31. Dezember 2011

Filmjahresrückblick 2011: Die Top Ten

Never in the history of cinema has a medium entertained an audience.
It’s what you do with the medium.

(John Lasseter)

Und wieder mal ist ein (Film-)Jahr vorüber beziehungsweise liegt in seinen letzten Zügen. Nach halbjähriger Abstinenz soll traditionell ein Rückblick auf die vergangenen zwölf Monate den Abschlusspost bilden. Wer sich lediglich für die Bestenliste interessiert, kann zum Ende des Beitrages scrollen. Zwar wird von mir jedes Jahr gejammert, dass das Kino auf dem absteigenden Ast sei, doch auch wenn ein filmisches Highlight 2011 ausblieb, war das Jahr in der Breite relativ gut. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich dieses Jahr mit 150 Filmen so viel wie noch nie gesehen habe. Den Löwenanteil machten dabei die Heimkino-Sichtungen aus, die mit 92:58 gegenüber den Lichtspielhäusern die Nase klar vorn hatten.

Eine Verstärkung des Trends aus dem Filmjahr 2010 – und nicht die Einzige. Mit 58 Kinobesuchen war ich ein Mal öfter vor der großen Leinwand zu finden als im Vorjahr. Lediglich Black Swan und The Tree of Life lockten mich dabei zu Wiederholungssichtungen. Da zudem 35 dieser Kinobesuche auf Pressevorführungen zurückfallen (die mit einem Anteil von 60% gegenüber den 49% des Vorjahres erneut zunahmen), wurde die Sichtung des Großteils der Filme in die eigenen vier Wänden verschoben. Nicht zuletzt lag dies auch an der teils geringen Kopienzahl kleinerer Independent-Filme (speziell im süddeutschen Raum), sowie dem Wunsch, die primär fremdsprachigen Filme in ihrer Originaltonspur zu sehen.

Zu Letzterem bietet jährlich die Berlinale Gelegenheit, auf welcher ein Blogger-Kollege nach eigenem Empfinden viel Mist gesehen zu haben scheint. Nicht jedoch den dortigen Gewinnerfilm Jodaeiye Nader az Simin aus dem Iran, der durchaus überraschend auch bei den Usern der Internet Movie Database (IMDb) mit einer Wertung von 8.6/10 in diesem Jahr am besten wegkam (Stand: 30.12.2011). Auf den Plätzen 2 und 3 folgen dann Warrior und Hugo mit jeweils 8.3/10 – wobei Warrior drei Mal so viele Bewertungen erhalten hat wie Martin Scorseses Liebeserklärung ans Kino. Ein durchaus ungewöhnliches Triumvirat für die User der IMDb, die normalerweise eher Mainstream- und Blockbuster-Kino pushen.

Berechenbarer gab sich da schon das Einspielergebnis an den Kinokassen. Hatte der erste Teil der siebten Harry Potter-Adaption im Vorjahr noch aufgrund seiner Zweidimensionalität das Nachsehen in der Endjahresabrechnung, so setzte sich Harry Potter and the Deathly Hallows: Part II dank 3D-Konvertierung erwartungsgemäß als Jahressieger durch. Mit einem Einspiel von über 1,3 Milliarden Dollar avancierte der Potter-Abschluss zudem zum (vorerst) dritterfolgreichsten Film aller Zeiten (Inflationsunbereinigt) hinter Avatar und Titanic. Ebenfalls die Milliarden-Grenze überschreiten konnten die beiden 3D-Fortsetzungen Transformers: Dark of the Moon und Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides.

Das vierte Abenteuer von Jack Sparrow setzte sich dabei unter anderem in Russland, der Ukraine, Österreich, Griechenland und Südafrika als Favorit der Zuschauer durch, während die Südkoreaner und Chinesen dagegen eindeutig den Kampf außerirdischer Roboter bevorzugten. Japan wiederum folgte dem weltweiten Tenor, sich cineastisch von Harry Potter und Co. zu verabschieden. Ein ähnliches Bedürfnis teilten neben den Japanern zum Beispiel auch die Mexikaner, Finnen, Norweger, Portugiesen und selbstverständlich die Mitglieder des Commonwealth. Egal ob Großbritannien, Australien oder Neuseeland – hier erklomm Harry Potter ebenso den ersten Platz wie im Kinoland Nummer Eins: den USA.

Hatten sich 2010 noch Deutsche und Niederländer gemeinsam an Harry Potter ergötzt, so taten die deutschen Bürger dies 2011 nun allein. Mit durchschlagendem Erfolg strömten die Holländer stattdessen in Linda de Mols Gooische vrouwen – einem Kinoableger ihrer gleichnamigen Fernsehserie. Keine Chance hatte Harry Potter auch in Italien und Frankreich, wo die nationalen Komödien Che bella giornata und Intouchables gar doppelt so erfolgreich liefen. Nationale Komödien wollten auch die Türken (Eyyvah eyvah 2) und Polen (Listy do M.) lieber sehen, während man mit viel gutem Willen diesbezüglich auch den Erfolg von Rio in Brasilien erklären könnte. Und was war eigentlich mit Pixar in 2011?

Wohl nur John Lasseter weiß, wieso er dem im Pixar-Oeuvre wenig beliebten und erfolgreichen Cars mit Cars 2 eine Fortsetzunge bescherte. Zu danken wussten es ihm wenigstens die Menschen in Litauen und Argentinien, die den Animationsspaß zu ihrer Nummer Eins erklärten. Ohnehin tickten Südamerikaner was Kino und Animationsfilme anging etwas anders als der Rest der Welt, bedenkt man, dass in Uruguay, Peru und Kolumbien The Smurfs triumphierte. Ungewöhnliche Jahressieger produzierten aber auch andere Nationen. In Ghana und Nigeria ging dieses Jahr nichts über The Tourist, wohingegen die Spanier im Vampirfieber bevorzugt in The Twilight Saga: Breaking Dawn – Part I strömten.

Als Gewinner darf sich dieses Jahr auch Ryan Gosling fühlen, der den Sprung vom Charakterdarsteller zu einem der angesagten und sehr gefragten Newcomer geschafft hat. In vier Filmen (Blue Valentine, Crazy Stupid Love, The Ides of March, sowie der vielfach gesneakte 2012er Drive) konnte man ihn bewundern – es folgen im kommenden Jahr dann The Gangster Squad und All Good Things. Gewinnerinnen sind auch Natalie Portman und Jessica Chastain, die in gleich sieben Filmen dieses Jahr auftauchten. Chastain entwickelte sich vom unbekannten Gesicht zum everybody’s darling, während Portman nicht nur einen Oscar für ihre Leistung in Black Swan erhielt, sondern auch einen Sohn zur Welt brachte.

Besonders überzeugendes Schauspiel bot dieses Jahr auch Claire Danes in der HBO-Biographie (über) Temple Grandin, sowie in der Showtime-Serie Homeland. Nicht weniger stark zeigte sich Lesley Manville als einsame Alkoholikerin in Another Year, während Choi Min-sik in Akmareul boatda das tat, was er am besten kann: gestörte Mörder spielen. Als viel versprechendste Newcomerin tat sich Jennifer Lawrence in Winter’s Bone hervor und den gelungensten Animationsfilm fand man in Kari-gurashi no Arietti aus dem Hause Ghibli. Was das Fernsehen anbetrifft, ging in einem eher schwachen Jahr nichts über The Big Bang Theory und das gefälligste Videospiel wiederum gab Rocksteady’s Batman: Arkham City ab.

Was bleibt vom Filmjahr 2011 also hängen? Wie schon das Vorjahr taten sich die 3D-Filme hervor. Nur selten wie in Sanctum oder TRON: Legacy wurde direkt in 3D gedreht, ansonsten eher schlecht als recht wie in Thor konvertiert. Zudem war es erneut das Jahr der Fortsetzungen, mit Rio als einzigem Vertreter unter den zehn eintragreichsten Filmen, der nicht auf einem Vorgänger oder einer Reihe basierte. Daran wird sich auch 2012 mit Produktionen wie The Dark Knight Rises, The Amazing Spider-Man, Skyfall oder The Avengers nichts ändern. Aber um allmählich zum Punkt zu kommen, präsentiere ich nun meine zehn besten Filmen des Jahres 2011 (die Flop Ten sowie Runner-ups finden sich als erster Kommentar):


10. Le quattro volte (Michelangelo Frammartino, D/I/CH 2010): Stillschweigend überschreitet Frammartino die Grenzen zwischen Dokumentation und Spielfilm und folgt in seinem Werk der Seelenlehre des Mathematikers Pythagoras. Dabei liefert er faszinierende Bilder aus Kalabrien, die den Zuschauer mit ihrer anmutigen Poesie in den Bann ziehen. Am Ende steht ein imposantes Konstrukt, das in seiner dialogfreien Entstehung wie Produktion aufzeigt, wie sich Form und Materie verändern.

9. Kynodontas (Giorgos Lanthimos, GR 2009): Lanthimos ist ein ungemein faszinierender Film gelungen, getreu dem Marquis de Sade: „Jedes universale Moralprinzip ist ein vollkommenes Hirngespinst“. Es wird nicht wirklich viel gesprochen oder agiert in dieser Geschichte über Aufklärung und Selbstbestimmung, was jedoch keineswegs dazu führt, dass der Film an Aufmerksamkeit einbüßt. Das Resultat sind dabei zahlreiche absurd-komische Erziehungsmaßnahmen in dem lustigsten Film des Jahres.

8. Waste Land (Lucy Walker, BR/UK 2010): Über 7.000 Tonnen Müll produziert Rio de Janeiro jeden Tag, die auf der Mülldeponie Jardim Gramacho landen. Hier recyclen catadores (Müllsammler) den Abfall. Der brasilianische Künstler Vik Muniz involvierte einige von ihnen für eine seiner Installationen. Walkers Film lebt von seinen tollen Protagonisten wie Tião, Zumbi, Isis oder Valter und zeigt, wie man aus wertlosen Dingen wertvolle Kunst macht - und dabei das Leben von Menschen verändert.

7. Another Year (Mike Leigh, UK 2010): Leigh präsentiert eine absurd harmonische Ehe, was sich allerdings nur dadurch feststellen lässt, da sie stets mit der tristen Einsamkeit ihrer scheinst trostlosen Umgebung kontrastiert wird. “Life’s not always kind, is it?“, resümiert Lesley Manville, das Herz des Films, in einer Szene treffend. Ohnehin ist das exzellent gespielte Drama ein an Höhepunkten armes Charakterkino erster Güte, dessen eigentliche Stars seine deprimierend depressiven Verlierer sind.

6. Winter’s Bone (Debra Granik, USA 2010): Getreu einer buddhistischen Legende sehen, hören und sagen die Figuren in dieser Adaption von Daniel Woodrells Roman nichts Böses. In einer maskulin dominierten Welt voller Tristesse und Hoffnungslosigkeit obliegt es dem unbändigen Willen der jungen Ree, die Existenz ihrer Familie zu sichern. In dem hervorragend spielenden Ensemble sticht Lawrence heraus, in einem Mittelstaaten-Drama, das so packend und spannend gerät wie kein zweiter Film 2011.

5. La piel que habito (Pedro Almodóvar, E 2011): Der Mann aus La Mancha untermauert sein Können mit diesem grandiosen Horror-Thriller, in welchem er sich nicht zu schade ist, seinen Twist bereits im zweiten Akt zu präsentieren. Dass dieser nicht nur dennoch, sondern gerade deswegen funktioniert, zeichnet Almodóvars Talent aus. Fortan entwickelt sein Film eine Sogwirkung, die schlussendlich zu einem vorhersehbaren, konsequenten und trotz allem dadurch nicht minder packenden Ende führt.

4. The Tree of Life (Terrence Malick, USA 2011): Wie in all seinen Werken präsentiert Malick den ewigen Zwiespalt zwischen Natur und Gnade – hier mit besonders prägnanten metaphysischen Analogien. Audiovisuell so anmutig erhaben wie schlichtweg meisterlich, fetischisieren die Bilder die physikalische Natur zu einem Kaleidoskop von Filmgemälden. Bei all seinen tieferen Lesarten ist Malicks Film subsumiert dennoch ein Familiendrama als Zeitkolorit und dabei stark biographisch gefärbt.

3. Inside Job (Charles Ferguson, USA 2010): Die Wirtschaftskrise kostete 2008 Millionen Menschen ihr Vermögen, ihre Jobs und ihr Eigentum. In seinem Erklärstück schildert Ferguson, wie es dazu kommen konnte. Am Ende raucht einem zwar der Kopf vor lauter Deregulierungspolitik und predatory loans, aber Fergusons Film überzeugt durch sein ehrliches und strukturiertes Anliegen nebst humorvollen Auflockerungen. “Banking became a pissing contest” heißt es an einer Stelle so sarkastisch wie wahr.

2. The Tillman Story (Amir Bar-Lev, USA 2010): Einen so besonderen Menschen wie Pat Tillman kann man nicht mal backen, selbst wenn man wollte. Er war ein NFL-Spieler, der seinen Profivertrag aufgab, um für sein Land zu kämpfen – und dafür bezahlte er mit seinem Leben. Bar-Lev inszenierte einen schockierenden und bewegenden Film über eine starke Familie und zugleich ein entblößendes Dokument über den verlogenen Charakter der US-Regierung und die gefährliche Natur ihrer Soldaten.

1. Senna (Asif Kapadia, UK 2010): Die Geschichte des brasilianischen Ausnahmesportlers ist eine Geschichte voller legendärer Momente, von Kapadia chronologisch begleitet. Fabelhaft musikalisch untermalt, brilliert diese Dokumentation durch die unglaubliche Arbeit der Cutter, die ausschließlich aus Archivmaterial (!) ein dramaturgisch stringentes, vielschichtiges und atemberaubendes Stück Film konstruierten. Spannend. Emotional. Intensiv. Also nicht unähnlich der Karriere von Senna selbst.

15. Dezember 2011

Le quattro volte [Vier Leben]

„Du bist Erde und sollst zu Erde werden“
(1. Mose, 3,19)


Der Mensch ist ein Teil seiner Umwelt, darauf machte ihn bereits Gott aufmerksam, als er ihm beim Sündenfall erklärte: „Du bist Erde und sollst zu Erde werden“ (1. Mose, 3,19). Aus dem Ackerboden hatte Gott den Menschen erschaffen, zu Ackerboden würde er nach seinem Ableben wieder werden. Ein Kreislauf des Lebens, wie ihn auch Pythagoras sah. Dessen Lehre von der Seelenwanderung folgend inszenierte Michelangelo Frammartino seinen Film Le quattro volte, der dem Titel gemäß von vier Lebensbereichen berichtet: Mensch, Tier, Pflanze und Mineral. Zwischen heidnischen Traditionen und christlichem Glauben fasziniert das Leben dabei in all seinen Facetten.

Hierfür ging Frammartino ins italienische Kalabrien, Heimat von Hirten und Köhlern. Dort wird seit Jahrhunderten Holzkohle im langsamen Prozess in der gleichen Art und Weise von Hand hergestellt. Zu Beginn des Films zeigt die Kamera eine Lieferung von Holzkohle an die Dorfbevölkerung. Zum Schluss sehen wir, wie diese Holzkohle von den Köhlern produziert wird. Zuerst wird aus Holzstämmen ein Schacht gebaut, anschließend um diesen ein Holzwall errichtet. Bedeckt wird erst mit Stroh, dann mit Erde. Am Ende steht ein imposantes Konstrukt, das in Entstehung wie resultierender Produktion zeigt, wie sich Form und Materie verändern. Ein durchgängiges Motiv des Films.

In vier Episoden teilt sich Le quattro volte auf, nahtlos ineinanderfließend. Das zentrale Segment ist das erste, das den Alltag eines alten Ziegenhirten zeigt. Gebrechlich schleppt er sich über schmale Waldpfade, um abends hustend in einem kargen Zimmer zur nächtlichen Ruhe zu finden. Sein einziger sozialer Kontakt scheint die Putzkraft in der örtlichen Kirche zu sein, die ihm gegen eine Flasche Ziegenmilch etwas vom zusammengekehrten Staub des Kirchenbodens überlässt. Der Hirte trinkt das – verdünnt –, im Glauben es habe therapeutische Eigenschaften. Als er den Staub eines Tages vergisst, eilt er des Nachts zur Kirche und klopft verzweifelt an der Pforte.

Kontrastiert wird die Figur des alternden Hirten mit der Geburt eines Zickleins. Tod mündet wieder in Leben. Ähnlich wie der Hirte zuvor ist das Zicklein zwar Teil einer Gemeinschaft, aber dennoch ein Außenseiter. Gilt es in einer Szene, sich gegen die Artgenossen zu behaupten, folgt ihr danach eine dramatische Entwicklung. Beim ersten Ausgang mit der Herde fällt das Zicklein in einem Waldgraben zurück und avanciert aus biblischer Sicht somit zum verlorenen Schaf. So verzweifelt wie der Hirte zuvor an dem Kirchengemäuer geklopft hat, blökt das Zicklein um Hilfe. Zuflucht bietet ihm später erst eine große imposante Tanne des kalabrischen Gebirges.

Überhaupt fallen die Naturaufnahmen von Frammartino nicht minder beeindruckend aus als das narrative Gerüst seines Films. In ruhigen, langen Einstellungen porträtiert er Kalabrien, dabei immer wieder auch das Normannenkastell in der Provinz Vibo Valentia aus der Ferne einfangend. Wie aus einer anderen, bisweilen bereits verblichenen Zeit mutet die Szenerie oft an. Egal ob Vibo Valentia, das Städtchen Caulonia oder das Dorf Alessandria del Carretto – der rustikale Charme von Kalabrien findet sich in allen wieder. Nahezu meditativ geraten die dialogfreien Bilder von Kameramann Andrea Locatelli, die selten von Paolo Benvenutis Musik untermalt werden.

Jene Tanne, unter der das Zicklein dann Zuflucht gesucht hat, repräsentiert den vegetativen Bereich. Im Zuge der Festa della Pita, einer von den Langobarden stammenden heidnischen Tradition des Dorfes Alessandria del Carretto, wird die Tanne gefällt. Gemeinsam tragen die Bewohner den Baum, wieder Teil einer Gemeinschaft und doch allein, nachdem sie ihn entästet haben ins Dorf. Dort wird er aufgestellt und dient der Festprozedur. Hat die Tanne ihren Zweck erfüllt, wird sie zerkleinert und den Köhlern übergeben. Der Kreislauf schließt sich, wenn aus jener Tanne Holzkohle gewonnen wird, die den Bewohnern des Dorfes des Hirten zum Feuermachen dient.

Ein besonderes Augenmerk richtet Le quattro volte dabei auf Prozeduren und Traditionen. Sei es das jährliche Fest der Tannenbesteigung, der Glaube an die heilenden Kräfte des Kirchenstaubs oder ein Passionszug, der in einer Szene die Hütte des Hirten passiert und ein ungewöhnliches Ende findet, als der Hund des Hirten dazwischenfährt. Frammartino ist ein faszinierender Einblick in die kalabrische Kultur gelungen, mit harmonisch abgestimmten Bildern voll nachhaltiger Poesie. Was teilweise wie eine essayistische Dokumentation anmutet, ist vielmehr ein schweigsamer Spielfilm mit pythagoreischen Anklängen. Und einer der schönsten Filme des Jahres.

8/10

20. Oktober 2011

La piel que habito [Die Haut, in der ich wohne]

I breathe. I breathe. I breathe. I know I breathe.

Als „Ende einer Ära“ urteilte einst Antonio Banderas, als mit ¡Atame! die Zusammenarbeit mit seinem Gönner Pedro Almodóvar ihren vermeintlichen Schlussakt fand. Banderas macht sich auf gen Hollywood und pflegte dort 20 Jahre lang das Image des Latin Lovers. Almodóvar hingegen schickte sich an, zu Spaniens Aushängeschild und Europas letzten Melodramatiker zu werden. Nun, nach 21 Jahren, sind der Künstler und seine männliche Muse wieder vereint. Und es zeigt sich in La piel que habito – bei uns Die Haut, in der ich wohne –, dass Banderas nie besser ist, als unter Almodóvar. Und der Mann aus La Mancha untermauert, dass wenn das Kino immer trister wird und sich im Repetitionswahn verliert, Almodóvar seine Stärke(n) bewahrt.

Denn mit La piel que habito untermauert der Spanier, dass er Horror-Thrill auch ganz ohne Mystik und Humor zu schultern versteht. In einer abgelegenen Villa haust der Schönheitschirurg Robert Ledgard (Antonio Banderas). Ein abgeschlossenes Zimmer wiederum beheimatet seine Patientin Vera (Elena Anaya), die sich mal mehr oder weniger nackt in die Kameras räkelt, die Ledgard an den Wänden platziert hat. Als überraschend eine Person aus Ledgards Vergangenheit auftaucht, wird diese mitsamt den Traumata aller Protagonisten in Rückblenden aufgedröselt. Pedro Almodóvar ist sich in seinem jüngsten Film dabei nicht zu schade, den Twist aus Thierry Jonquets Romanvorlage Tarantula bereits im zweiten Akt zu präsentieren.

Dass La piel que habito nicht nur dennoch, sondern gerade deswegen funktioniert, zeichnet das Talent des spanischen Regisseurs aus. Viel mehr noch wird der Film nach einem etwas distanzierten, mysteriösen – aber deswegen nicht unspannenden – ersten Akt durch jenen Twist auf eine neues, nahezu herausragendes Niveau gehoben. Fortan verwebt der spanische Auteur verschiedene Handlungselemente anderer Filme, nie plakativ als bloßes show-off wie man es von Quentin Tarantino kennt, sondern stilvoll gekonnt und liebevoll. Wo Tarantino visuell schreiend zelebriert, nimmt sich der Mann aus La Mancha zurück. Einfach, weil er es kann. Weil es sein Film nicht bedarf, großes Aufhebens zu machen.

Hierbei diente Georges Franjus Les Yeux sans visage als Inspiration, aber es finden sich auch Anklänge zu früheren Werken von Almodóvar selbst. Von der Stimmung her ähnelt La piel que habito wohl am ehesten Matador, jener Liebesgeschichte soziopathischer Toreros, in der auch Banderas mitspielte.  Eine Mär von Mord, Liebe und Schmerz erzählte der Spanier ebenfalls in La ley del deseo, während die hier angedeutete Romanze zwischen Ledgard und Vera wiederum an Banderas’ Ricky und sein von Victoria Abril verkörpertes Entführungsopfer aus ¡Atame! erinnert. Über weite Strecken ist es Banderas, der den Film trägt, immer wieder gefüttert von kurzen, lasziv-eleganten Szenen mit Anaya oder dem nüchtern-starken Spiel von Marisa Paredes.

Zu dritt bilden sie ein kleines magisches Dreieck, in dem man Anaya nicht anmerkt, dass anstatt ihrer eigentlich Penélope Cruz spielen sollte und sie, eine Nebenrolle in Hable con ella ausgenommen, neu in Almodóvars Zirkel ist. Noch bemerkenswerter als das Spiel des Ensembles ist jedoch, wie sehr sich dieses der packenden Geschichte unterordnet. Und während der Twist in vielen anderen Filmen absurd wirken würde, führt er hier ab der Mitte zu einer bewundernden Faszination. Fortan betrachtet man die Handlung aus anderen, noch interessierteren Augen. Und La piel que habito entwickelt hieraus eine Sogwirkung, die schlussendlich zu einem vorhersehbaren, konsequenten und dennoch deswegen nicht minder packenden Ende führt.

Pedro Almodóvar ist einen weiten Weg gekommen, seit seinen trashigen, cineastischen Urschritten mit Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón oder Laberinto de pasiones. Zwar spielt er dieses Mal nicht so plakativ mit Kitsch, Humor und bunten Farben wie zuletzt, dafür reüssiert er in einem Genre, das an sich nicht seines ist. Womit Almodóvar untermauert, dass selbst wenn das Kino Jahr für Jahr an Qualität einbüßt, er, der Mann aus La Mancha, die Fahne der cineastischen Klasse weiter hochhält. Und Antonio Banderas... der sollte nicht wieder über zwei Jahrzehnte warten, ehe er sich von seinem alten Freund und Weggefährten Pedro zu Höchstleistungen treiben lässt. Möge deshalb La piel que habito der Anfang einer neuen Ära sein.

8.5/10

15. September 2011

Senna

You race or you do not.
(Ayrton Senna)


„Wie kann jemand so bewundert werden?“, fragt der brasilianische Sport-Kommentator Reginaldo Leme im Bonusmaterial zu Asif Kapadias Senna. Die Antwort versucht Kapadias Film über seine rund 100-minütige Laufzeit zu geben. Chronologisch begleitete der Regisseur Ayrton Sennas Jahrzehnt in der Formel 1, vom ersten Jahr bei Toleman bis zum tragischen Rennsonntag im italienischen Imola, der der Karriere des größten Rennfahrers aller Zeiten am 1. Mai 1994 ein jähes Ende setzen sollte. Sich lediglich Archivmaterial bedienend, montierten die Cutter Chris King und Gregers Sall dabei ein atemberaubende Stück Film zusammen. Spannend. Emotional. Intensiv. Also nicht unähnlich der Formel-1-Karriere von Ayrton Senna selbst.

Angefangen hatte alles mit der Kart-Fahrerei, die sich dadurch finanzieren ließ, da Ayrton Senna aus guten Verhältnissen stammte. Schließlich war die Kart-Bahn nicht mehr genug für Senna, der nach dem „reinen Fahr- und Rennerlebnis“ strebte. „Es nimmt Dimensionen an und wir sorgen uns ein wenig“, äußerte Vater Milton da Silva früh Bedenken. Doch Senna war nicht davon abzuhalten, wagte den Schritt nach Europa, erst in die Formel Ford, dann in die Formel 3, bis hin zur Formel 1. „Man sollte aber nicht glauben, er verdanke Geld den Aufstieg in die Formel 1“, versichert Richard Williams vom britischen The Guardian. Nur Talent und Ehrgeiz helfe einem dort weiter. Aber auch Sportpolitik, wie Senna fortan bis zu seinem Tod feststellen wird.

Aus den ersten Jahren sehen wir fortan nur das Nötigste. Beispielsweise wie Senna 1984 in seinem ersten Jahr im nicht konkurrenzfähigen Toleman drauf und dran war, in seinem sechsten Rennen den Grand Prix von Monaco zu gewinnen, ehe Alain Prost wegen einsetzendem Starkregen für einen Rennabbruch nach der Hälfte der Runden sorgt. Ein Jahr später wechselte er zu Lotus, für die er im zweiten Rennen seinen ersten Sieg einfuhr. „Er brachte den Wagen an seine Grenzen und darüber hinaus“, sagt John Bisignano von Sportsender ESPN. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis Senna erneut das Team wechseln würde: 1988 fuhr Senna für McLaren – und damit an der Seite von Alain Prost, seinem schärfsten Konkurrenten.

Die folgenden vier Jahre bilden das Herz von Senna. Wir erleben seinen ersten Weltmeistertitel 1988 und wie Senna zum Stolz seiner Nation wird. Anschließend folgt das große Drama: Sennas aberkannter Sieg beim entscheidenden Rennen 1989 in Suzuka, nach einer Kollision mit Prost. Gemeinsam mit dem damaligen diktatorischen FIA-Präsidenten Jean-Marie Balestre („Die beste Entscheidung ist meine Entscheidung“, sagt dieser an einer Stelle zweideutig), Landsmann und Freund von Prost, wird Senna für ein halbes Jahr gesperrt – für ein „Delikt“, das keines war und auch nie wieder in der Formel 1 eines wurde. Das Tischtuch zwischen Senna und Prost war endgültig zerschnitten, für die Medien ein gefundenes Fressen.

Wie aus einem Drehbuch folgt 1990 eine nahezu exakte Wiederholung des Dramas. Dieses Mal ist es Senna, der durch die Kollision mit Prost profitiert, ein Jahr später folgt der dritte Titel und, viel wichtiger, der erste Sieg beim Heim-Grand-Prix in Interlagos. Aufgrund technischer Schwierigkeiten musste der Brasilianer die letzten Runden des Rennens im 6. Gang zu Ende fahren, wurde von Krämpfen geschüttelt und gewann dennoch – nur um in der Siegesrunde vor Erschöpfung ohnmächtig zu werden. Unter Schmerzen kämpfte er sich aufs Podest, stemmt die Trophäe im zweiten Anlauf in die Höhe, während das brasilianische Publikum durchdrehte. „Sein heroischster Moment“, klingt Reginaldo Lemes aus dem Off, ohne dass wir es bezweifeln.

Senna hat den Höhepunkt erreicht und setzt sich verstärkt in seiner Heimat für Arme und Kinder ein, spendete einen Großteil seines Vermögens. Selbst sein erster schwerer Unfall 1991 ging da unter. Und wie das Schicksal so spielt, konnte es nur die Technik der Konkurrenz sein, die den talentiertesten Fahrer der Welt schlug. So gingen die Titel in den Jahren ’92 und ’93 an Frank Williams und dessen Fahrer Nigel Mansell und Alain Prost. Senna wusste, seine Zeit bei McLaren war abgelaufen. Das letzte Rennen der 1993er Saison gewann er – zugleich der letzte Sieg seines Lebens. Im Jahr darauf folgte sein Wechsel zu Williams, allerdings mit dem Wechsel auch eine neue Regulation, die die Überlegenheit des Wagens wieder ausglich.

Rückblickend betrachtet hat das Imola-Rennen etwas von einer klassischen Tragödie. Beim ersten Qualifying am 29. April 1994 überlebte Rubens Barrichello einen schweren Unfall weitestgehend unverletzt, beim Qualifying einen Tag später verstarb dann Roland Ratzenberger im Simtek. Senna, stets engagiert für die Sicherheit der Fahrer, war erschüttert. „Warum lässt du nicht alles liegen, und ich lass alles liegen, und wir gehen angeln?“, fragte ihn  Freund und Rennstrecken-Arzt Sid Watkins. „Ich kann hier nicht weg“, antwortete Senna. Laut seiner Schwester las er am Renntag in der Bibel eine Stelle, die seinen Tod vorwegnahm. Beim Rennstart gab es den nächsten Unfall zwischen JJ Lehto und Pedro Lamy – aber das Rennen ging weiter.

Möglicherweise hat es so sollen sein. Denn wie auch die Sportexperten konstatieren, hätte sich keiner vorstellen können, dass Ayrton Senna beispielsweise mit Mitte 50 an Krebs gestorben wäre. Der Tod auf der Strecke, der Tod im Rennen – letztlich hat es etwas Passendes, etwas Poetisches. Senna hatte keine gebrochenen Knochen durch seinen Unfall erlitten, nicht mal Schürfwunden. Durch einen technischen Fehler am Fahrzeug kam er ums Leben, erlitt beim Aufprall eine tödliche Kopfverletzung. Wie das Schicksal so spielt, konnte es nur die Technik sein, oder in diesem Fall ihr Versagen, dass der talentierteste Fahrer der Welt geschlagen wurde. Und mit dem großen Fahrer, ging auch der große Mensch.

Viele warfen Senna zu Lebzeiten seine Religiosität als Risikofaktor vor. „Weil ich an Gott glaube und Gott vertraue, heißt das nicht, dass ich unsterblich bin“, entkräftete Senna die Vorwürfe. Für ihn war sein Glaube wichtig, die Chance in der Formel 1 zu fahren, sah er auch von Gott gegeben an, sodass die Anekdote seiner Schwester ob des prophetischen Bibelzitats gut ins Bild passt. Obschon Kapadia Kritik an Senna nicht ausspart, hier von Prost, Balestre und Jackie Stewart geäußert, fällt sie doch moderat aus. Was angesichts der Darstellungsform Porträts nichts Verwerfliches ist. Dennoch hätte die ein oder andere kritische Stimme mehr dem Film ebenso gut getan, wie vielleicht noch eine kurze Beleuchtung der Person Nelson Piquets.

Man erfährt nichts über Sennas Beziehung zu anderen Fahrern (selbst seine Freundschaft zu Gerhard Berger wird ausgespart), außer eben die Konkurrenz zu Prost. Interessant wäre eine Einordnung von Piquets Bedeutung für seine brasilianischen Landsleute gewesen. Schließlich war er ebenfalls dreimaliger Weltmeister in der Formel 1, zuletzt 1987 – dem Jahr vor Sennas ersten Titel. Solche Aspekte hätten diesen herausragenden Dokumentarfilm vollends abgerundet, aber auch so überwiegen dessen Stärken. Der Verdienst der beiden Cutter King und Sall ist kaum in Worte zu fassen, wird doch ausschließlich mittels Archivaufnahmen ein dramaturgisch stringentes, vielschichtiges und intensives Handlungsgerüst konstruiert.

Nicht weniger Lob verdient sich Antonio Pintos Musik, gerade das subtil melancholische Theme des Films ist berührend schön, wie auch sonst die Musik exzellent die Bilder und damit den Charakter Sennas untermalt. Und wenn schlussendlich die Perspektive in die Bordkamera von Sennas Auto wechselt, während der die letzte Runde seines Lebens fährt, steigt die Anspannung trotz Vorkenntnis der Ereignisse, da dies die letzten Sekunden im Leben einer Rennsportlegende sind. So verkommt Senna zur verdienten Heroengeschichte, deren Schluss jeden Sportfan bewegt. Wie John Bisignano in den Extras zum Film sagt: „Ayrton Senna wird immer schnell sein. Er wird nie alt werden. Er wird immer der Champion Brasiliens und der Welt sein.“

9/10

16. August 2011

Another Year

My looks work against me.

Das perfekte Liebesglück ist eine schwer zu findende Sache. Ganz besonders, wenn es über Jahrzehnte hinweg ins hohe Alter bewahrt wurde. Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen) sind ein solches perfektes Paar. Glücklich in einem Londoner Vorort lebend, erfreuen sie sich an der Arbeit in ihrem Schrebergarten und an den gelegentlichen Besuchen ihres wohlerzogenen Sohnes Joe (Oliver Maltman). Es ist eine absurd harmonische Familie, was sich gerade dadurch feststellen lässt, dass sie über weniger harmonisch lebende Freunde verfügt. Allen voran Mary (Lesley Manville), die ihre Einsamkeit in Alkohol ertränkt und in den vier Wänden von Arbeitskollegin Gerri ein zweites Zuhause gefunden zu haben scheint.

“It’s really lovely the way Tom and you do everything together”, erkennt Mary zu Beginn neidisch an. “You’re both such lovely people.” Gerade in Gegenwart der beiden Freunde schwappt Marys Sehnsucht über, die peinlichen Avancen gegenüber dem fast halb so alten Joe dürfen als Versuche gelten, am Glück dieser Familie teilzuhaben. Regisseur Mike Leigh sieht sie in Another Year als Opfer von zugetragenen Vorstellungen. Jung und sexy sind Eigenschaften, die Mary nicht mehr erfüllt. Und so wie Joe ihre Avancen ausschlägt, lässt Mary wiederum den übergewichtigen Ken (Peter Wight), einen weiteren einsamen Freund der Familie, auflaufen. Der ertränkt seinen Kummer ebenso in Alkohol und Zigaretten wie Mary selbst.

In Another Year wimmelt es von derart unglücklichen Figuren, zu denen auch Imelda Staunton am Anfang zählt. Als müde Ehefrau und Mutter sehnt sie sich nach Tabletten für ihre Schlaflosigkeit und ordnet ihr Wohlbefinden auf einer Zehnerskala lediglich bei Eins ein. Ein anderer Freund von Tom und Gerri hadert unterdessen mit der Krankheit seiner Frau, während Toms Bruder Ronnie (David Bradley) die Seinige im Verlauf des Films verstirbt. Der Leichenschmaus entwickelt sich zur ultimativen Kontrastdarstellung. Wo das Haus von Tom und Gerri voller Glück, Wärme und Leben ist, in das Sohn Joe und Freunde gerne einkehren, ist Ronnies Haus kalt und karg, die Beziehung zu seinem einzigen Sohn Carl (Martin Savage) eklatant gestört.

Stets kontrastiert Mike Leigh die perfekte Ehe mit der tristen Einsamkeit ihrer Umgebung. “Life’s not always kind, is it?”, resümiert Mary in einer Szene etwas betrübt. Letztlich verlangt es sie nur nach jemandem, mit dem sie reden kann. Ein Wunsch, dem besonders Gerri in der ersten Hälfte des Films noch bereitwillig Folge leistet. Mary ist eine bemitleidenswerte Figur, und das nicht nur im negativen Sinne. Ihr tragisches Leben berührt, wenngleich ihr bisweilen peinliches Benehmen zugleich dazu führt, dass sich selbst der Zuschauer für sie geniert. Höhepunkt ist ein überraschender Besuch von Joe und seiner neuen Freundin (Karina Fernandez), deren Anwesenheit die Eifersucht Marys auf ihre Umgebung eskalieren lässt.

Eingebettet wird der Film in vier Jahreszeiten, die kommen und gehen und somit das Titelgebende weitere Jahr (engl. another year) bilden. Mike Leigh folgt hierbei keiner konkreten Geschichte, die Handlung setzt scheinbar in einem beliebigen Jahr im Leben der Hauptpersonen ein. Sein Film lebt anschließend auch weniger von der weitestgehend ruhigen Handlung, sondern von den überzeugenden Figuren. Wo manche Charaktere aus Hollywood nie über den Status eindimensionaler Karikaturen hinauskommen, wirken Leighs Geschöpfe wie authentische Menschen, die leben, atmen und fühlen. Was man über sie wissen muss, erfährt das Publikum meist in einer einzigen Einstellung. Eine Seltenheit in der heutigen Kinolandschaft.

Tom und Gerri sind hierbei lediglich das Kontrastmittel – das Idealbild des perfekten Lebensglücks, nach dem die Marys, Kens, Ronnies und Carls wie nach Platons Idee nur streben können. In ihrem Schmerz liegt die Stärke des Films, sei es David Bradleys ausdrucksloses Gesicht oder Peter Wights bemühte und doch zum Scheitern verurteilte romantische Avancen. Eigentlicher Star ist jedoch Lesley Manville, der es gelingt, eine Person zu verkörpern, der man zwar einerseits helfen will, die man andererseits aber wohl nicht in der eigenen Küche haben wollte. Leigh inszeniert hier mit Another Year wahres und buchstäbliches Charakterkino, dessen Geschichte letztlich da endet, wo sie begonnen hat: in einem Jahr von vielen.

8/10

The Tillman Story

I’m Pat-fucking-Tillman.

Kriegshelden finden immer dann nützliche Verwendung, wenn es mit der Moral daheim nicht so gut bestellt ist. Und wer kein Kriegsheld ist, wird eben zu einem gemacht. Wie im Fall von Pat Tillman Jr., dem Poster-Boy der US-Armee, der seine NFL-Karriere fürs Vaterland aufgab und dies mit dem Leben bezahlte. Amir Bar-Lev arbeitete die Hintergründe der Geschehnisse auf – und welche Rolle die US-Regierung bei Tillmans Tod spielte. Einen Menschen wie es Pat Tillman Jr.  war, könnte man nicht backen, selbst wenn man wollte. Ein stählerner Kerl von 1,80 Meter, strammer Oberkörper, tough, risikofreudig. Ein Outdoor-Typ, gutaussehend, sympathisch, freundlich, intelligent und fürsorglich. Pat lernte seine Frau Mary im Alter von vier Jahren kennen, seit der Schule waren sie ein Paar, heirateten mit 25.

Für seine jüngeren Brüder war Pat ein Idol, jemand, zu dem sie aufblicken konnten. Für das Football-Team der Arizona Cardinals ein unverzichtbarer Defensivspieler, der besser dotierte Angebote von Konkurrenten ausschlug. Kurzum: Pat Tillman war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Das wurde den Amerikanern spätestens bewusst, als der NFL-Spieler nach den Attentaten des 11. September 2001 einen Vertrag über 3,6 Millionen Dollar ablehnte und sich stattdessen mit Bruder Kevin im Juni 2002 zur Armee meldete. Er war „eine Person der Öffentlichkeit, die sich nicht scheute, offen ihre Meinung zu sagen“, verrät uns Schauspieler Josh Brolin, der in The Tillman Story den Erzähler gibt. Aber warum er entschloss, in den Krieg zu ziehen, bleibt ein Geheimnis. Wie auch fast der Umstand seines Todes.

Am 22. April 2004 starb Pat Tillman während eines neuerlichen Einsatzes in Afghanistan. „Zerfetzt in einem Sturm von Hunderten Kugeln“, berichtete Uwe Schmitt ein halbes Jahr später für Die Welt. Seine Rangers-Einheit sei angegriffen worden, hieß es, und Tillman wäre so tapfer gewesen, dass Amerika seinem berühmtesten Soldaten anschließend nicht nur das Purple Heart verlieh, sondern sogar den Silver Star, die dritthöchste Auszeichnung, die ein Soldat erhalten kann. Dass es Tillmans Kameraden waren, die ihn erschossen, kam erst fünf Wochen später heraus. Der Ex-Soldat Stan Goff, mit langjähriger Erfahrung (u.a. in Nicaragua), beschreibt die Stimmung unter den jungen Soldaten der US-Armee als “locker room atmosphere”. 19-Jährige wollen nicht nachdenken, sie wollen ihre Grenzen ausreizen.

Und selbst als die Army Rangers wussten, dass sie es mit ihren eigenen Leuten zu tun hatten, beendeten sie nicht ihr Feuer auf ebendiese. „Ich war aufgeregt“, begründete einer von ihnen, ein anderer gab zu Protokoll: „Ich wollte einfach weiter im Gefecht bleiben.“ Dass ihnen einer ihrer Kameraden zurief, er sei “Pat-fucking-Tillman”, störte sie dabei nicht weiter. Für die Bush-Regierung war ein toter Tillman genauso gut wie ein lebendiger – wenn nicht gar besser. Sein Tod müsste nur richtig instrumentalisiert werden. Für Vaterland und Ehre sei der Football-Star gestorben. Für die Freiheit des amerikanischen Volkes. Tillman wurde in der Folge von der Armee zum Kriegs-, von den Medien und der Nation zum Volksheld deklariert. „Jeder wollte ein Stück von ihm haben“, erinnert sich sein jüngster Bruder Richard.

„Würden die irgendwas über meinen Sohn wissen, hätten sie nicht getan, was sie getan haben“, klagt Tillmans Mutter. Ein Einzelfall war dies jedoch nicht. Bereits ein Jahr vor Tillmans Tod hatte die Armee eine Rettungsmission für Private First Class Jessica Lynch organisiert, die von irakischen Truppen entführt worden war. Die Rettungsmission wurde jedoch so lange hinausgezögert, bis eine Kamera vor Ort war, die das Ganze für die heimische Bevölkerung aufzeichnen konnte. „Es musste zu einer Moralität werden“, urteilt Ex-Soldat Stan Goff. Nur widerstrebend gestand die Regierung die Vertuschung von Tillmans Tod durch den Eigenbeschuss ein, jahrelang versuchte unterdessen Tillmans Familie vergeblich, die wahren Schuldigen in Regierungskreisen zur Verantwortung zu ziehen.

Amir Bar-Lev arbeitet die Geschehnisse um Tillman chronologisch auf und bewahrt so die natürliche Dramaturgie der Geschichte. Immer mehr Details der Vorfälle kommen ans Tageslicht, Archivmaterial wechselt zu Talking Heads der Familie und Kameraden, während das heroische Bild von Tillman immer gewaltiger wird. Er selbst war Agnostiker, aber religiösen Menschen gegenüber aufgeschlossen und plante, 2004 den Demokraten John Kerry zu wählen, nachdem er während eines Einsatzes im Irak den dortigen Krieg als illegal bezeichnet hatte. Wie ein medizinischer Bericht festhielt, wurde Tillman angeblich drei Mal aus nächster Nähe in den Kopf getroffen. Seine Familie berichtet, dass er sich bei seinem nächsten Heimaturlaub mit dem erklärten Kriegsgegner und Philosophen Noam Chomsky treffen wollte.

Zum Glück spart sich The Tillman Story Verschwörungstheorien, die auf einen vorsätzlichen Mord am Poster-Boy schließen, um dessen kritische Stimme zum Schweigen zu bringen. Auch wenn sich Bar-Lev am Ende nicht ganz eines klassischen Verschwörungsdiagramms (bis zum erwarteten Kingpin) verwehren kann. Ansonsten ist The Tillman Story ein packender, spannender, teils schockierender und zugleich bewegender Film über eine starke Familie geworden, die nur die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes erfahren wollte und damit schon zu viel von ihrer Regierung verlangte. Zugleich gelang Bar-Lev ein entblößendes Dokument über den verlogenen Charakter dieser Regierung und die gefährliche Natur vieler US-Soldaten, die für sie im Nahen Osten kämpfen. Klar ist: Pat Tillman war ein Kriegsheld. Nur fiel er nicht den Taliban zum Opfer, sondern seiner Regierung.

9/10

29. Juli 2011

Captain America

A weak man knows the value of strength.

An und für sich bietet Marvels Superheld Captain America genug Reibungsfläche. Sei es sein (sich schon im Namen widerspiegelnder) überbordender Patriotismus oder seine Entstehungsgeschichte. Im Kampf gegen die faschistischen Nazis wird von Seiten der USA ein blond-blauäugiger Supermensch ins Gefecht geschickt. Alle körperlichen Benachteiligungen wie Schweratmigkeit werden weg-eugenisiert und der All American Hero Steve Rogers somit zum Wunschbild des Herrenmenschen wie ihn wohl auch der nationalsozialistische Gegner gerne gehabt hätte. Um das Ganze etwas zu entkräften, versucht Joe Johnston in seinem Film den Fokus weg vom „Für Amerika!“-Charakter zu lotsen und seinen Steve Rogers (Chris Evans) als netten und aufrechten Knirps von Nebenan zu inszenieren.

„Wollen Sie Nazis töten?“, wird Rogers vor dem Experiment gefragt. Dieser verneint und weist darauf hin, ihm gehe es darum, Tyrannen zu stoppen. Dementsprechend erklärt sich auch, warum ein Film über Captain America ein so genanntes period piece sein muss. Denn das Bild der USA als Weltpolizei ist nach Vietnam, Nicaragua, Irak und Co. inzwischen so beschädigt, dass ein Captain America des 21. Jahrhunderts es wohl zuvorderst auch mit den USA selbst aufnehmen müsste. Stattdessen sind seine Gegner Rüpel, Raufbolde und Unterdrücker. Töten will er sie nicht, erklärt er zu Beginn. Später muss dennoch ein Gegner nach dem anderen dran glauben. Aber schließlich lautet die Reihenfolge von Captain Americas Maxime zu diesem Zeitpunkt bereits: Töten oder gefangen nehmen.

Es ist also ziemlich offensichtlich, dass sich Thor und Captain America aus ideologischer Sicht weit weniger ideal auf die Leinwand transferieren lassen, wie ihre etwas simpleren und zeitgenössischeren Kollegen Iron Man und Hulk. Vielleicht erklärt sich dadurch die spätere Auswertung für den im kommenden Jahr startenden The Avengers. Und möglicherweise auch, weshalb beide Filme sich versuchen sowohl selbstironisch als auch nüchtern mainstreamig zu geben. Beiden Marvel-Helden gelingt dies nur bedingt. Wo Thor sich mitunter campig-trashig anbiederte, wurde er von seiner zweigleisigen Handlung korrumpiert. Captain America vermeidet letzteren Fehler, indem er einer klar strukturierten Geschichte folgt. Allerdings gerät er dabei speziell in seiner zweiten Hälfte sehr viel bierernster als ihm gut tut.

So zeigt sich Steve Rogers zu Beginn als sympathisch ideologischer Hänfling, den es 1941 hinüber nach Europa zieht, um sich in einen Krieg zu stürzen, dem viele lieber entflohen wären. Wider Erwarten setzt er sich dabei durch, erhält mit Stanley Tuccis deutschem Klischee-Wissenschaftler eine Vaterfigur, die es später ganz dem Klischee entsprechend wieder zu verlieren gilt. Die Palette – Tommy Lee Jones gibt einen mürrischen Colonel und Haley Atwell ein pseudo-emanzipiertes, barbusiges love interest – der klassischen Filmfiguren funktioniert dabei nur deshalb, weil die Schauspieler sie mit ausreichend Leben füllen. Allen voran Hugo Weaving untermauert als Strickmuster-Nazi sein darstellerisches Händchen für Bösewichter und gefällt mit deutschem Akzent ebenso wie die Kollegen Toby Jones und Tucci.

Trotz seines Charakters als Actionfilm sind es die zwischenmenschlichen Momente, in denen Captain America reüssiert. Sei es ein abendlicher Dialog von Tucci und Evans oder eine kurze Propaganda-Montage als pointierter Seitenhieb auf die Ursprünge der Comic-Figur. Nur wenn sich Captain America im Star-Spangled-Banner-Outfit ins Gefecht stürzt und sein Frisbee-Bumerang-Schild auf Gegner wirft, beginnt sich der Film in die Länge zu ziehen. Das liegt daran, dass Steve Rogers  interessanter ist als sein Alter Ego. Aber auch der Versuch, Charaktere aus dem Comic – wie Dum Dum Dugan (Neal McDonough) – zu integrieren, will nicht überzeugen. Man wünscht sich stattdessen einen stärkeren Fokus auf Weavings diabolischen Red Skull, der in der zweiten Hälfte des Films abwesend an Profil verliert.

Grundsätzlich macht Johnston aber viel richtig. Die Effekte sind solide, verlieren sich im großen Kriegsspektakel ein wenig, überzeugen dagegen bei einem digital verkümmerten Chris Evans. Dieser bleibt ebenso in Erinnerung wie Weavings gelungene Maske als Red Skull. Was sich vom erneut überflüssigen, da kaum räumlichen 3D-Effekt nicht sagen lässt. Auch bei der Besetzung wurde wenig falsch gemacht, obschon man gerade Tommy Lee Jones seine Unterforderung am Gesicht ablesen kann. Ein Schmunzeln ringen einem zudem Filmzitate zu Men in Black oder The Return of the Jedi ab, wie auch der obligatorische Stan-Lee-Cameo (der die Figur nicht erfand, sie aber in die Avengers integrierte). Nun bleibt abzuwarten, ob sich das Warten auf The Avengers über fünf Filme hinweg im kommenden Jahr lohnen wird.

6/10

12. Juni 2011

Hanna

I just missed your heart.

Bei all den Stärken, die man Christopher Nolans Inception zu Gute halten kann (er ist, man kann es drehen und wenden wie man will, ein solider Action-Film), funktioniert er wohl nur so richtig, wenn man seine offensichtlichen narrativen Schwächen auszublenden versteht. Wenn das, was man erzählt bekommt, nicht nur keinen Sinn macht, sondern sogar unsinnig ist, muss der style die substance (beziehungsweise deren Logiklöcher) aufwiegen. Ähnlich verhält sich dies auch in Joe Wrights jüngster Auftragsarbeit Hanna, die wohl (bisher) am ehesten der Inception des Filmjahres 2011 ist. Wenn man möchte, ein solider Action-Film (mit stark europäischem Einschlag), der jedoch nur so richtig funktioniert, wenn man seine ganzen narrativen Schwächen auszublenden versteht.

Es lebt also Hanna (Saoirse Ronan) als gentechnisch veränderter Teenie in den verschneiten Wäldern Finnlands, wo man Elche noch selber erlegt. Wenn Hanna einen solchen anschießt, ihn auf einen zugefrorenen See jagt, um ihm dort zu verkünden, dass sie sein Herz verfehlt habe, mutet das weniger wie eine entschuldigende Botschaft denn wie ein sadistischer Hinweis einer Person an, deren Physis zu Gunsten von Empathie verbessert wurde. Aus Gründen, die keiner kennt, wird die friedliche Abgeschiedenheit (die ohnehin selbst gewählt, statt aufgezwungen ist) von der Protagonistin unterbrochen. Gegen den Rat des Vaters (Eric Bana) sucht Hanna den Kontakt zu jener US-Geheimdienstagentin (Cate Blanchett), die für den Mord an ihrer Mutter verantwortlich ist.

Die Agentin Marissa Wiegler reagiert mehr genervt als erfreut, der Vorfall scheint vergessen, die folgende Hatz (für die in grotesker Weise ein blondierter Tom Hollander als Reeperbahn-Kingpin und seine Bande Martial Arts Neo-Nazis engagiert werden) eher das letzte Kapitel eines Buches, das man nie zu Ende gelesen und ganz hinten im Regal einsortiert hatte. Aus Gründen, die keiner kennt, trennen sich Hanna und ihr Vater, um sich aus Gründen, die keiner kennt, in Berlin wieder zu treffen. Über unterschiedliche Wege prügeln und morden sie sich durch Europa, Hanna dabei, zur humoristischen Auflockerung des Publikums, Banden mit einer britischen Familie knüpfend, die irgendwo zwischen narzisstischer Posh-Gegenwart und Alt-68er-Gebarden hängen geblieben zu sein scheint.

Wer nun bereit ist, „die Plausibilität der Ereignisse immer wieder der suggestiven Wirkung des Gezeigten“ unterzuordnen (David Kleingers auf SpOn) wird sicherlich zufriedengestellt und mit „Kunst“ oder „Ultrakunst“ (abhängig vom Rezipienten) belohnt. Ob in diesem Fall der style die fehlende substance rechtfertigt, ist dem Zuschauer selbst überlassen. Wenn sich Saoirse Ronan als Minderjährige durch Europa kloppt, zu Elektro-Gedudel der Chemical Brothers aus den Boxen, gewürzt mit schicken Schnitten und ungewöhnlichen Set-Locations, dann lässt sich das sicherlich als Mainstream-Arthouse deklarieren. Ob jede Form von Arthouse gleich „art“, sprich: Kunst, darstellt, ist eine andere Frage (die im Netz allerdings fast durchgehend mit „ja“ beantwortet wird).

Das lose Handlungsgerüst trägt Hanna jedenfalls nur in den seltensten Fällen und wird auch nicht von ihrem prätentiösen Märchenkonstrukt - in dem sich Cate Blanchett als rothaarige Hexe mit grausigem Deutsch und einem Zahnhygienefetisch inklusive einer klischeehaften „evil Germans“-Entourage anbiedert - entschuldigt. Vielmehr sind die meisten Szenen ungemein anstrengend, am meisten die Marokko-Sequenz mit der absurd-liberalen britischen Familie (Jason Flemyng, Olivia Williams), die damit kokettiert, Coming-of-Age-Elemente zu integrieren, obschon diese albinohafte, asoziale Protagonistin ebenso wenig als Identifikationsfigur funktionieren will, wie die gesamte Vortäuschung einer Geschichte, die den Antrieb für Wrights erste (und hoffentlich letzte) Auftragsarbeit darstellt.

Dabei sind die Bilder teils durchaus gefällig, speziell die Kalter-Kriegs-Optik im grau-biederen Berlin, wie auch der Soundtrack der Chemical Brothers eine willkommene Alternative ist, um dem desinteressierenden Sog der Handlung zu entkommen. Insofern ist das Audio-Visuelle in der Tat die einzig nennenswerte Stärke eines Films, der sich am Ende in seiner vermeintlichen inhaltlich-visuellen Klammer ein letztes Mal ad absurdum führt. Vielleicht ist die Moral dieser Geschichte, dass ein Märchen keine Geschichte haben muss, solange es gefällig (hier: audio-visuell) tradiert wird. Wenn dies jedoch nicht ausreicht, um die Schwächen zu überdecken, hilft auch alles style over substance nichts. Eventuell gilt im Fall von Hanna aber auch einfach: it just missed my heart.

2.5/10

Source Code

Tell me everything is gonna be okay.

Duncan Jones’ jüngstes Werk, Source Code, zählt sicherlich zu jenen Filmen, die am besten funktionieren, je weniger man über sie weiß (was unsere heutige Medienlandschaft zusehends erschwert). Mit (zu Recht) viel Vorschußlorbeeren ging Jones aus seinem Debütfilm Moon nach Hollywood, nur um sein Folgeprojekt - die Blade Runner-Hommage Mute - erstmal auf Eis wandern zu sehen. Stattdessen nahm er sich der Auftragsarbeit Source Code an, die sich über weite Strecken auch als solche anfühlt. Wie bei seinem Vorgänger ist dies zu einem Großteil munteres Zitier-Kino, dabei weniger Groundhog Day als ein unüberlegtes Mischmasch von Genrekollegen wie Twelve Monkeys und Retroactive.

Dementsprechend bietet es sich an, sein Publikum gemeinsam mit seinen Protagonisten direkt in die Handlung zu werfen. Wenn sich Army-Captain Colter Stevens (Jake Gyllenhaal) plötzlich in einem Personengüterzug Richtung Chicago befindet, ihm gegenüber die ihm fremde Lehrerin Christina (Michelle Monaghan) und im Spiegel das Konterfei eines anderen Mannes, offenbart sich ein gewisses mindfuck-Element. Die kurze Orientierungslosigkeit wird abgelöst von einer Explosion und dem Erwachen in einer zweiten, immer noch fremden Umgebung. Als Agent eines Regierungsprojektes arbeitet Stevens innerhalb des Source Codes, einer Erfindung des mysteriösen Doktors Rutledge (Jeffrey Wright).

Der Source Code ist dabei eine Erfindung, die den Déjà Vu-Fehler macht, sich selbst erklären zu wollen, anstatt ein reines Fluxkompensator-Gimmick zu sein. So kann Rutlegde scheinbar die Gedankenströme einer Person an den letzten acht Minuten eines Verstorbenen teilhaben lassen, was allerdings keine Zeitreise sei, sondern nur eine zeitliche Umstrukturierung. Stevens kann also, einem Avatar gleich, durch die letzten acht Minuten eines Mannes von ähnlicher Statur wandeln und soll nun einen Terrorakt auflösen, der sich am Vormittag ereignet hat. Ziel und Zweck: Den Täter des Bombenanschlags zu identifizieren, da dieser plant, im Laufe des Tages eine zweite Bombe in Chicago hochzujagen.

Indem Jones sein SF-Element zu erklären versucht, raubt er sich und Source Code selbst seiner Stärke, geht doch ein Großteil des ersten Aktes dadurch verloren, dass Vera Farmigas Colleen Goodwin dem perplexen Stevens (und zugleich dem Publikum) die Mechanismen von Rutledges Apparatur nahe bringt. So kommt es, dass dessen „Zeitreisen“ nach den ersten zwei-, dreimal als Kurzmontage verkauft werden, anstatt sich als Actionreiche Variante von Groundhog Day zu versuchen, die ihren Spaß aus den verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten ein und derselben Situation generiert. Wo der Film in die Tiefe gehen sollte, bleibt er folglich an der Oberfläche - und zeigt selbst für diese wenig Interesse.

Was in der ersten Hälfte noch halbwegs spaßig und spannend gerät, strengt nach einer Dreiviertelstunde vermehrt an. Alles muss eine Spur komplexer werden - nur eben nicht auf der Zeitebene des Zugattentats, wo die Aufmerksamkeit eigentlich hingehört. Immer wieder driftet die Handlung ab, zu Stevens Vergangenheit und pathetischem Militärgeplänkel zwischen ihm und Goodwin. Was dem Film auf Dauer Züge eines generell unterhaltsamen Videospiellevels verleiht, dessen nervige Zwischenszenen man nicht wegklicken kann und dessen Prämisse (Bombenattentäter finden ehe Zug explodiert) von einer so unnötigen wie unplausiblen Romanze zwischen Gyllenhaals und Monaghans Figuren torpediert wird.

Die Schlitterfahrt von Source Code endet schließlich in einem missratenen (und, ob der moralinsauren Figuren, fragwürdigen) Ende, den Hollywood-Konventionen folgend, denen sich Jones auch in seinem zweiten Spielfilm noch nicht versagen konnte. So macht der Film in seiner Summe viel zu wenig aus seinen grundsätzlich vorhandenen Möglichkeiten, die er speziell in seiner ersten Hälfte noch (bisweilen erfolgreich) austestet, um sie anschließend entweder zu ignorieren oder bei Seite zu legen. Angesichts seines Ersatzwerkcharakters für den ausgefallenen Mute lässt sich das in Jones’ Œuvre noch tolerieren, dennoch wünscht man sich selbst jemanden, der einem in dieser Situation zuflüstert: everything’s gonna be okay.

5.5/10

8. Juni 2011

Akmareul boatda

Die großen Rächer sieht man nur in Kinofilmen.

Asiaten sind kleine Menschen, heißt es immer. Vielleicht ein Grund, warum sie gerne Filme als Form der Mimikry nutzen. Zumindest präsentieren sie sich in diesen oft als Rächer oder Soziopathen. Besonders vor Südkorea muss einem Angst und Bange werden, betrachtet man Park Chan-wooks Beiträge wie die Rache-Trilogie oder Bakjwi. Aber auch Kim Ji-woons Akmareul boatda, im Westen als I Saw the Devil vertrieben, leistet der südkoreanischen Tourismusbranche nicht gerade große Dienste. Schließlich geben sich hier Vergewaltiger, Serienmörder und Kannibalen auf den Landstraßen die Klinke in die Hand. Schön schräg also, zugleich nicht zimperlich und letztlich durchaus innovativ und unterhaltend.

Auf einer dieser Landstraßen wird zu Beginn des Films Joo-yun (Oh San-ha) Opfer des soziopathischen Frauenmörders Kyung-chul (Choi Min-sik) als sie auf einen Abschleppdienst wartet. Als man ihren Kopf anschließend aus einem Fluss fischt, macht sich Joo-yuns Verlobter, der Geheimdienstagent Soo-hyun (Lee Byung-hun), auf die Suche nach dem Täter. Einige Verdächtige später ertappt er Kyung-chul dann auf frischer Tat, lässt ihn jedoch nach ihrer gewaltsamen Auseinandersetzung nicht nur am Leben, sondern stattet ihn sogar mit Geld aus. Kyung-chul selbst glaubt, per Zufall selbst Opfer eines Soziopathen geworden zu sein, stellt jedoch alsbald fest, dass Soo-hyung ganz andere Pläne für sie beide hat.

Mit viel Vorschusslorbeeren ausgestattet, wird Akmareul boatda seinem guten Ruf weitestgehend gerecht. Einerseits präsentiert Kim einen straighten und keineswegs unblutigen Selbstjustiz-Thriller, andererseits ist sein Film auch durchzogen von schwarzem Humor. Diesen vorweg zu nehmen, würde das Vergnügen trüben, aber mit der oben beschriebenen Ansammlung von Psychopathen und Gestörten - inwieweit Soon-hyun mit der Zeit durch seinen Wahn selbst dazugehört, steht zur Diskussion - und der Tatsache, dass Kim zuletzt einen Film mit dem Titel The Good, the Bad, the Weird gedreht hat, dürfte sich ein generelles Bild einstellen. Zumindest lässt sich bei all den Blutfontänen auch gelegentlich schmunzeln.

Da verzeiht man es dem Film auch, dass er nicht immer sonderlich logisch ist. So erhält Soon-hyun von Joo-yuns Vater, zugleich der Polizeipräsident, eine Liste mit vier Tatverdächtigen, die der Schwiegersohn in spe daraufhin abklappert. Wieso dies nicht die Polizei übernimmt, bleibt ebenso fragwürdig, wie ein späteres, dem Zufall geschuldetes, Wiedersehen von Kyung-chul und einem Soziopathen-Bekannten aus alten Tagen. Das die Prämisse bildende Jagen und Zappeln lassen des Täters, der hierdurch zum Opfer wird, mutet nach wiederholtem Auftreten innerhalb von Akmareul boatda dann etwas redundant an, weshalb die Laufzeit von über zwei Stunden dem Film diesbezüglich nicht unbedingt zum Vorteil gereicht.

Was über allem steht ist jedoch mal wieder das fast schon manisch anmutende Spiel von Choi Min-sik, der sich bereits mit Parks Oldeuboi und Chinjeolhan geumjassi auszeichnete, und hier den Film als durchgeknallter Kyung-chul alleine schultert. Akmareul boatda lotet hierbei bisweilen gekonnt die Grenzen der Selbstjustiz aus, welche Opfer man zur eigenen Gefühlsbefriedigung akzeptiert und ob dies am Ende nicht mehr Schaden verursacht als Heil. Hätte Kim das als 100-Minüter angelegt, um einige Redundanzen und Längen aus dem Weg zu gehen, wäre sein jüngster Film eine noch rundere Sache geworden. Aber auch so überlegt man es sich zwei Mal, mit wem man auf Südkoreas Landstraßen seine Zeit verbringt.

7.5/10

6. Juni 2011

X-Men: First Class

Go fuck yourself.

Im Kontext der Geschichte war 1962 das Jahr der Kuba-Krise, die die Welt an den Rand des Abgrunds brachte und kurz hinunter schielen ließ. Aber auch das Jahr der US-Bürgerrechte, wurde James Meredith doch am 1. Oktober der erste schwarze Student im Bundesstaat Mississippi, was dort zu Ausschreitungen und zwei Toten führte. Welche Periode als die Sechziger eignete sich also besser in ihrer Zweideutigkeit, um als Bühne für die X-Men-Reihe zu dienen? Schließlich standen die in der Gesellschaft diskriminierten Mutanten dort nicht nur aber auch für die Jahrhunderte lang unterdrückte Minderheit der Afroamerikaner. Umso überraschender daher, dass Matthew Vaughns X-Men: First Class die Bürgerrechtsfrage vollständig negiert.

Stattdessen versucht sich der Film als Charakterexposition für zwei seiner profiliertesten Figuren: Professor X (James McAvoy) und Magneto (Michael Fassbender). Die Freunde und späteren Gegner aus der X-Men-Trilogie werden hier zusammengeführt, aber ohne deswegen gleich zum Kanon zu gehören. Was nicht bedeutet, dass man sich nicht bei diesem bedienen kann. So übernimmt Vaughn das Intro aus X-Men, um seinem eigentlichen Hauptdarsteller seine spätere Motivation zu verleihen. Als Opfer emotionaler Folter trifft der junge Erik Lehnsherr auf einen maliziösen Kevin Bacon, der versucht Deutsch zu sprechen, ohne sich zu verschlucken. Es fallen Schüsse, es sterben Menschen und die Welt ist um einen Größenwahnsinnigen reicher.

Dies führt zum späteren Antrieb von Magneto: Rache und Vergeltung. Über die Schweiz und Argentinien foltert er sich nach Florida, wo er auf die anderen Figuren trifft. Zum Beispiel Moira MacTaggert (Rose Byrne), die von einer schottischen Genetikerin zur Strapse tragenden CIA-Agentin mutiert (nicht buchstäblich). Aber auch Charles Xavier, ein saufender Schürzenjäger, der von Klein auf mit Mystique (Jennifer Lawrence) aufgewachsen ist. Die beiden streben nun danach, den Sebastian Shaws (Kevin Bacon) Hellfire Club aufzuhalten. Was das eigentlich ist, warum Professor X und Mystique zusammen aufwuchsen und wieso CIA-Agentinnen auf Missionen ein kleines Schwarzes drunter tragen, hat das Publikum nicht zu interessieren.

Oder anders gesagt: der Film interessiert sich nicht dafür. Weder für die kleinen Details seiner arg konstruierten Handlung (der Hellfire Club plant den nuklearen Holocaust, weil dann alle Menschen sterben und nur die Mutanten überleben), noch für deren Struktur oder für seine Figuren. Über Professor X erfährt man abgesehen von der Sandkasten-Freundschaft zu Mystique lediglich, dass er stinkreich ist und ihm seine Mama früher keinen Kakao gemacht hat. Des Weiteren ist er für den restlichen Filmverlauf eine gehende Version der Patrick-Stewart-Figur und erhält zwar mehr Leinwandzeit, aber deswegen nicht mehr Charaktertiefe als die übrigen Figuren wie Mystique, Beast, Havok, Banshee, Angel, Riptide, Emma Frost und Konsorten.

Sie alle sind austauschbare Gesichter, deren Auswahl durch Xavier und Lehnsherr man nicht wirklich nachvollzieht. Ein willkürliches Ensemble, da sie für die Erzählung der Geschichte unerheblich sind. Ihre Kräfte sind dabei unterschiedlich von Belang, von geht so (Beast) bis gar nicht (Mystique). Speziell die von Jennifer Lawrence porträtierte Gestaltwandlerin geht völlig unter, was umso bedauerlicher ist, da sie abgesehen von Jason Flemyngs Azazel die einzige (!) Figur repräsentiert, deren Mutation für das bloße Auge sichtbar ist. Und selbst dieses wahre Äußere wird die meiste Zeit über unterdrückt, was sicher auch mit der Maske zu tun hat und allein deswegen dankbar ist, da diese im Vergleich zur Trilogie unfassbar hässlich gerät.

Ein nicht minder großes Ärgernis ist die ADHS-Handlung, die während der ersten 90 Minuten keine fünf am Stück an ein und demselben Ort mit ein und denselben Charakteren verbringen kann. Man fragt sich, warum Vaughn nicht die exorbitante Zahl der langweiligen Figuren reduziert und sich auf zwei bis drei eindringlicher konzentriert hat. Statt dem lahmen Alex Summers (Lucas Till) zum Beispiel dessen Bruder Scott a.k.a. Cyclops (beide verfügen ohnehin über dieselbe Kraft), dazu eine junge Jean Grey und notfalls noch Beast. Man hätte mehr Zeit für weniger Figuren und könnte seine Handlung für 10, 15 Minuten an einem Ort entfalten, ohne dauernd von London nach Argentinien nach Moskau und Las Vegas zu hopsen.

Selbst die zum Ziel gesetzte Entfaltung der Freundschaft von Charles und Erik misslingt, da Vaughn sich ihr mit derselben Aufmerksamkeit widmet wie den übrigen Mutanten. Warum hier eine Freundschaft entsteht, die auch noch in 60 Jahren existiert – berücksichtigt man den semi-kanon-artigen Charakter von X-Men: First Class mit der X-Men-Trilogie – bleibt unklar, hat die Freundschaft doch kaum Raum zur Entfaltung. Letztlich gelang Vaughn ein Film über irgendwie nichts, taugt die Geschichte doch weder über eine divergierende Freundschaft, noch über gesellschaftlichen Rassismus und Diskriminierung. Allenfalls als Analogie auf den Kalten Krieg mit Mutanten als kleinsten gemeinsamen Nenner für Kapitalisten und Kommunisten.

Hinzu kommt ein leicht missratener Look, speziell in der Gestaltung der Mutanten. Dass es die 68 Personen aus dem Make-Up-Department nicht schafften, insbesondere Mystique, aber auch Azazel und Beast ansehnlich umzusetzen, ist erstaunlich und bedauerlich. Auch die visuellen Effekte variieren, von peinlich berührend in der ersten Zurschaustellung der Kräfte von Erik bis solide (mit Abstrichen das Finale). Erfreulich ist dagegen, dass das Endprodukt nicht mit nutzlosem und fehlerhaftem 3D-Effekt in den Kinos startet, wie es heutzutage gang und gäbe ist. Dies könnte jedoch auch damit zusammenhängen, dass es zeitlich einfach nicht mehr für eine Konvertierung gereicht hat. Was bei den unumgänglichen Fortsetzungen anders sein dürfte.

Doch was ist gut an X-Men: First Class oder zumindest besser als an X-Men: The Last Stand und/oder X-Men Origins: Wolverine? Zum einen gibt Kevin Bacon – vom Finale abgesehen – einen gelungenen, charismatischen Antagonisten, der in gewisser Weise tatsächlich eine Bedrohung für die Mutanten und die normale Bevölkerung darstellt. Zum anderen trumpft der Film gelegentlich mit charmanten Ideen auf, seien es Cameos von Figuren und Darstellern aus früheren X-Men-Abenteuern oder etwaige Einbindungen der Mutantenkräfte, die besonders gut in Fassbenders ersten Szenen zum Tragen kommen. Auch das Ensemble schlägt sich wacker, von Bacon über Fassbender bis hin zu den Jungdarstellern der blassen Nebenrollen.

Am Ende reicht das nicht, um die wenig inspirierte und ausgearbeitete Geschichte im Slideshow-Format inklusive unbeachteter Figuren zu überdecken. Dass dann im Abspann Musik von Take That runtergedudelt wird, ist der negative Höhepunkt. Somit setzt Matthew Vaughn, der einst den Trilogie-Abschluss inszenieren sollte (was er sich dann aber nicht zutraute), seine abfallende Karriere seit dem starken Layer Cake bis hin zum mauen Kick-Ass fort. Ein Schicksal, das Bryan Singer, der seiner Zeit Superman Returns den Vorzug gab und hier als ausführender Produzent zurückkehrte, ebenso blüht, wie der gesamten Reihe. Denn auf X-Men: First Class lässt sich ein Zitat aus dem Film münzen: Es ist schlimmer als wir dachten.

4.5/10

4. Juni 2011

Beginners

Eine von Hollywoods goldenen Regeln lautet: Hunde ziehen immer. Süß und knuffig - des Menschen bester Freund eben. Weshalb Mike Mills’ Jack Russell Terrier in dessen Film Beginners punkten dürfte. Ohnehin ist der ganze Film so knuffig und herzerwärmend, ohne dass er deswegen gleich ein Meisterwerk wäre oder lange im Gedächtnis bleibt. Wenn aber zum Hund Frankreichs zarteste Versuchung, Mélanie Laurent, sowie der allzeit sympathische Ewan McGregor und Christopher Plummer als 75-Jähriger, der sein Coming Out erlebt, kommen, kann man dem Film aufgrund seiner charmanten Art nicht böse sein. Die ganze Kritik gibt’s beim Manifest.

7/10

31. Mai 2011

Somos lo que hay

Estas vivo.

Horror is back, baby. Egal ob Vampir oder Zombie, aktuell finden sich die Untoten in so vielen Film- und Serienprojekten wie nie zuvor wieder. Sei es The Walking Dead oder Zombieland, egal ob True Blood, The Vampire Diaries oder Fright Night. Dass da willkommener Platz für Kannibalen ist, dürfte umso verständlicher sein. Allerdings kommt der Horror kaum noch in Reinform daher, lieber als Amalgam und Symbiose verschiedener Genres. Bevorzugt Komödien á la Shaun of the Dead, gerne auch Schmachtfetzen wie Twilight oder Action in Form der bevorstehenden Priest oder Stakeland. Jorge Michel Graus Debütfilm über mexikanische Kannibalen preist sich daher als „konsequentes Arthouse-Kino“ an.

Als in einer Einkaufsmeile in Mexiko-Stadt ein älterer Mann Blut spuckend zusammenbricht, blickt seine Familie plötzlich dem Hungertod entgegen. Die Versuche des ältesten Sohnes, Alfredo (Francisco Barreiro), auf Anordnung seiner Schwester Sabina (Paulina Gaitán) Verantwortung zu zeigen, scheitern - nicht zuletzt dank des aggressiven Verhaltens ihres Bruders Julián (Alan Chávez). Ein Tag bleibt den Brüdern, ein Menschenopfer für das traditionelle Ritual von Mutter Patricia (Carmen Beato) zu finden, lebt die Familie doch vom Kannibalismus. Dieser ist laut Leichenbestatter gar nicht so unverbreitet in der Hauptstadt, weshalb er zwei einfältigen Mordkommissaren die Übernahme des Falls aufschwatzt.

Die herausragende Qualität von Somos lo que hay (dt. Wir sind was wir sind) ist fraglos, dass der Film zuvorderst ein familiäres Sozialdrama ist, das sich eher zufällig um Kannibalen zu drehen scheint. Die Familie selbst ist weit entfernt von anderen Kannibalenfamilien des Horrorgenres wie man sie aus Wrong Turn oder ähnlichen kennt. Grundsätzlich geben sich Sabina, Alfredo und Julián ganz normal, wirken bestens ernährt und bis auf den jüngsten Spross auch alle gelungen in die Gesellschaft integriert. Wäre da nicht der überraschende Tod des Vaters und Familienernährers ein Tag vor jenem Ritual, dessen Bedeutung für Patricia und Co. mehr angedeutet wird, als dass sie für das Publikum wirklich spürbar wird.

Was man Graus Debüt am meisten vorwerfen muss, ist ohnehin, dass dieses relativ selten wirklich eine Atmosphäre zu erzeugen vermag, sowohl in Bezug auf seine Sozialdrama- wie Horror-Momente. Zum einen verzichtet der Film weitestgehend auf eine musikalische Untermalung und lässt gerade in der zweiten Hälfte seine dunklen nächtlichen Bilder für sich sprechen. Da man über die Familie und insbesondere das Ritual jedoch so gut wie nichts erfährt, geht die Dringlichkeit des Ganzen für das Publikum verloren. Geht es der Familie ums Fleisch? Kann sie nicht einfach zum Metzger fahren, schließlich ist ihr gesundes Erscheinungsbild doch Beispiel genug dafür, dass sie sich nicht nur von Menschenfleisch ernährt.

Der Film ist voller solcher Fragen, erklärt doch der Gerichtsmediziner, dass der Vater an einer Vergiftung gestorben ist. Möglich, dass ihn eine der Prostituierten vergiftet hat, die er laut seiner Familie regelmäßig aufgesucht hat. Angesichts des Schocks der Familie, erscheint es unwahrscheinlich, dass einer von ihnen den Vater umbringen wollte. Vieles bleibt im Dunkeln und wird lediglich lose angedeutet, während Somos lo que hay versucht, den Zerfall einer mexikanischen Familie dank einer Extremsituation darzustellen. Einen Tag vor dem Ritual hat der Vater selbst für kein Opfer gesorgt und die Idee, seine Söhne für potentielle Notfälle ins „Familiengeschäft“ einzuweisen, ging ihm wohl ebenfalls ab.

Als Spitze des Eisberges wirkt das Filmfinale nicht nur reichlich konstruiert, sondern auch rasch abgespult. Was hier mit den zuvor zentralen Figuren geschieht, ist einem als Zuschauer relativ egal, da man sich mit keiner der Rollen ansatzweise identifizieren kann. Es passiert, was abzusehen war, weil so das Genre eben funktioniert, auch wenn Graus Film diesem bis dahin weitestgehend die kalte Schulter gezeigt hat. Letztlich ist der realistische Ton von Somos lo que hay sein großer Trumpf, der allerdings nicht darüber hinwegtröstet, dass der Film abgesehen von diesem wenig originell ist und nie wirklich eine Atmosphäre erzeugt. The need to feed als konsequentes Arthouse-Kino kann daher nur bedingt überzeugen.

4/10 - erschienen bei Wicked-Vision