ironie, dass die Amerikaner nichts vom automatisierten sowjetischen Gegenschlag wussten. “Of course, the whole point of a Doomsday Machine is lost, if you keep it a secret!”, moniert später auch Dr. Strangelove (Peter Sellers) gegenüber dem sowjetischen Botschafter Alexi de Sadesky (Peter Bull). Zu dem Zeitpunkt sind die Figuren bereits Spielbälle eines Vorgangs, den sie kaum mehr beeinflussen können – ähnlich wie ihn John Badham 1982 für seinen Film WarGames kopieren sollte. In jenem Film weigert sich zu Beginn ein Soldat, zum nuklearen Gegenschlag auszuholen, der wie sich anschließend herausstellt, auch unbegründet gewesen wäre.

George C. Scott als bedepperter General Turgidson gibt sich angesichts vorhandener Umstände opportun. Wenn Wing Attack Plan R schon in Aktion ist, warum dann nicht gleich ganz All In gehen – um bei dem Bild zu bleiben, das Kubrick mit dem Poker-Tisch im War Room kreiert. Ein großflächiger umfassender Angriff würde den Sieg bringen, bei verhältnismäßig moderaten zivilen Verlusten um die 20 Millionen Menschen. Für US-Präsident Merkin Muffley (Peter Sellers) aber keine echte Option, will er nicht als größer Massenmörder seit Adolf Hitler in die Geschichte eingehen. “Perhaps it might be better, Mr. President, if you were more concerned with the American people than with your image in the history books”, mahnt Turgidson.

Ein Dialog, der in Hinblick auf die Trump-Administration nun praktisch seiner Zeit voraus wirkt. Figuren wie Turgidson und Ripper vertreten einen “America first”-Anspruch, während Muffley und der in Rippers Militärstützpunkt als britischer Liaison fungierende britische RAF-Captain Lionel Mandrake (Peter Sellers) die Stimme der Vernunft repräsentieren. Dr. Strangelove hat somit den Zwiespalt eines Gegen- und eines Miteinander zum Thema. Kubrick persifliert den Wettrüstungsgedanken, der den Ursprung der Doomsday Machine markiert, dabei auch in der vielleicht humorvollsten Szene des Films: jenem teils von Sellers improvisierten informierendenTelefonanruf von Präsident Muffley an seinen Gegenüber, den russischen Premier.

Der Humor der Szene wirkt dem relativ informellen Gesprächston inne (“Do you suppose you could turn the music down just a little?”), obschon das Gespräch der beiden den drohenden Kriegsausbruch abwenden soll. “I am as sorry as you are, Dmitri. Don’t say that you’re more sorry than I am because I am capable of being just as sorry as you are”, setzt Muffley das apologetische Wettrüsten auf sprachlicher Ebene fort. Auch sonst finden sich widersprüchliche Verhaltensweisen im Film. Von den etlichen, ins Gegenteil verkehrten, “Peace is our profession”-Plakaten auf Rippers Militärbasis hin zu Muffleys Tadel, als Turgidson und de Sadesky ob möglicher Spionage aneinandergeraten (“You can’t fight in here! This is the War Room”).

Der drohende Zusammenbruch der menschlichen Gesellschaft ist bei Kubrick zuvorderst ein verbaler. Mandrakes gutes Zureden auf Ripper stößt auf taube Ohren, wie später auch sein Bemühen, den Präsidenten von den Umständen per Telefon zu infomieren. Der angespannte Dialog zwischen USA und UdSSR inmitten des Kalten Krieges und seines nuklearen Wettrüstens führte schließlich zum Bau der Doomsday Machine und die B-52 von Kong ist später per Funk nicht mehr zu erreichen und von ihrem Kurs abzubringen. Dabei hatten die Männer an Bord sowie Kong anfangs noch die Glaubwürdigkeit des Wing Attack Plan R in Zweifel gezogen. Ebenjener Umstand, der in WarGames zu dessen Simulationsprogramm WOPR führen sollte.

“Human beings for Kubrick possess something of the quality of mobile dolls or mannequins (…) Human actions, in his view, are governed by determinations beyond our grasp”, beschreibt der Yale-Dozent und Filmjournalist David Bromwich in seinem Essay The Darkest Room, welcher der Criterion Edition des Films beiliegt, einen der generellen Vorwürfe an Kubricks Regie. Dabei ist dies in Dr. Strangelove nur bedingt so, gerade Mandrake und Muffley sind sehr warm gezeichnete Charaktere, Turgidson und Ripper zwar von ihren Handlungen bestimmt, aber dennoch in all ihrer Lächerlichkeit nachvollziehbar skizziert. Am Ende eint Ripper und die Sowjets mehr, als sie sich eingestehen würden: die Angst vor dem jeweils anderen.

Bemerkenswert ist, dass Kubrick und Bühnengestalter Ken Adam im Prinzip den gesamten Film mit drei Sets gestalten: dem War Room, Rippers Büro und das Innere von Kongs B-52. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass hier am Budget gespart wurde, war doch gerade der War Room eine 1.200m² große Bühne mit einer Höhe von elf Metern. Wie Dr. Strangelove zeigt, war aber auch nicht sehr viel mehr nötig, um die Theaterartige Dramaturgie zu inszenieren. Dass der Film so gut funktioniert, verdankt er nicht zuletzt jedoch seinem Drehbuch von Kubrik und Terry Southern sowie dem kongenialen Ensemble, das die Worte und Charaktere der beiden Männer basierend auf Peter Georges Vorlage zum Leben erweckte.

Hochgelobt, wenn auch keine schauspielerische Glanzleistung, war der Dreifachauftritt des am Set improvisierenden Peter Sellers. Seine Besetzung in mehreren Rollen soll nach dem Erfolg von Kubricks Lolita-Verfilmung eine Forderung seitens Columbia Pictures gewesen sein. So nüchtern wie Mandrake und Muffley sind, fällt dann das Spiel von Sellers aus, am meisten Fleisch an den Knochen durfte der Schauspieler für den titelgebenden gelähmten Nazi-Wissenschaftler Dr. Strangelove gepackt haben (“Mein Führer… I can walk!”). Kubrick ließ seinen Star hier quasi als eine Art Proto-Johnny Depp an der langen Leine, was zu herrlichen Momenten wie dem von Sellers für die Figur entwickelten Alien-Hand-Syndrom führte.

Heimlicher Star des Films ist aber im Grunde George C. Scott, den Kubrick in der Regel so viele Einstellungen spielen ließ, bis er ihn an seinem theatralischem Limit hatte. Gerade jene Theatralik ist es jedoch, die Turgidson das Tüpfelchen auf dem i verleiht, als großgewachsener Schulhof-Rowdy in Militäruniform. Der Darsteller selbst soll anfangs mit der Take-Auswahl seines Regisseurs nicht glücklich gewesen sein, ehe er mit der Zeit dann doch ihre Brillanz und Notwendigkeit für den absurden Humor des Films erkannte. Dass Sellers, der ursprünglich auch noch hätte Major King spielen sollen, von dem Part zurücktrat und Kubrick ihn mit dem Rodeo-Reiter Slim Pickens ersetzte, darf im Nachhinein auch als Coup erachtet werden.

„99 Kriegsminister, Streichholz und Benzinkanister, Hielten sich für schlaue Leute“, besang Nena im Jahr 1983 in 99 Luftballons ein ähnliches Szenario über die gegenseitige Auslöschung. Mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Fall der Berliner Mauer schien ein Nuklearer Holocaust jedoch endgültig abgewendet. Ehe US-Präsident Trump zu Jahresbeginn Nordkoreas Diktator Kim Jong-un via Twitter in Turgidson-Manier wissen ließ: “I too have a Nuclear Button, but it is a much bigger & more powerful one than his, and my Button works!” Die Realität scheint das absurde Bild, das Stanley Kubrick 1964 in Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb von der Administration seines Landes zeichnete, eingeholt zu haben.

9.5/10

20. Juli 2018

L’amant double [Der andere Liebhaber]

I feel empty sometimes. Like something’s missing.

Es ist die Krux der Psychosomaten: das Verspüren eines Leidens, das von der Seele ausgeht, aber keinen körperlichen Befund anbietet. Seit jeher plagen auch die 25 Jahre alte Chloé (Marine Vacth) abdominale Schmerzen. Die, so versichern ihr die Ärzte, sind jedoch mentalen Ursprungs. Weshalb die junge Frau zu Beginn von François Ozons L’amant double [Der andere Liebhaber] schließlich die Praxis des Psychotherapeuten Paul Meyer (Jérémie Renier) aufsucht. Anstatt dass er sie von ihren Problemen befreit, verfängt sich Chloé stattdessen mehr und mehr in einem sexuell und psychologisch aufgeladenem Knäuel, das sich um Pauls Vergangenheit und familiären Hintergrund rankt. Die Frage stellt sich: Was ist wahr – und was nicht?

Ein Motiv, das sich durch Ozons jüngsten Film zieht, von Chloés Bauchschmerzen hin zu ihrer Wahrnehmung der sich entwickelnden Ereignisse. Nach einigen Sitzungen beendet Paul die Therapie von Chloé, um mit ihr eine Beziehung einzugehen. Die hegt in der Folge Zweifel am Vertrauen zu ihrem Freund, als sie zuerst seinen Pass unter anderem Namen und dann ihn selbst mit einer anderen Frau sieht. Sein Zwilling Louis, wie sich herausstellt, der ebenfalls als Psychotherapeut tätig ist. Aber auch ein Bruder, von dem Paul seiner Freundin nie etwas erzählt hat. Die nimmt fortan bei Louis zuerst Sitzungen wahr, aus denen sich schnell eine sexuelle Affäre entwickelt. Mit der Frage, was die Brüder einst derart entzweit hat.

Das Zwillingsmotiv ist insofern interessant, da es Chloé in ihrer ersten Sitzung mit Paul selbst in den Raum wirft. Sie selbst wünsche sich eine Zwillingsschwester, die sie beschützen könne. Indiz für ein problematisches Familienbild, ist die 25-Jährige doch ein „Unfall“ – so die Worte ihrer Mutter –, der aus einem One-Night-Stand resultierte. Aufgewachsen ist Chloé bei ihren Großeltern, offenkundig ist sie auf der Suche nach Geborgenheit, die ihr lange höchstens ihr Kater Milo schenkt, und die sie nun in Paul zu finden glaubt. Die Hintergründe ihrer sozialen Störung schlüsselt Ozon nicht auf. Die Figur ist anfangs auf der Suche nach Arbeit, war früher einmal Model. Sie sage oft das Falsche, L’amant double liefert aber kein Beispiel hierfür.

Ein soziales Netz scheint Chloé dabei nicht zu besitzen. So sehen wir sie weder im Umfeld eines Freundeskreises, noch die erwähnten Großeltern. Umso stärker ist dadurch der Fokus auf Paul und das Geheimnis um ihn und Louis. Der gibt sich aufgeschlossener als Paul, durchschaut aber schnell den Vorwand, mit dem Chloé erstmals bei ihm aufschlägt. “Lying to seduce is common practice among pretty women”, feixt er. So ähnlich die Zwillinge sind, so verschieden sind sie. Beide zwar herrisch, doch Louis weitaus selbstbewusster und bestimmter. In der Folge befindet sich Chloé den Film hindurch stets außer Kontrolle, wirkt selbst in den Momenten, die sie aktiv bestimmt, eher wie ein Spielball ihres Freundes oder Liebhabers.

Nicht nur deswegen erinnert sie ein wenig an Frauen-Figuren aus Roman Polanskis Filmen der 1960er Jahre wie Repulsion mit Catherine Deneuve oder Rosemary’s Baby mit Mia Farrow. Mit Letzterer teilt sich Marine Vacth zudem das Erscheinungsbild, vom Kurzhaarschnitt hin zu leicht eingefallenen Augen. Auch der verstärkt in L’amant double zu Tage tretende Psycho-Horror und die ihm innewohnende Paranoia erinnern an Polanskis erwähnte Filme, genauso wie an sein Werk The Tenant. Wo sich Ozon zuletzt in Jeune et jolie von Luis Buñuels Belle de jour inspirieren ließ, verzeichnet sein neuer Film somit Ähnlichkeiten mit dem franko-polnischen Regisseur. Dabei ist der Film an sich eine Adaption von Joyce Carol Oates’ Roman Lives of the Twins.

Neben der Handlung und der Atmosphäre arbeitet Ozon gerade zu Beginn mit visuellen Spielereien, um Thema und Stimmung zu verstärken. So blendet er im ersten Bild geschickt von Chloés Vulva zu ihrem Auge über, ihr Weg zu Pauls Praxis führt sie über eine unendlich anmutende Spindeltreppe. Einstellungen, die sich leider im Verlauf nicht durch den Rest des Films ziehen – vielleicht, weil Ozon befürchtete, sie würden zu sehr ablenken. Stattdessen übertragen sich die Zweifel von Chloé auf den Zuschauer. Was ist real, was Traum, was nur Einbildung? Ist die schrullige Nachbarin (Myriam Boyer) mehr, als sie vorgibt? Oder die Mutter (Jacqueline Bisset) einer ehemaligen Freundin und Schulkameradin von Paul und Louis?

Die Geschichte bewegt sich dabei zumeist an der Oberfläche der Ereignisse, wird selten konkret. So soll das Mysterium am Leben erhalten, wenn nicht sogar befeuert werden. Im Vergleich zu einem ähnlichen Film wie Denis Villeneuves Enemy arbeitet Ozon dann aber doch weniger vage per Bildsprache, sondern versucht gegen Ende die Auflösung zwar mit Interpretationsspielraum zu versehen, zugleich aber dennoch mit ausreichend Antworten zu unterfüttern. “When it comes to twins we assume if we know one, we know the other”, sagt Bissets Figur im Film zu Chloé hinsichtlich Paul und Louis. Das Dilemma für Chloé ist, dass sie selbst Paul kaum besser kennt als Louis – zu sehr liegt seine Vergangenheit im Dunkeln.

François Ozon inszeniert seine Geschichte durchweg gekonnt, selbst wenn die schöne Bildsprache zu Beginn keinen roten Faden erhält. Wiedervereint mit Marine Vacth trägt diese den Film überwiegend überzeugend, während es Jérémie Renier etwas vermissen lässt, Paul und Louis geschickter auszuarbeiten (wobei auch dies die Intention Ozons sein könnte). L’amant double erinnert dabei zugleich neben modernen Psycho-Dramen wie Enemy und den Arbeiten Polanskis auch an erotisch aufgeladene Thriller der 1990er Jahre. Die Frage ist, ob der Film mit all seinen Wendungen auch noch Wiederholungssichtungen Stand hält. Im ersten Eindruck jedenfalls stellt er einen weiteren gelungenen Beitrag in François Ozons Filmografie dar.

7/10

13. Juli 2018

Poesía sin fin [Endless Poetry]

¡Ustedes son nada!

Jeder Künstler, findet Alejandro Jodorowsky, mache sein Leben zum Kunstwerk. In seinem persönlichen Fall ist dies beim inzwischen 89-jährigen franko-chilenischen Regisseur auch genau so zu verstehen. Über fünf Filme hinweg plant Jodorowsky seine Lebensgeschichte auf Zelluloid zu bannen. Und hat trotz seines hohen Alters wohl noch genug Zeit dazu, rechnet er doch damit, locker 120 Jahre alt zu werden. Seine Kindheit bildete 2013 den Rahmen für La Danza de la Realidad [The Dance of Reality], in Poesía sin fin [Endless Poetry] widmet er sich nun jener Phase seines Lebens, in der er seine Bestimmung als Poet für sich entdeckte. Ein Einschnitt in seiner Biographie – und wie sich herausstellen soll, zugleich auch in gewisser Weise Therapie.

In der Spätphase seiner Jugendlichkeit zeigt sich Alejandro (Adan Jodorowsky) immer mehr fasziniert von der Poesie und der chilenischen Bohème rund um Stella Díaz Varín (Pamela Flores) oder auch Enrique Lihn (Leandro Taub). Gerade mit Letzterem soll Alejandro in der Folge eine Seelenverwand- und Freundschaft verbinden, während sich die beiden Künstler als solche zu definieren versuchen. Enrique ist dabei etwas unsteter als Alejandro, was sich auch auf seine Beziehung zu Pequeñita (Julia Avendaño) auswirkt. Probleme zuhause waren es ebenfalls, die Alejandro einst vertrieben, zeigt sein herrischer Vater Jaime (Brontis Jodorowsky) doch wenig Verständnis für die körperlichen wie geistigen Bedürfnisse des Sohnes.

Gerade in seinem ersten Akt versprüht Poesía sin fin einiges von dem surrealistischen Charme, mit dem sich Jodorowsky einst durch Werke wie El Topo international einen Namen gemacht hat. Wie schon in La Danza de la Realidad trägt auch hier seine Mutter Sara (ebenfalls Pamela Flores) ihren gesamten Dialog singend vor. Fast so, als nehme der Sohn jedes Wort seiner Mutter wie ein Lied wahr. In schwarz gekleidete Figuren reichen den Darstellern die Requisiten und Jodorowsky inszeniert den Sprung zurück ins Chile von vor 70 Jahren über fotografierte Tapeten, die er über die heutigen Gebäude zieht. Der Film besitzt Originalität und Humor. Zwei Aspekte, die er über seine Laufzeit von über zwei Stunden jedoch nach und nach verliert.

Mit ein Faktor mag sein, dass Jodorowsky als narrative Klammer seinen Film über das schwierige Verhältnis zu seinem Vater Jaime erzählt, während die Beziehung den Großteil des Films aber nicht wirklich von Belang ist. Vielleicht auch, weil der 89-Jährige sie in La Danza de la Realidad genug aufgearbeitet sieht. Aber auch welche Rolle Enrique Lihn und Stella Díaz Varín konkret in seiner Frühphase gespielt haben, wird nicht vollends klar. Vielmehr gleiten sie eher durch die Handlung, um an einzelnen Stationen aufzutauchen. Wie Díaz Varín, die als Jodorowskys erste Muse eingeführt, kurz darauf aber bereits wieder abserviert wird. Ohne dass ihr Einfluss auf ihn und seinen kreativen Schaffensprozess hierbei wirklich eingehender beleuchtet wurde.

Das Ensemble arbeitet die semi-biografischen Erfahrungen seines Regisseurs aber durchweg gut auf. Allen voran Jodorowskys Sohn Adan wird der naiv-verträumten Art seines Vaters so vorzüglich gerecht, dass sein limitiertes Schauspiel kaum ins Gewicht fällt. Brontis, der älteste Sohn von Jodorowsky, überzeugt hier schon eher, hatte aber den Part seines Großvaters schon in La Danza de la Realidad inne. Alejandro Jodorowsky selbst tritt mitunter als alte Version seiner selbst auf, um sein jüngeres Ich über jenen Mann aufzuklären, der er im Laufe der Jahrzehnte bekommen würde. Ein vollständiges Bild erhält der Zuschauer von diesem Mann nicht, wobei er vielleicht auch erst in seiner nächsten Lebensphase in Paris allmählich zu diesem wurde.

Insofern erzählt Poesía sin fin womöglich weniger von der kreativen Findung Jodorowskys als der biografischen Abnabelung zu seinem Heimatland Chile und seiner Familie. “I wanted to be loved by my father”, verriet Jodorowsky 2014 der Washington Post. Dabei wird Jaime nicht nur als das Monster gezeigt, als das ihn sein Sohn wahrnahm (“Your mind is more powerful than any earthquake”, gibt er Alejandro während eines Erdbebens mit). “For art to be art it has to be a cure”, sagte Jodorowsky mal. Was das Filmende verständlicher macht, aber als Aufarbeitungsprozess der Vergangenheit nur bedingt funktioniert. Für Fans des Regisseurs lohnt Poesía sin fin allemal einen Blick, ist auch fraglos ein Kunst-, jedoch leider kein Meisterwerk.

5.5/10

6. Juli 2018

Sasame-yuki [The Makioka Sisters]

You’re all living in the past.

Bei manchen Literatur-Adaptionen kann der Druck immens sein. Egal ob es um J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings geht oder um Patrick Süßkinds Das Parfüm. Mit bereits zwei Verfilmungen von Tanizaki Jun’ichirōs Sasame-yuki – international als The Makioka Sisters vertrieben – hätte es Regisseur Ichikawa Kon eigentlich locker angehen können. Ganz so einfach war es dann aber doch nicht. “Ichikawa had to make the Gone with the Wind of Japan (…) on a TV-movie budget”, berichtet die Filmwissenschaftlerin Audie Bock im Essay-Booklet der Criterion Blu-ray des Films. Das Geld war knapp, die Kostüme und Kulissen teuer. Und dann verstarb auch noch kurz vor Produktionsbeginn Ichikawas Frau und langjährige kreative Partnerin.

Dem Film selbst merkt man all dies nicht an. Sasame-yuki erzählt dabei ähnlich wie Ozu Yazujiros Sanma no aji [An Autumn Afternoon] von dem sozialen Druck der entsteht, wenn eine japanische Frau den Zeitpunkt der Heirat zu verpassen droht. Im Mittelpunkt stehen vier verwaiste Schwestern und Erbinnen eines Kimono-Imperiums, die vom verblassten Ruhm ihrer Familie zehren. Yukiko (Yoshinaga Sayuri), die Drittälteste, harrt immer noch der Dinge in Sachen Eheschließung, ist aber bereits um die 30 und damit fast zu alt für einen vielversprechenden Ehemann. Das Dilemma wird noch größer, da Taeko (Kotegawa Yūko), die Jüngste, zwar im besten heiratsfähigen Alter ist, aber erst auf die ältere Schwester warten muss.

“These customs are so complicated”, klagt Taeko, die ohnehin weitaus westlicher eingestellt ist als die anderen Makiokas. Taeko schielt auf ihre Mitgift und hält sich mit Puppendesign finanziell über Wasser. Sowohl sie als auch Yukiko sind dabei eine geteilte Bürde zwischen Tsuruko (Kishi Keiko), der Ältesten und Familienoberhaupt, und Sachiko (Sakuma Yoshiko). Letztere hat mit ihrem Mann Teisonuke (Ishizaka Koji) – wider der Gepflogenheit – die Jüngeren bei sich zuhause aufgenommen. Speziell zwischen Tsuruko und Taeko tut sich der generationelle Graben auf. “You’re so obsessed with your position”, rügt da selbst Sachiko. Tsuruko muss aber stets den Ruf und das Wohl der Familie als Ganzes im Blick haben.

Keine der Figuren in Sasame-yuki ist wirklich glücklich und zufrieden. Die Wirtschaft Japans Anfang der 1930er Jahre könnte besser sein – genauso wie die Eheleute der Makiokas. Teisonuke und Tsurukos Gatte Tatsuo (Itami Jūzō) entstammen einem so armen Haus, dass sie gezwungener Maßen den Namen ihrer Frauen annehmen mussten. Was es einerseits verwunderlich und andererseits zugleich verständlich macht, wenn Sachiko und Teisonuke später Taekos Verehrer Okubato (Katsura Kubeichō) wegen seiner armen Herkunft als ungeeignet einstufen. Den Film durchziehen arrangierte Blind Dates von Yukiko und potentiellen Ehemänner, die mit Mitte 40 den Absprung auch verpasst zu haben scheinen oder schwer vermittelbar sind.

“I feel like the potential grooms are getting worse and worse”, kommentiert Teisonuke, als eines der vielen Treffen mal wieder im Sande verläuft. In der Regel, wie Sachiko eingangs offenbart, weil lange Zeit Tsuruko auf bessere Optionen wartete und Kandidaten kurzfristig ablehnte. Später ist es dann Yukiko selbst, die immer wieder Absagen gibt. Allerdings so scheu ist, dass sie ihren eigenen Wünschen keine Stimme gibt. “She never says what she thinks of marriage”, kritisiert auch Tsuruko. Ihrer sexuellen Reize ist sich die schüchterne Drittälteste gewahr, gerade Teinosuke scheint sie es angetan zu haben, was ihr bewusst ist. Tsuruko hat eigentlich eigene Probleme, soll Tatsuo doch für seine Bank ausgerechnet nach Tokio versetzt werden.

Immerhin ein gutes Zeichen für einen Job, der gefragt ist. Zwar verrät Ichikawa nicht allzu viel über die Lage der Nation im Jahr 1932, aber zwischen den Zeilen dann doch genug, um sich ein gewisses Bild machen zu können. “It seems kimono department managers have nothing to do these days”, unkt Sachiko, als Teisonuke eines Tages früh aus dem Geschäft der Familie heimkehrt. Zugleich zeigt das Verhalten von Tsuruko und Sachiko sowie von Taeko gegenüber deren wechselnden Verehrern, die dominante Position, welche die Makioka-Frauen in ihren Beziehungen ausüben. Sie alle würden in der Vergangenheit leben, wirft ihnen Tatsuo später an den Kopf und deutet damit einen gesellschaftlichen Wandel an, der sich vollzieht.

Eine Rückblende wenige Jahre zuvor, in welcher Taeko und Okubato gemeinsam durchbrannten, veranschaulicht dies ebenso. Die Presse druckt versehentlich Yukikos Namen anstelle den der Schwester, sodass eine neuerliche Publikation veranlasst werden muss. “Saving your honor meant harming Taeko’s”, erklärt Tatsuo. Ishikawa filmt die Flucht der Jugendlichen in Schwarz-Weiß als visuelle Abgrenzung, allerdings nicht jene familiäre Aufarbeitung, die ebenfalls in der Vergangenheit stattfand. Gerade Taeko und ihre Romanzen ziehen Sasame-yuki etwas unnötig in die Länge, wenn Liebhaber auf- und abtreten, während der von Taeko verstoßene Okubato im Verlauf in einer Nebenhandlung zu einer Art Antagonist verkommt.

Ichikawas Film ist dennoch keine zähe oder trockene Angelegenheit. Der Regisseur findet vielmehr stets Momente zur humorvollen Auflockerung, hauptsächlich in Form von Ohisa (Sanjō Miki) und Oharu (Uehara Yukari), den jeweiligen Hausmädchen von Tsuruko und Sachiko. Als Letztere in einem Eifersuchtsanfall ob der Affektion von Teisunuke gegenüber Yukiko in ihrer Wut eine Kiwi malträtiert, gebührt Oharus konsternierter Beobachtung der Szene der größte Lacher des Films. Visuell ist Sasame-yuki ohnehin eine Augenweide. Von den etwaigen Kirschblüten-Einstellungen hin zu den vielen variierenden Kimonos, welche die Makioka-Schwestern im Filmverlauf immerzu tragen, zeigt sich wenig von einem angeblichen TV-Budget.

Als Leitmotiv bleibt das Verhältnis der Makiokas zur Liebe und ihren jeweiligen Partnern. Nur weil Tsuruko und Sachiko bereits im Hafen der Ehe gelandet (gestrandet?) sind, macht sie dies nicht weniger unglücklich als ihre jüngeren Schwestern. “Things happen and seasons change, but nothing really changes after all”, meint Sachiko zum Schluss zwar. Aber Änderungen können sich niederschlagen, wenn die Charaktere wie Yukiko oder Tsuruko bereit sind, sie aktiv herbeizuführen. Für keine der Makiokas wird die Welt am Ende von Sasame-yuki dieselbe sein wie zu Beginn. Auf jede der Schwestern wartet eine ungewohnte Zukunft – für die eine hoffnungsvoller als die andere. Zumindest leben sie aber nicht mehr in der Vergangenheit.

6.5/10