28. September 2018

Barry Lyndon

How do you do?

Jeder ist seines Glückes Schmied, heißt es so schön. Oder umgekehrt sicher auch seines Unglückes. Letzteres dürfte in der Person von Redmond Barry (Ryan O’Neal) zutreffend sein, der zwar spät das Glück fand, es dann aber nicht zu nutzen wusste. Stanley Kubrick erzählt in Barry Lyndon seine Geschichte, die sich in der Mitte und zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abspielt. Und, wie es Filmkritiker Geoffrey O’Brien im Essay der Criterion Edition des Films trefflich beschreibt, von einem “nobody who wants to be somebody” handelt. Vom armen irischen Jüngling Redmond Barry, der den Siebenjährigen Krieg in zwei unterschiedlichen Armeen überlebte und später zum wohlhabenden Barry Lyndon avancierte, ehe er alles wieder verlor.

Kubrick adaptierte den Kern der Geschichte aus dem Roman The Luck of Barry Lyndon von William Makepeace Thackerey aus dem Jahr 1844. Barry Lyndon mag in gewisser Weise eine Art Vorläufer von Robert Zemeckis’ Forrest Gump sein, begleiten beide Filme doch über viele Jahrzehnte hinweg den Aufstieg ihrer Figur inmitten verschiedener historischer Ereignisse. Im Fall von Redmond Barry nimmt seine Geschichte nach einer unglücklichen Romanze ihren Lauf. Redmonds Liaison mit seiner Cousine Nora (Gay Hamilton) wird von deren Familie für eine Ehe mit dem englischen Captain Quin (Leonard Rossiter) und dessen Einkommen geopfert. Die finanzielle Absicherung steht über der Emotion – daraus wird Redmond später lernen.

Ein inszeniertes Duell vertreibt den jungen Nebenbuhler, der nach einem Raubüberfall des Vater-Sohn-Gespanns um Captain Feeny (Arthur O’Sullivan) ohne Geld und Pferd selbst als Soldat in der Armee seiner Majestät anheuert. In Captain Grogan (Godfrey Quigley) findet er dort zwar eine väterliche Figur, die jedoch kurz darauf in einem Gefecht des Siebenjährigen Krieges verstirbt. Redmond nimmt sein Glück selbst in die Hand, desertiert und landet am Ende doch nur im Dienst der preußischen Alliierten, als ihn deren Hauptmann Potzdorf (Hardy Krüger) überführt. Vom Regen in die Traufe geraten, macht Redmond das Beste aus der Lage. Ähnlich wie er es die nächsten Jahrzehnte des Öfteren tun wird – oder es zumindest versucht.

“He seems to me little more than a common opportunist”, erkennt der 10-jährige Lord Bullingdon (Dominic Savage). Mit seiner verwitweten Mutter Lady Lyndon (Marisa Berenson) ging Redmond zuvor die Ehe ein – reich und adelig, finanzielle Absicherung vor Emotionen. Redmond geht nun denselben Weg wie Nora. Kubrick inszeniert die Begegnung der Figuren subtil romantisch – insofern man bei Kubrick von Romantik sprechen mag. Beide sind jung und hübsch – doch Redmonds Avancen Kalkül. “Lady Lyndon was soon destined to occupy a place in Barry’s life, not very much more important than the elegant carpets and pictures which would form the pleasant background of his existence”, verrät der Erzähler (Michael Hordern).

Redmond scheint am Ziel angelangt, erhält vom König die Erlaubnis, als “Barry Lyndon” den Namen seiner Frau anzunehmen. Ist der Ruf erst generiert, lebt es sich ganz ungeniert – zwar zeugt Barry mit Lady Lyndon einen Nachfahren, frönt ansonsten aber dem Glücksspiel und Alkohol in offenkundiger Untreue gegenüber seiner Gattin. Immerhin verhätschelt er seinen Sohn in derartiger Weise, wie sie ihm selbst stets verwehrt geblieben ist. Die einzige zur Schau gestellte Zuneigung neben jenen Gefühlen für Nora zuvor. Lord Bullingdon (Leon Vitali) als eigentlicher Erbe des Nachlasses seines Vaters verkommt zur tolerierten Randerscheinung. Und erkennt selbst, dass er seines Glückes – und das seiner Mutter – Schmied sein muss.

Dabei ähneln sich Redmond und Bullingdon zumindest dahingehend, dass beide überwiegend passive Figuren sind, die eher reagieren als agieren. So erreicht Redmond selbst relativ wenig im Leben, als ihm die Dinge eher zufallen. Stets unternimmt er lediglich die geringsten Anstrengungen für seine Ziele, beispielsweise das Werben um Lady Lyndons Gunst. Als ein Vertreter des Adels ist es Lord Bullingdon wiederum nicht gewöhnt, selbst aktiv zu werden, um sich seine Wünsche zu erfüllen. Indem Barry Lyndon beide Charaktere denselben Raum teilen lässt, wird deutlich, dass eine Konfrontation unausweichlich ist. Was eine glückliche Patchwork-Familie hätte werden können, scheitert an Redmonds egoistischer Sichtweise.

Das Ensemble um O’Neal, Berenson oder Patrick Magee als Chevalier du Balibari fügt sich mit oft ausdruckslosem, reservierten Spiel in diese augenscheinlich lieblose Welt. Jene Welt, die Barry Lyndon für seine Figuren erschafft, fasziniert dabei mehr als diese selbst. Der Film profitiert hier von Kubricks Anspruch an Perfektion: Ausstattung, Kostüme und Maske sind auf den Punkt genau, die Kameraarbeit und Inszenierung mit vielen Totalen und Outzooms sowie den Dreharbeiten bei Kerzenlicht (dank für die NASA produzierter Zeiss-Linsen) berühmt. Die aus klassischen Stücken bestehende musikalische Untermalung, allen voran durch Georg Friedrich Händels „Sarabande“, bildet die Krönung. Barry Lyndon ist ein audiovisueller Traum.

Die Geschichte von Redmond Barry erscheint da zweitrangig. Wie so oft vermittelt Kubrick keinen wirklichen Zugang zu seinen Figuren (auch das eint den Film mit einem Forrest Gump). „Wer ist Redmond und wie tickt er?“ sind Fragen, die ebenso wie das Innenleben und die Gefühlswelt von Lady Lyndon – Marisa Berenson spricht nur gut ein Dutzend Zeilen – auf der Strecke bleiben (müssen). Ähnlich einem Werk wie Paths of Glory wirken die Charaktere primär als Spielbälle eines Schicksals, das sie nicht beeinflussen können. Letzten Endes sind sie somit austauschbar, erscheinen willkürlich. “Good or bad, handsome or ugly, rich or poor – they are all equal now”, informiert die finale Texttafel passend in Hinblick auf ihr Nachleben.

Barry Lyndon erzählt dabei weniger vom Aufstieg und Fall des Redmond Barry, berücksichtigt man, dass die Hochphase von Redmond nur einen kurzen Zeitraum in der Filmmitte ausmacht. Vielmehr gerät die Figur von einer Bredouille in die nächste, ehe sie sich plötzlich wider Erwarten am Ziel angelangt findet, nur um sich selbst letzten Endes im Weg zu stehen. “In my profession we hear many such stories. Yours is one of the most intriguing and touching I’ve heard in many weeks”, unkt Captain Feeny über Redmonds Misere. Genauso wie es sich gut auf die drei Soldaten in Paths of Glory, Humphrey Humphrey in Lolita oder Alex in A Clockwork Orange münzen ließe. Und da soll noch einer sagen, Kubrick liege nichts an seinen Figuren.

9/10

21. September 2018

Sandome no satsujin [The Third Murder]

These days, victims think they can get away with anything.

Im Zweifel für den Angeklagten – die generelle Unschuldsvermutung ist ein rechtsstaatliches Grundprinzip, mit dem Japans Justizsystem wohl eher wenig anfangen kann. Im Land der aufgehenden Sonne enden 99,9 Prozent aller Strafprozesse mit einem Schuldspruch. Nicht zuletzt deshalb, weil neun von zehn Angeklagten ein Geständnis ablegen. Dieses „gilt in japanischen Strafverfahren als Königin der Beweise“, schrieb Falk Schäfer bereits vor zehn Jahren in der taz. Insofern wirkt es etwas unsinnig, wenn in Kore-eda Hirokazus Justiz-Krimi Sandome no satsujin – international: The Third Murder – der Strafverteidiger Shigemori (Fukuyama Masaharu) über den Mordprozess seines Klienten urteilt: “The only evidence is his confession.”

Shigemori wird zu Beginn hinzugerufen, um die Verteidigung von Misumi (Yakusho Kōji) zu übernehmen. Er hat den Mord an seinem ehemaligen Chef gestanden, von Kore-eda zu Filmbeginn gezeigt. Doch was geschah an jenem Abend wirklich, als sich beide Männer an einem Flussufer trafen? “He changes his story every time I see him”, deutet früh schon Misumis eigentlicher Rechtsbeistand Settsu (Yoshida Kōtarō) an. Shigemori selbst verbindet eine besondere Beziehung mit dem Angeklagten. Der saß bereits 30 Jahre wegen eines früheren Mordes ein, kam aber dank Shigemoris Vater, seiner Zeit der über den Fall vorsitzende Richter, um die Todesstrafe herum. Heute wie damals liegt also Misumis Leben in der Hand eines Shigemori.

Für den Anwalt gilt es, die eigentlich unabwendbare Todesstrafe zumindest in lebenslängliche Haft umzuwandeln. Um dies zu bewerkstelligen, benötigt er ein Motiv – und damit Hintergründe für den von Misumi verübten Mord. An der Wahrheit, so macht er anfangs jedenfalls deutlich, ist er nur bedingt interessiert. Diese würden sie ohnehin nicht herausfinden, meint Shigemori. “So we chose whatever benefits his case.” Im Laufe der Geschichte entwickelt er aber als mehr und mehr Details auftauchen doch allmählich ein Interesse, was sich wirklich zugetragen hat. War es ein Mord aus Geldgier oder aus dem Affekt nach einem Streit über zu niedriges Gehalt? Auch die Frauen im Leben des Opfers nehmen plötzlich eine stärkere Rolle ein.

Wie erklärt sich der Kontakt zwischen Misumi und Sakie (Hirose Suzu), der Tochter des Getöteten? Hat dessen Witwe und Sakies Mutter (Saito Yukie) tatsächlich Misumi für den Mord engagiert, um die Lebensversicherung ihres Mannes einzustreichen? Peu à peu dröselt Kore-eda seine narrative Zwiebel auf, beleuchtet neue Facetten und schickt Shigemori in die Vergangenheit seines Klienten. Als “empty vessel” bezeichnet diesen der Ermittler jenes ersten Mordfalls. Misumi ist eine Figur, an der das Leben vorüberging. Die Tochter, die er nicht aufziehen konnte, hat den Kontakt zu ihm abgebrochen. Auch nach der verbüßten Haftstrafe scheint eine Wiedereingliederung schwer gewesen zu sein. Und wurde ihm in der Folge nicht leichter gemacht.

Im Bauunternehmen des Getöteten war Misumi nicht der einzige Angestellte mit einem Gefängnisaufenthalt in der Vita. Vielmehr war die Vorstrafe für den Chef Anlass, beim Gehalt der Männer Abstriche zu machen. Die konnten froh sein, überhaupt Arbeit zu haben. “You can’t fight back if you have a weakness”, sagt einer von ihnen. Nur dass Misumi eben, wie es den Anschein hat, sich doch wehrte. Wenn auch die Konsequenzen dafür nun drastisch sind. Die Faszination Shigemoris für die Hintergründe und Motive lässt Kore-eda ruhig und bedacht erwachen. Sandome no satsujin nimmt sich sein eigenes Tempo, dem Genre zum Trotz. Damit fügt sich der Krimi ganz gut ein in die bisherige gelungene Filmografie des japanischen Meisterregisseurs.

Um Kritik am System geht es Kore-eda dabei aber wenig bis gar nicht. Daiyo kangoku heißt jene Praktik, die es Polizeibehörden erlaubt, Verdächtige bis zu 23 Tage ohne Anklage in Haft zu halten. Während dieser Phase werden in der Regel die Geständnisse eingeholt. Jenen Schritt überspringt Kore-edas Film jedoch, das Publikum sieht somit nicht, wie sich Misumi letztlich zu der Tat bekannt hat. Aber “the only evidence is his confession” – andere Indizien gibt es keine und selbst das Geständnis variiert. Gerade dies animiert Shigemori dazu, das zu tun, was in der Realität vermutlich kein japanischer Strafverteidiger unternimmt: seinen Klienten zu hinterfragen und trotz des Geständnisses zu untersuchen, ob er nicht womöglich doch unschuldig ist.

Unterschwellig eint Shigemori und Misumi dabei ein Gefühl von familiärer Verpflichtung und Altruismus. Misumi wird von Shigemori quasi als „Erblast“ aufgefasst – hätte sein Vater damals die Todesstrafe ausgesprochen, wäre der heutige Mordfall kein Thema. Mit Misumi eint ihn aber auch die Abstinenz als Vater – genauso wie Misumi für seine Tochter nicht da war bzw. sein konnte, verläuft das Leben von Shigemoris eigener Tochter im Teenager-Alter abseits von seinem eigenen. Die Hintergründe dafür ähneln sich, wie der Film zeigt, ebenfalls bei beiden Männern. Sandome no satsujin interessiert sich folglich mehr für seine zwei Hauptprotagonisten und wie sich Misumis Geständnis auf sie auswirkt, als dafür, wie das Geständnis zu Stande kam.

Es ist löblich, dass Kore-eda nicht dem Inszenierungsstil von Hollywood verfällt, ein leichtes Drehen der Spannungsschraube hätte an mancher Stelle aber auch nicht geschadet. Wie in seinen anderen Filmen dürften weitere Sichtungen förderlich für das Seh-Erlebnis sein. Zumal manche Szenen nach der Auflösung in neuem Licht erscheinen könnten. Die bedächtige, fast gemütliche Regie Kore-edas fügt sich gut in das ihm ungewohnte Genre, vertraute Gesichter wie Fukuyama (Soshite chichi ni naru) oder Hirose (Umimachi diary) helfen. Sandome no satsujin mag kein packender Krimi sein, ist aber durchweg einnehmend und untermauert Kore-edas Klasse. Dahingehend lautet das Urteil wieder mal: schuldig im Sinne der Anklage.

7/10

14. September 2018

Paths of Glory [Wege zum Ruhm]

Ready to kill more Germans?

In einer der einprägsamsten Szenen von Terrence Malicks The Thin Red Line verweigert Captain Staros (Elias Koteas) zum Schutz des Lebens seiner Männer einen Befehl seines Vorgesetzten Colonel Tall (Nick Nolte). Der hatte zuvor den Angriff einer Schlüsselposition für die Schlacht um Guadalcanal im Zweiten Weltkrieg angeordert. “How many men do you think it’s worth? How many lives?”, fragt Tall später Staros, ob er zum Erlangen militärischer Ziele überhaupt gewillt ist, menschliche Opfer zu bringen. Ein Austausch, der genauso in Stanley Kubricks Paths of Glory – hierzulande eingedeutscht als Wege zum Ruhm – stattfinden könnte. Die vermeintliche Verweigerung eines aussichtslosen Angriffsbefehls bildet schließlich dessen narrativen Kern.

Es gibt sogar eine ziemlich ähnliche Szene in Kubricks Adaption des Romans von Humphrey Cobb. So unterrichtet zu Beginn des Films General Broulard (Adolphe Menjou) im Frankreich des Jahres 1916 nahe der Front General Mireau (Geroge Macready) über eine innerhalb der nächsten 48 Stunden einzunehmende Schlüsselposition: den “Anthill”. Doch Mireau windet sich. “My division was cut to pieces”, klagt er über jenen Frontbesuch, von dem die Männer gerade erst zurückkehrten. Und behauptet: “My men come first of all.” Die humanistische Standhaftigkeit eines Staros geht Mireau jedoch letztlich vollends ab, sodass die von Broulard in Aussicht gestellte Beförderung über dem Wohl seiner ohnehin bereits dezimierten Einheit steht.

Später ist er selbst es, der seinem Untergebenen den spontanen Angriff schmackhaft macht. Peu à peu rechnet er Colonel Dax (Kirk Douglas) vor, mit welchen Verlusten zu rechnen sein dürfte. Allein die Einnahme des Anthill dürfte ein Drittel aller Männer ihr Leben kosten, ein weiteres Viertel wiederum das Halten der Position gegen deutsche Vergeltungsangriffe mit dem Tod bezahlen. Summa summarum kalkuliert Mireau, 60 Prozent seiner Männer bei dem Angriff zu verlieren. “It’s a terrible price to pay”, seufzt er heuchlerisch. Aber der Ertrag sei umso bedeutender. Ähnlich wie Mireau ist auch Dax’ Widerstand von kurzer Dauer. Et kütt wie et kütt, würde der Rheinländer wohl sagen. Und so fügen sich die Protagonisten in ihr Schicksal.

Für ranghohe Figuren wie Tall und Mireau steht das große Ganze über dem Einzelnen. Wie in einer Schachpartie ein Bauer geopfert wird, so lässt sich auch kein Krieg ohne eigene Verluste gewinnen. Ist er überhaupt willens, einen seiner Männer zu opfern, fragt Tall da Staros in The Thin Red Line. Welcher Preis ein Sieg haben darf und ob dies gerechtfertigt ist – mit diesen Fragen befassen sich aber weder Malick noch Kubrick. In beiden Fällen finden die Attacken statt, in Paths of Glory endet sie allerdings erfolglos. Als wahrer Held stürzt sich Dax zwar als Erster ins Gefecht und überlebt, wo links wie rechts und hinter ihm seine Männer fallen. Doch die Verstärkung bleibt aus und der Angriff erstickt im Keim, ehe er überhaupt richtig beginnen konnte.

Die zweite Kompanie von Lieutenant Roget (Wayne Morris) verharrt im Schützengraben, kann diesen aufgrund des MG-Feuers nicht verlassen. In einem bezeichnenden Moment will der zurückgekehrte Dax auch diesen Männern Vorbild sein, doch vermag er selbst den Graben nicht zu verlassen, weil die Front-Welle ihm praktisch buchstäblich die Leiche eines Kameraden entgegenspült. Ein Umstand, den Mireau im später folgenden Schauprozess für Feigheit gegen drei der Soldaten als Beweis anführt. Die Reklamation, es sei nicht möglich gewesen, die Gräben zu verlassen und den Anthill einzunehmen, entgegnet er mit einem zynischen “if it was impossible, the only proof would be their dead bodies at the bottom of the trenches”.

Das statuierte Exempel der Exekution dreier Soldaten wird nur noch von deren Auswahl karikiert. So traf den Gefreiten Arnaud (Joseph Turkel) der Losentscheid, obwohl er selbst zuvor für Tapferkeit ausgezeichnet wurde. Der Gefreite Ferol (Timothy Carey) verdankt es seinem sozialen Status und Korporal Paris (Ralph Meeker) selbst zahlt dafür, dass er mit Roget in der Nacht zuvor bei einer missglückten Aufklärungsmission aneinandergeraten ist. Sie alle sind mehr oder weniger willkürliche Sündenböcke. Daher ist es an Dax, im zivilen Alltag praktischer Weise Strafverteidiger (und damit wie Staros ein Jurist), sich im Prozess erneut für das Leben seiner Männer einzusetzen, wo er am Vorabend des Angriffs zuvor noch versagt hatte.

Obschon ursprünglich von Kubrick vorgesehen, kommt es Paths of Glory hierbei zu Gute, dass wir während des Angriffs auf den Anthill die späteren Angeklagten gar nicht begleiten, um ihre jeweilige Rolle – und damit ihre Aussagen – richtig einzuschätzen. Die Situation von Paris, Arnaud und Ferol ist vor dem einberufenen Gericht letzten Endes nicht minder aussichtslos wie die zuvor im Schützengraben. Und ihre Exekution unausweichlich, selbst wenn Kubrick den Film nicht vollends auf einer deprimierenden Note enden lässt. Die während des Gefechts von Mireau gegebene Order, die eigene Kompanie unter Feuer aus ihrem Schutzgraben zu locken, holt diesen schließlich ein. Obgleich dies einen geringen moralischen Sieg darstellt.

Jene Vorfälle beruhen dabei auf wahren Begebenheiten. Im Jahr 1915 gab Divisions-General Géraud Réveilhac vergeblich den Befehl, auf seine Männer im Graben zu schießen, als diese sich weigerten, ihn für einen Angriff zu verlassen. Als Resultat dieser so genannten „Souain Affäre“ wurden vier Korporale für ihre vermeintliche Feigheit hingerichtet. Weithin als führender Vertreter des Antikriegsfilms erachtet, widerspricht der Filmkritiker Gary Giddins dieser Sicht in seinem Audiokommentar der Criterion Edition von Paths of Glory. “This film is about power, class, manipulation and the absurdity of war as a continuation of these civilian instincts”, findet Giddins. Auch wenn diese Punkte wohl bestenfalls subtil im Film selbst auftauchen.

Die Konflikte in Paths of Glory sind sicher auch narzisstisch motiviert, aber die Befehlskette am Ende eben auch eine des Erfolgs. Der Leidtragende bleibt der einfache Soldat, bei dem seine Funktion über der Person steht. “Successful attacks were measured in hundreds of yards and paid for in lives by hundreds of thousands”, informiert eingangs die Erzählstimme von Peter Capell aus dem Off. Kubrick fängt dies nicht nur mit dem eigentlichen Angriff auf den Anthill ein, sondern bereits in jener nächtlichen Aufklärungsmission von Paris und Roget zuvor. Während diese durch das Niemandsland robben, offenbart eine Leuchtgranate im Terrain plötzlich ein wahres Leichenmeer, dem die Figuren selbst schon gar keine wirkliche Beachtung mehr schenken.

In seiner Inszenierung ist Kubrick, obschon es erst sein vierter Spielfilm und der erste mit höherem Budget war, schon nah an jenem Stil, der die nächsten Jahrzehnte sein Schaffen definieren sollte. Einprägsam ist dabei die Dolly-Fahrt durch den Schützengraben aus der Ego-Perspektive – zuerst von Mireau, später dann auch von Dax. Ähnlich wie in seinen anderen Filmen, von The Killing über Lolita hin zu Full Metal Jacket, erwartet den Zuschauer kein wirkliches Happy End, selbst wenn Kubrick scheinbar kurzzeitig mit einer Rettung der drei Soldaten gespielt haben soll. Auf Dax’ Einheit wartet stattdessen der nächste Einsatz, der auf einen kurzen Moment der Ruhe während eines Lieds einer deutschen Kellnerin (Susanne Christian) folgt.

Paths of Glory ist dabei weitestgehend ein darstellerisches Vehikel für seinen Star Kirk Douglas, dessen Figur in Cobbs Roman in ihrer filmischen Form gar nicht auftauchte. Sein Dax ist prinzipiell ein makelloser Charakter, ein Ehrenmann, der sich bis zuletzt für seine Männer einsetzt. Auch wenn der Kampf im Grunde von Anfang an verloren war. Am ehesten schaffen es da noch Macready und Menjou, sich aufgrund ihrer Leinwandpräsenz zu behaupten – auch, da die Motivation ihrer Rollen etwas stärker ausgearbeitet ist. Meeker, Turkel und Carey sollen weniger dreidimensionale Figuren mit Ecken und Kanten sein, sondern als repräsentative Sündenböcke und Platzhalter für ihre Kameraden in der Armee bzw. Kompanie fungieren.

Die Kritik hievt der Film dabei weniger auf die Soldaten, als auf die Entscheider abseits der Front. Das mag Kubrick in dieser Hinsicht mit dem Ansatz eines Michael Bay einen. Als Folge beobachtet das Publikum aber eher einen Prozess der Illoyalität und des aussterbenden Humanismus’. Da wir Paris, Ferol und Arnaud weder als Menschen noch als Soldaten wirklich kennenlernen und auch das gerichtliche Verfahren schnell abgehandelt wird, als in die Tiefe zu gehen, kann der Zuschauer nicht vollends Sympathien in ihr Schicksal investieren. Eben weil es dem Film weniger um konkret diese drei Soldaten geht, sondern die Behandlung aller. Um den Soldat per se – auch hierin ähneln sich letztlich Paths of Glory und The Thin Red Line.

8.5/10

7. September 2018

American Animals

How fucking cool is that?

Gute Freunde sind solche, mit denen man dem Sprichwort nach Pferde stehlen kann. Oder wie im Fall von Spencer Reinhard und Warren Lipka Vögel. Genauer gesagt “The Birds of America”, ein Bildband des Ornithologen und Zeichners John James Audubon aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gut erhaltene Erstauflagen lassen sich für Millionenbeträge veräußern, weshalb Reinhard und Lipka die Idee kam, das Exemplar der Bibliothek von Reinhards Transylvania University in Kentucky zu klauen. Gemeinsam mit zwei Bekannten planten die beiden jungen Männer zwischen 2003 und 2004 den Diebstahl, der zwischen einer reinen Spaßüberlegung und einem ernstgemeinten kriminellen Raub hin- und herschwankte.

Regisseur Bart Layton erzählt diese Geschichte nun in American Animals nach – und zwar auf jene semi-dokumentarische Weise, die schon seine Hochstapler-Biografie The Imposter ausgezeichnet hat. Talking Heads mit den Beteiligten wechseln sich mit Spielfilm-Szenen ab, die jedoch in American Animals weniger Reenactment sind, sondern sich auf Hollywood-Niveau bewegen. Gerade in seinem ersten Akt wechselt Layton beliebig zwischen Interviews mit den echten Personen und dem Ensemble, das sie im Film spielt. Da kann es schon mal sein, dass Spencer (Barry Keoghan) einen Satz beginnt und ihn Reinhard zu Ende führt oder Warren (Evan Peters) gemeinsam mit Lipka zu sehen ist, während beide das Geschehen erörtern.

Insofern geht Layton hier noch einen visuell-narrativen Schritt weiter, mit dem er schon The Imposter seinen Stempel aufdrucken konnte. So sehen wir einmal einen plötzlichen Szenen-Wechsel, weil Spencer und Warren ein Gespräch an unterschiedliche Plätze verorten. In der Folge bleibt so bewusst für den Zuschauer im Verlauf des Films eine gewisse Ungewissheit bestehen, ob sich das, was wir sehen, tatsächlich so ereignet hat, wenn es die Beteiligten unterschiedlich erlebten. Wo The Imposter mehr Dokumentation mit Spielfilm-Elementen war, ist es bei American Animals nun eher umgekehrt. Die zweite Filmhälfte und speziell der Schlussakt werden von Layton dabei kaum noch von Interviews der realen Figuren unterbrochen.

Im Kern erzählt American Animals einerseits von der Orientierungslosigkeit der Millennials, die sich zu Höherem berufen fühlen. Und andererseits von Freundschaften, die einem in dieser Phase den nötigen Halt geben. “Growing up I had the desire for some kind of life altering experience”, berichtet Reinhard zu Beginn des Films. Und Warren erzählt davon, dass einem stets gesagt würde, was man tue sei bedeutend und man selbst besonders. “And you’re not special”, resümiert er. Was beide Figuren eint, ist dieses Gefühl der Leere, das sie im Alltag nicht wirklich zu füllen wissen. Der Diebstahl des Buchs, den scheinbar gerade Reinhard zuerst eher als Schnapsidee auffasste, versprach da, die vermeintliche Lebenslüge wahr werden zu lassen.

Interviews mit den Eltern der beiden Männer erwecken anfangs den Eindruck, als sei Warren stets ein schlechter Einfluss auf Spencer gewesen. Ein Vorwurf, der von den gezeigten Ereignissen nicht unbedingt widerlegt wird, skizziert Layton doch vor allem Warren als den Antreiber und Initiator dessen was folgt. Darunter auch, als es gilt, die Gruppe der Beteiligten zu vergrößern. Mathematik-Student Erik Borsuk (Jared Abrahamson) stößt dazu, weniger des Geldes wegen, sondern der Gesellschaft. “I wanted to regain our friendship more than anything”, teilt Borsuk in Hinblick auf die leichte Entfremdung zu Lipka zuvor mit. Einblicke, die für den Vierten im Bunde, Fluchtwagenfahrer Chas Allen (Blake Jenner), eher ausbleiben.

Der Film nähert sich den Vorfällen von damals als Heist-Komödie. Spencer und Warren holen sich Inspiration von Genre-Filmen wie Stanley Kubricks The Killing und entwerfen später mit Elvis Presley unterlegte Gedankenspiele des Raubs im Stil von Ocean’s Eleven. Dass es wirklich zum Diebstahl kommt, scheinen sie selbst dann nicht zu glauben, als Warren nach Amsterdam reist, um einen Mittelsmann (Udo Kier) zwecks der Hehlerware zu treffen. Tonlich bewegt sich Layton dabei nah an Steven Soderbergh und Guy Ritchie, selbst dann, als die zuvor präsente Leichtigkeit im Zuge der Verwicklungen des Raubes verpufft. Auch wenn der Film nicht ganz so eindringlich fasziniert wie der Identitäten-Diebstahl in The Imposter.

Eine stärkere Verdichtung der Spielfilm- und Doku-Anteile bis zum Schluss respektive auch in der zweiten Hälfte hätte hier womöglich geholfen. Genauso wie eine größere Einbindung der Bibliothekarin (Ann Dowd), die für den Bereich mit Audobons Werk zuständig ist. Eventuell wollte Layton hier auch das Geschehen ununterbrochen für sich stehen lassen, um die Immersion des Publikums zu erhöhen, statt es rauszureißen. Die Darsteller machen ihre Sache derweil mehr als ordentlich, insbesondere eben Dowd sowie die zumeist im Vordergrund stehenden Keoghan und Peters. Insbesondere Letzterem gelingt es gut, den spitzbübischen Charme seiner realen Vorlage, die wir im Wechsel erleben, einzufangen und wiederzugeben.

Kurzweilig und überaus unterhaltsam überzeugt Laytons weiterentwickelter Inszenierungsstil dabei im Grunde mehr als die Geschichte um den Buch-Diebstahl selbst. Dass der Plan von Spencer und Warren zum Scheitern verurteilt ist, betont Layton eingangs direkt, wenn er ihre erschütterten Eltern über die Tat ihrer Söhne reflektieren lässt. Was aber nicht zwingend heißt, dass American Animals kein Happy End beschert ist. “There’s a version of the story I wanted to believe. And that I chose to believe”, urteilt Spencer über jene Geschichte, mit der Warren aus den Niederlanden zurückkehrt. Jeder der Vier zieht eine Lehre für sich. Und sei es nur die, dass man keine Pferde stehlen sollte, nur weil man Freunde hat, mit denen man dies könnte.

7.5/10