28. November 2010

Classic Scene: Monty Python and the Holy Grail - "Are you suggesting coconuts migrate?"

DIE SZENERIE: Nachdem ihr erster Filmausflug „And Now For Something Completely Different“ eher ein Best Of der Sketche ihrer TV-Serie „The Flying Circus“ war, markierte „Monty Python and the Holy Grail“ den ersten Kinofilm der britischen Komiker mit eigens für den Film geschriebenem Material. Aus Kostengründen - der Film hatte ein Budget von knapp $400,000, spielte weltweit jedoch insgesamt 5 Millionen Dollar ein - konnten es sich die Pythons nicht leisten, echte Pferde für ihre Artus-Persiflage zu verwenden. Stattdessen griffen sie auf einen Sketch von Peter Sellers zurück, der anschließend durch seine Erklärungseinbindung zum ersten und erfolgreichsten Sketch des Filmes wurde.

EXT. CASTLE WALLS
- DAY


Mist. Several seconds of it swirling about. Silence possibly, atmospheric music. After a few more seconds we hear hoof beats in the distance. They come slowly closer. Then out of the mist comes KING ARTHUR followed by a SERVANT who is banging two half coconuts together. ARTHUR raises his hand.

ARTHUR: Whoa there!

SERVANT makes noises of horse halting, with a flourish. ARTHUR peers through the mist.

CUT TO shot from over his shoulder: castle rising out of the mist. On the castle battlements a SOLDIER is dimly seen. He peers down.

SOLDIER: Halt! Who goes there?

ARTHUR: It is I, Arthur, son of Uther Pendragon, from the castle of Camelot. King of the Britons, defeater of the Saxons, sovereign of all England!

Pause.

SOLDIER: Pull the other one.

ARTHUR: I am…And this is my trusty servant, Patsy. We have ridden the length and breadth of the land in search of Knights who will join me in my court in Camelot. I must speak with your lord and master.

SOLDIER: What? Ridden on a horse?

ARTHUR: Yes!

SOLDIER: You’re using coconuts!

ARTHUR: What?

SOLDIER: You’ve got two empty halves of coconut and you’re banging them together.

ARTHUR: (scornfully) So? We have ridden since the snows of winter covered this land, through the Kingdom of Mercia.

SOLDIER: (interrupts him) Where did you get the coconuts?

ARTHUR: We found them.

SOLDIER: Found them? In Mercia? The coconut’s tropical!

ARTHUR: What do you mean?

SOLDIER: Well, this is a temperate zone.

ARTHUR: The swallow may fly south with the sun, or the house martin or the plover may seek warmer climes in winter, yet these are no strangers to our land.

SOLDIER: Are you suggesting coconuts migrate?

ARTHUR: Not at all. They could be carried.

SOLDIER: What? A swallow carrying a coconut?

ARTHUR: It could grip it by the husk…

SOLDIER: It’s not a question of where he grips it it’s a simple question of weight ratios. A five-ounce bird could not carry a one-pound coconut.

ARTHUR: Well, it doesn’t matter. Will you go and tell your master that Arthur from the Court of Camelot is here.

A slight pause. Swirling mist. Silence.

SOLDIER: Listen, in order to maintain air speed velocity, a swallow needs to beat its wings forty-three times every second. Right?

ARTHUR: (irritated) Please!

SOLDIER: Am I right?

ARTHUR: I’m not interested.

SECOND SOLDIER: (who has loomed up on the battlements) It could be carried by an African swallow!

FIRST SOLDIER: Oh, yes! An African swallow maybe…but not an European swallow. That’s my point.

SECOND SOLDIER: Oh, yes, I agree with that…

ARTHUR: (losing patience) Will you ask your master if he wants to join my court in Camelot?!

FIRST SOLDIER: But then of course African swallows are non-migratory.

SECOND SOLIDER: Oh, yes.

ARTHUR raises his eyes heavenward’s and nods to PATSY. They turn and go off into the mist.

FIRST SOLDIER: So they couldn’t bring a coconut back anyway.

SECOND SOLIDER: Wait a minute! Supposing two swallows carried it together?

FIRST SOLDIER: No, they’d have to have it on a line.

SECOND SOLDIER: Well simple - they just use a strand of creeper…

FIRST SOLDIER: What, held under the dorsal guiding feathers?

SECOND SOLDIER: Why not?

25. November 2010

Lost

Remember… and let go.

Die US-Fernsehserie Lost wurde von Kritikern als „multimediales Ereignis“ und „das am konsequentesten umgesetzte Fernsehkonzept aller Zeiten“ bezeichnet. Sie galt als „weltweit erfolgreichste  Fernsehserie“, dies jedoch weniger wegen ihrer Einschaltquoten - die in den letzten Jahren stetig zurückgegangen sind -, sondern dank ihrer digitalen Aufzeichnung und den daraus resultierenden Downloads.  Nur wenige Serien vor Lost hinterließen einen derart bleibenden Effekt, war die Serie doch weniger Serie als vielmehr ein Phänomen. Ein Serienphänomen, das nicht nur in einem eigenen Magazin resultierte, sondern auch wöchentliche Podcasts der Showrunner hervorbrachte. Und das mit Abstrichen zum Missverständnis wurde beziehungsweise werden musste. Die umfassende und dennoch nie zu greifende Mythologie der Serie resultierte in mehreren Fanseiten und Diskussionsforen. Filmwissenschaftliche Literatur zur Serie findet sich bisher kaum, wird wohl erst nun, nach Ende der letzten Staffel, zu Tage treten. Und einen nüchternen Blick auf die narrativen Schwächen werfen, diese jedoch hinter das Requiem der Serie zu stellen haben.

Die Ursprünge von Lost verdanken sich Robert Zemeckis’ Kinofilm Cast Away aus dem Jahr 2000. Bei einem Treffen der Führungskräfte des amerikanischen Fernsehsenders American Broadcasting Company (ABC) im Sommer 2003 schlug Lloyd Braun, der damalige Vorsitzender der ABC, eine Serie mit ähnlicher Philosophie vor. Man trat an den Autoren Jeffrey Lieber heran, der eine Idee für die Serie entwickelt sollte, welcher Lieber ein Gefühl von William Goldings Lord of the Flies verleihen wollte.  Im weiteren Verlauf  der Vorbereitung zog Braun, der mit Liebers Ideen unzufrieden war, schließlich Drehbuchautor und Alias-Schöpfer J.J. Abrams hinzu. Dieser verpasste Lost dann den finalen Schliff. Er konzipierte die Insel, auf der eine Gruppe Flugzeugpassagiere abstürzt, als einen eigenen Charakter („a supernatural place where strange things happened“). Mit dem aufstrebenden Autoren Damon Lindelof konzipierte Abrams ein Szenario für eine zweiteilige Pilotfolge, deren Budget von der ABC ohne ein Drehbuch gesehen zu haben, abgesegnet wurde.

Für 12 Millionen Dollar produzierte man den zweistündigen Piloten, der am 22. September 2004 ausgestrahlt wurde. Die ersten zwei Dutzend Folgen der ersten Staffel verfolgten durchschnittlich über 15,6 Millionen US-Amerikaner, womit Lost seine festen Zuschauer gefunden zu haben schien. Abrams widmete sich anschließend seinen Kinoproduktionen und behielt lediglich seinen Produzentenstatus, weshalb seither neben Lindelof noch Carlton Cuse den Showrunner der Serie gab. In den vergangenen sechs Jahren konnte Lost nicht nur einen Golden Globe, sondern auch neun Emmy Awards mit nach Hause nehmen. Am 23. Mai 2010 lief mit The End ein bezeichnendes Finale einer der größten Shows des vergangenen Jahrzehnts. Ein Ende, das einen emotionalen Eindruck hinterließ, der noch lange anhalten wird. Ein Ende, das allerdings auch vor Augen führte, woran es Lost letztlich fehlte, um in Realität das zu werden, was es für seine Anhängerschaft über die Jahre hinweg gewesen war. Im Zuge der Rekapitulation werden in den restlichen Absätzen Spoiler zum Serienverlauf nicht abwendbar sein. Viewer discretion is advised.

Mit dem 22. September 2004 fing alles an. Nicht nur für die Zuschauer mittels der Pilotfolge(n) von Lost, sondern auch für deren Charaktere. Es war Flug Oceanic 815, der an jenem Datum in seinem Kurs von Sydney nach Los Angeles in Turbulenzen geriet und irgendwo im Pazifik abstürzte. Details, die weder das Publikum, noch die Figuren vergessen würden, und die einen eigenen Mythos innerhalb der Serie nach sich ziehen sollten. Das erste Bild der Show markierte dabei ein sich öffnendes Auge, welches in späteren Folgen (20 um genau zu sein, davon allein neun in der ersten Staffel) zum wiederkehrenden Element verkommen würde und mit der letzten Einstellung der Serie in The End seine narrative Klammer erhalten sollte. Die erste Figur, die der Zuschauer kennenlernt, ist der Arzt Jack Shephard (Matthew Fox). Eine Figur, die sich zum essentiellen Charakter von Lost entwickeln würde, zur zentralen Rolle im Geschehen der Serie. Eine Figur, die ursprünglich in der Pilotfolge sterben sollte.

Es kam letztlich doch nicht so, da die Produzenten befürchteten, Zuschauer könnten die Show ablehnen, wenn die Hauptidentifikationsfigur in der ersten Folge getötet wird. Eine Entscheidung, die Party of Five-Veteran Matthew Fox einen neuen Karrieresprung und der Serie eine Titelfigur mit allerlei Ecken und Kanten verschaffte. Von 324 Passagieren überlebten 71 den Absturz. Von den 71 würde es am Ende der sechsten Staffel nur eine Handvoll sein, die mit dem Leben davonkommt. Damit kommt Lost einem Zählreim gleich, in dem Staffel um Staffel nicht nur, aber auch ursprüngliche Hauptfiguren beziehungsweise Überlebende des Oceanic-Absturzes ums Leben kommen. Ein Schema, das so zu Beginn nicht unbedingt antizipierbar gewesen ist. Wobei zu Beginn ohnehin relativ wenig antizipiert werden konnte. Lost schwappte als potentielle neue Hit-Serie über die TV-Landschaft und zeigte mit ihrer ersten Staffel, dass sie diesem Anspruch mehr als gerecht wurde. Mit nichts ahnenden Figuren („Guys, where are we?“, Charlie in Pilot: Part II) und 14 Sprechrollen, konnte sich jeder Zuschauer eine Identifikationsfigur aussuchen.

Womit sich früh einer der Vorzüge, zugleich aber auch der wahrscheinliche „Genickbruch“ der Serie ausmachen lässt. Bei 14 Sprechrollen in der ersten Staffel, die in der darauffolgenden zweiten Staffel sogar auf 17 anwachsen sollten, gelang es Lost stets, sowohl Charakter- als auch Mythologieserie zu sein. Ein Konzept, das sich dem strukturellen Aufbau der Durchschnittsepisode verdankt (lediglich in der fünften Staffel verzichteten die Macher in drei Folgen auf dieses Konzept). Jede Episode legt den Fokus meist auf eine, in seltenen Fällen (speziell dem Staffelfinale) auch auf mehrere Figuren. In einem sekundären Handlungsstrang werden mittels Rück- und in der vierten Staffel auch Vorblenden hauptsächlich (charakterliche) Hintergründe zu einer der Rollen geliefert. Diese knüpfen oft an vorangegangene Folgen der Figur an und/oder nehmen Bezug auf den primären Handlungsstrang, sprich die gegenwärtigen Ereignisse auf der Insel. So wurde in 118 Episoden insgesamt 31 Charakteren spezielle Aufmerksamkeit gewidmet.

Von diesen 118 charakterzentrischen Episoden entfallen nun allein 15 Folgen auf Jack (auch wenn er sich drei von diesen mit anderen Figuren teilt), was einem prozentuellen Anteil von 12 Prozent entspricht. Ohnehin sollte man sich von den insgesamt 31 „Fokus“-Figuren nicht in die Irre leiten lassen, liegt der eigentliche Fokus von Lost doch auf einer Handvoll Figuren, die rund die Hälfte dieser Episoden mit ihren Hintergründen - und auch sonst das Geschehen auf der Insel - bestimmen. Am bedeutendsten neben Jack geraten hierbei Kate Austen (Evangeline Lilly) mit 12 und Jacks designierter Gegenspieler John Locke (Terry O’Quinn) mit 11 Folgen. Gefolgt von den drei verbliebenen Charakteren Sun Kwon (Yunjin Kim) mit 10, sowie Hugo „Hurley“ Reyes (Jorge Garcia) und Sayid Jarrah (Naveen Andrews) mit jeweils 9 Episoden. Wie sehr sich die Serie auf Jack konzentriert, lässt sich auch im Vergleich zu einer anderen Figur aus den Anfängen ablesen, hat Fox’ Rolle doch fast drei Mal so viele zentrischen Episoden wie beispielsweise sein Konkurrent James „Sawyer“ Ford (Josh Holloway), der in sechs Staffeln auf lediglich sechs Folgen kommt.

In den Augen der Macher war Lost also stets eine Charakterserie, das merkte der Zuschauer spätestens in der finalen Staffel, die zwar versuchte, in Folgen wie Ab Aeterno oder Across the Sea einige mythologische Fragen, die in den ersten Staffeln eingeführt wurden, zufriedenstellend aufzulösen, hierbei jedoch scheiterte (oder scheitern musste, nachdem sechs Jahre lang ein Bohai darum veranstaltet wurde, dessen Erwartungshaltung exorbitant war) und einige Fragen gänzlich unbeantwortet im Raum stehen ließ. Was speziell mit den ersten beiden Staffeln zur ultimativen Mystery-Serie avancierte, endete als Charakter-Konklusion. Surprise over substance lautete spätestens ab der dritten Staffel das Motto von Lost und die Idee, mit jeder Folge möglichst eine neue Frage zu stellen, beziehungsweise bei Schließung einer Tür, anderswo zwei Fenster zu öffnen, sollte für die Serie zur mythologischen Krux werden, die in ihrem letzten Jahr und vor allem auch der letzten Folge einige enttäuschte Gesichter zurückließ („Every question I answer will simply lead to another question“, wird Jacobs Mutter in Across the Sea selbstironisch in den Mund gelegt).

Auch wenn sich später der Eindruck einschlich, Lindelof und Cuse würden die Serie stets ad hoc weiterentwickeln, zeigen sich manche zentralen Elemente durchaus von Beginn an. So zum Beispiel der Kampf Hell gegen Dunkel („Two sides. One is light. And one is dark“, Locke in Pilot: Part II), ein Echo aus George Lucas’ Star Wars-Reihe. Das Hell-Dunkel-Element sollte sich kurz darauf vier bzw. acht Folgen später (House of the Rising Sun/Raised by Another) erneut zeigen und auch speziell zur finalen Handlung hin wieder aufgenommen werden in Episoden wie The Incident der fünften oder The Substitute der sechsten Staffel. Bereits Mitte der ersten Staffel beginnt in Hearts and Minds Locke dann, seinem eigenen Weg (oder dem der Insel) zu folgen, während Lost in derselben Folge begann, ein weiteres wiederkehrendes - und bedeutendes - Element einzuführen: die Inter-Relation der Figuren. Diese war besonders prominent in den ersten drei Staffeln und führte zu direkten Konfrontationen (Jack und Desmond in Man of Science, Man of Faith) oder einem Aufeinandertreffen mit einer Person aus dem Leben eines der anderen Überlebenden (z.B. hatten Hurley und Locke denselben Boss).

Getreu der Idee „The Six Degrees of Separation“ sollte die Inter-Relation der Figuren die These untermauern, dass ihr Aufeinandertreffen vorherbestimmt war. Derlei Punkte wurden auch relativ früh angesprochen, wenn Antagonist Ben Linus (Michael Emerson) Anfang der dritten Staffel offenbart, dass zwei Tage, nachdem er von seinem Wirbelsäulentumor erfuhr, mit Jack ein Spezialist für diese Krebsform auf Bens Insel abstürzte (The Cost of Living). Die schicksalhafte Selektion der (Haupt-)Figuren wurde dann spätestens in Lighthouse (Staffel 6, Episode 5) deutlich. Dabei stand es nie zur Debatte, dass es sich bei dem Absturz von Oceanic 815 und der Passagierauswahl um Zufall gehandelt haben konnte („Do you think we crashed on this place by coincidence?“, Locke in Exodus, Part II sowie „Don’t mistake coincidence for fate“, Mr. Eko in What Kate Did). Lediglich der Grund für jene Selektion blieb ein Mysterium, welches erst zu Beginn der finalen Staffel als Handlungsgebende Prämisse offenbart wurde - sowohl für den Primär- als auch Sekundärplot.

Doch zurück zu den Anfängen, denn Lost ist eine Serie, bei der der Weg das Ziel ist. Spielte Liebers ursprüngliches Konzept eines Lord of the Flies-Szenarios in den späteren Staffeln keine Rolle mehr, war es in seinem ersten Jahr noch evident. Die 14 Sprechrollen repräsentierten unterschiedlichste Charaktere, vom Chirurgen, über eine FBI-gesuchte Mörderin bis hin zum dickleibigen Millionär oder einem drogensüchtigen Musiker. Spielte die essentielle Figur von Locke - ein Querschnittsgelähmter, der in der Pilotfolge durch die Insel geheilt wird - in der ersten Hälfte der ersten Staffel noch brav das Gemeinschaftsspiel mit, begann mit Hearts and Minds in der 13. Folge die Aufspaltung der Überlebenden, die sich spätestens zum Auftakt der vierten Staffel zeigen sollte. In den ersten Wochen des Absturzes geht es jedoch für Jack und Co. um die Akklimatisierung, das Warten auf Rettung und ab Folge 10 (Raised by Another) mit der Entführung der schwangeren Claire (Emilie de Ravin) durch Ethan (William Mapother), ein Gruppenmitglied, das nicht mit Oceanic 815 geflogen war, um die Gefahr der „Anderen“.

Eine Gefahr, die sich im Finale zuzuspitzen drohte, während mit einer mysteriösen Zahlenfolge (4 8 15 16 23 42) in Numbers und einer Luke im Dschungel (All the Best Cowboys Have Daddy Issues) zwei weitere bedeutende Punkte des Serienkanons eingeführt wurden. So schrieb man in der ersten Staffel das Mysteriöse noch, wenn Rauchmonster, wandelnde Geister, sowie Flüsterstimmen, Polarbären und Luken im Dschungel auf die Überlebenden warten. Dass die dramatische Situation nicht spurlos an den Figuren vorüberging - und einen Trend für die kommenden Staffeln startete -, sah man in ersten Morden durch vermeintlich unschuldige Charaktere wie Charlie (Dominic Monaghan) in Homecoming und Todesfällen von Hauptfiguren, deren Auftakt Boone (Ian Somerhalder) in Do No Harm darstellte („Boone was a sacrifice the island demanded“, Locke in Exodus, Part II). Und je mehr Mysterien Einzug in Lost fanden, desto mehr schien sich der reine Lord of the Flies-Aspekt zu verabschieden - während er in Wirklichkeit nur mehr und mehr begann, Ausmaße von Weltumspannender Form anzunehmen.

Die Bedeutung der Insel wurde in der zweiten Staffel eingeführt, mit einem amüsanten (vermeintlichen) MacGuffin, der sich letztlich nicht als solcher herausstellte. Mit der Öffnung der Luke und dem Betreten einer unterirdischen Station erhielt das neue Element der Dharma Initiative Einzug in die Serie. Eine Organisation, die sich der Wunder der Insel annahm, die scheinbar in der Tat mehr war als nur ein abgelegenes Eiland. Aufgesetzt auf eine elektromagnetische Quelle sorgte eine computergesteuerte Entladung alle 108 Minuten für die Rettung der Welt - wenn man den Worten von Stationsleiter Desmond Hume (Henry Ian Cusick) glauben durfte. Dieser nahm die neuen Gesichter als Möglichkeit wahr, nach drei Jahren tumbem Knopfdrücken endlich das Weite zu suchen und sollte erst zum grandiosen Flashback-Finale (Live Together, Die Alone) zurückkehren. Thematisch bewegte sich die zweite Staffel fortan in Folgen wie Lockdown und ? zwischen den Geheimnissen der Dharma Initiative und der Bedrohung der Anderen, die Michaels (Harold Perrineau) Sohn Walt (Malcolm David Kelley) entführten, hin und her.

In der zweiten Staffel wurden die eingeführten Elemente der Vorgängerstaffel nun verstärkt. Eine versprengte Gruppe der Oceanic-Überlebenden stieß hinzu und bot in Form von Ana Lucia Cortez (Michelle Rodriguez) und Mr. Eko (Adewale Akkinuoye-Agbaje) neue sympathische Figuren. Wie jedoch üblich in Lost, erforderte die Integration von neuem Leben die Verabschiedung von altem (so wurde Aaron in Do No Harm quasi zeitgleich zu Boones Tod geboren), wenn das Eintreffen von Ana Lucia und Co. zum Ableben von Shannon (Maggie Grace) führt. Eine Entscheidung, die wiederum die Anspannung unter den Überlebenden aufrecht erhielt, die sich durch die gesamte Serie hindurch nie wirklich legte. Eine besondere Hervorhebung hatte hier bereits in der zweiten Hälfte der Vorgängerstaffel das Verhältnis von Jack und Locke erfahren („We're going to have a Locke problem“, Jack in Exodus, Part II), die nun als gegensätzliche Unterscheidung von „man of science“ und „man of faith“ bis zum bitteren Ende (ironischerweise später mit vertauschten Rollen) das Schicksal der Serie bestimmen würden.

Obschon die Insel für die meisten Figuren einen Neuanfang darzustellen schien - so stellte sich gerade in der vierten Staffel für Einige die Frage, warum sie die Insel überhaupt verlassen sollen -, zeigte sich, dass die Charaktere der Figuren festgefahren waren. So wurde Charlie das Stigma des Drogenhortenden Loners nicht los, während sich Sawyer wiederum ganz in der Rolle des von allen gehassten Arschlochs gefiel. Festgefahrene Rollenbilder, allen voran Jacks Schicksal als „fixer“, die abgesehen von dem einen oder anderen kurzen Schwenk über sechs Jahre hindurch ihrer Persönlichkeit treu blieben (umso logischer, da sie wegen ihr von Jacob ausgewählt wurden). Dass jede Figur aber dennoch über einen freien Willen verfügte - was wiederum in den christlichen Charakter gerade der sechsten Staffel spielte -, zeigte sich an der Figur von Michael, die zum Staffelfinale hin ihr Schicksal in die eigenen Hände nahm und ähnlich wie Charlie zuvor ihre Unschuld im Mord an anderen Figuren, in diesem Fall Ana Lucia und Libby (Cynthia Watros), und der Auslieferung von Jack, Kate und Sawyer an die Anderen verlor.

Dass die zweite Staffel die Gelungenste der Serie darstellt, verdankt sich sicherlich der neugewonnenen Faszination einerseits von Cusicks grandioser Figur des Desmond - und seiner bewegenden Liebesgeschichte mit Penny (Sonya Walger), die - in Live Together, Die Alone eingeführt - ergreifender gerät als die zweijährige Pseudoromanze von Jack und Kate - und andererseits der mysteriösen Dharma Initiative und ihrer Stationen sowie Intentionen auf der Insel. Dass es auch Dr. Marvin Candle (François Chau) allein durch seine Orientierungsfilme vor seinem physikalischen Auftritt in der fünften Staffel zur liebgewonnen Kultfigur geschafft hat, spricht sicherlich Bände. Hinzu kamen mit Ana Lucia und Mr. Eko zwei nicht nur starke und präsente, sondern auch sympathischere Figuren als sie das Adoptivgeschwisterpärchen Boone und Shannon zuvor darstellten. Dass Lindelof und Cuse jedoch bereit waren, Handlungsstränge antworttechnisch ins Leere laufen zu lassen, zeigte sich bereits indem sie Perrineau und Kelley aus der Serie (vorerst) verabschiedeten, ohne Walts für die Anderen so interessanten übersinnlichen Kräfte erläutert zu haben.

Spätestens mit der dritten Staffel waren die Anderen nun mehr als nur die nebulösen Antagonisten der Überlebenden: Sie wurden nun vielmehr zu einem festen Bestandteil der Serie. Gleichzeitig fand im dritten Jahr von Lost ein Novum statt: Die Staffel wurde aufgespaltet und durch einen Hiatus über zwei Monate unterbrochen. Besondere Spannung wurde in den ersten sechs Episoden durch die Platzierung von Jack, Kate und Sawyer in das Lager der Anderen erzeugt. Während letztere Zwei aus unerfindlichen Gründen in Bärenkäfigen gehalten wurden, kam die Ursache für Jacks Entführung früh ans Licht. Mit Juliet Burke (Elizabeth Mitchell) wurde die Frischzellenkur in der Serie fortgesetzt, ersetzte die vermeintliche Verbündete von Jack im Lager der Anderen zumindest auf lange Sicht den Abschied von Eko, der in der fünften Folge die Tradition und Ankündigung der Showrunner fortsetzte, dass jede der Hauptfiguren jederzeit sterben könne. Ekos Tod repräsentierte den zweiten Handlungsstrang in diesem ersten Drittel der Staffel, während Kate und Sawyer durch das „Opfer“ von Jack die Möglichkeit erhielten, vor den Anderen zu fliehen.

Mit Flashes Before Your Eyes folgte als so genannter „game changer“ auf den Hiatus ein bahnbrechender Moment für die Serie. Die brillante Episode, die zum ersten Mal das Konzept der Charakterrückblende sozusagen umschiffte, besiegelte in einem Streich das Schicksal von zwei Figuren. Desmonds Geist, angegriffen von der elektromagnetischen Implosion der Swan-Station im Vorjahresfinale, vermochte nun durch die Zeit zu reisen. Dies führte zur Einführung der scheinbar allwissenden Figur von Eloise Hawking (Fionnula Flanagan), die wieder das schicksalhafte Element der Serie betonte, wenn sie Desmond in der Vergangenheit darauf hinweist, dass es sein Schicksal war, auf der Insel zu landen und wie in Live Together, Die Alone gesehen für den Absturz von Oceanic 815 zu sorgen. Zugleich endete die Folge mit einem die Staffel durchziehenden Cliffhanger, wenn Desmond gegenüber Charlie gesteht, dass er dessen Tod vorhergesehen (und bereits zwei Mal verhindert) hat. Die gesamte Folge ist ein Echo von Ekos berühmter Äußerung „Don’t mistake coincidence for fate“, wenn Mrs. Hawking Desmond erklärt: „The universe, unfortunately, has a way of course correcting“.

Jener Desmond-Charlie-Handlungsstrang stand dann wie einige andere auch für sich allein im dritten Jahr, während wiederum Kate, Locke und Sayid bestrebt waren, Jack aus dem Dorf der Anderen zu befreien (dieses wurde wiederum sehr imposant im Staffelauftakt A Tale of Two Cities eingeführt). Wie problematisch die Auflösung essentieller Fragen für die Serie werden würde, zeigte sich bereits in der Erklärung von Lockes Querschnittslähmung, die in The Man From Tallahassee zu sehen war. Der Stoß aus einem mehrstöckigen Gebäude durch den eigenen Vater wirkte im Nachhinein spektakulär unspektakulär (ebenso wie die Auflösung in The Brig, dass Lockes Vater wiederum der echte „Sawyer“ war) und zugleich blieben sich Lindelof und Cuse treu, indem sie mit der Beantwortung dieser Frage eine weitere in den Raum stellten. Jene „magic box“, mit der Ben am Ende der Folge Lockes Vater Anthony Cooper (Kevin Tighe) aus dem Hut zauberte, gehört zu den offenen Fragen, für die in den kommenden drei Jahren keine Zeit für eine adäquate Antwort gefunden wurde. Zugleich markierte die Folge die finale Loslösung der Locke-Figur von den übrigen Überlebenden.

Locke wurde als neuer Beschützer der Insel „auserwählt“, in dessen Zuge die Konfrontation mit Jack neue Nahrung erhielt, als mit Naomi (Marsha Thomason) ein Mitglied eines Rettungskommandos auf der Insel abstürzte, das scheinbar  Penny engagiert hatte. Die Haupthandlungsstränge kulminierten zum Staffelfinale hin, wenn wieder einmal die Bedrohung der Anderen für einen traditionellen Marsch der Überlebenden sorgte, und es an Jack war, die mögliche Rettung der verbliebenen Überlebenden herbeizuführen, indem Funkkontakt zu Naomis Frachter hergestellt wird. Zugleich spielte die Serie in der vorletzten Folge Greatest Hits sehr gelungen mit dem angekündigten Tode Charlies, der schließlich auf das hochemotionale Finale Through the Looking Glass verschoben wurde. Dieses griff erneut Motive wie die Unschuld einiger Figuren - auch Jin (Daniel Dae Kim) und Hurley begingen ihre ersten Tötungsakte - und die Fehlentscheidung der selbsterkorenen Anführer (Locke lag im zweiten Staffelfinale falsch was die Swan-Station anging, Jack nun im dritten Finale, was Naomis Frachter anbelangt).

Welchen besonderen Einfluss die Fangemeinde auf Lost hatte, zeigte sich gerade in der dritten Staffel. Nachdem der Hiatus sehr negativ aufgenommen worden war (die Serie verlor bei Wiederaufnahme ein Viertel ihrer Zuschauer), entschied man sich ab der vierten Staffel auf das 24-Format umzusteigen. Dies bedeutete zum einen, dass Lost von Februar bis Mai lief und zum anderen, dass die Episodenzahl pro Staffel um ein Drittel reduziert wurde. Auch der Versuch, mit Nikki (Kiele Sanchez) und Paolo (Rodrigo Santoro) zwei unbekannte Figuren rückwirkend als Bestandteil der Überlebenden einzuführen, misslang aufgrund des unsympathischen Charakters der Beiden. Die Showrunner beugten sich dem Hass der Fans und verabschiedeten die Rollen in der ironischerweise überaus gelungenen Episode Exposé auf makaber-sarkastische Weise, wenn einerseits Sawyer (ebenfalls) nicht zu wissen schien, wer die Beiden eigentlich waren („And who the hell are you?“) und sie „Nina“ und „Pablo“ nannte. Ihren Abschied feierten sie dann, indem sie nach einem Spinnenbiss für tot gehalten und zum Ende der Folge hin lebendig begraben wurden.

Hatte Flashes Before Your Eyes bereits mit der Idee der Zeitreise aufgewartet, erweiterten Lindelof und Cuse für die vierte Staffel ihre narrative Struktur. In Through the Looking Glass wurde bereits statt einer Rück- mit einer Vorblende aufgewartet. Mit einer solchen begann dann auch The Beginning of the End, eine vorausdeutende Folge für die künftigen Ereignisse. In ihrem vierten Jahr bewegte sich die Serie somit auf drei verschiedenen Zeitebenen. Spielte die Haupthandlung auf der Insel mit der Ankunft einiger Frachtmitglieder und der Frage, ob diese den Überlebenden gut oder böse gesinnt waren, weiterhin in der Gegenwart, waren die Charakterhandlungen nun wie bisher in der Vergangenheit oder im Fall der so genannten „Oceanix Six“ - Jack, Kate, Hurley, Sayid, Sun und Aaron - in der Zukunft verankert. Was zur Folge hatte, dass Gegenwart und Zukunft parallel zueinander abliefen, wenn Jack und Co. versuchten, von der Insel zu gelangen (was, wie der Zuschauer in diesen Momenten wusste, glücken wird), andererseits Jack jedoch in den Vorblenden versuchte, seine Freunde zu einer Rückkehr zu ebenjener Insel zu bewegen.

Zwar spielte sich auch in den drei Jahren zuvor die Handlung zum Teil jenseits der Insel ab, dennoch markierte die nun etablierte Verlagerung einer Untergruppe der Überlebenden zurück in die Wirklichkeit eine neue Richtung. Gleichzeitig wurde durch die Zielsetzung, zur Insel zurück zu kehren, erneut der Schicksalsgedanke untermauert („Destiny is a fickle bitch“, sagt Ben zu Locke in Cabin Fever). Dass die Rückkehr für die Oceanic Six keine Besserung in Aussicht stellte, zeigte sich in den Vorblenden. Im Grunde nahmen alle fünf Figuren ihr altes Leben mehr oder weniger wieder auf, ohne dass sie dabei glücklich wären (allerdings auch nicht den Wunsch hegten, zurück zur Insel zu gelangen). Dass die Gruppe der Überlebenden wiederum versprengt war, wurde bereits zum Auftakt der Staffel betont, wo es unter anderem Charlies Tod war, der Figuren wie Hurley und Claire dazu bewog, mit Locke Zuflucht in den Baracken der Anderen zu suchen, während Jack, Juliet, Sayid und Desmond versuchten, die Agenda der Frachter-Mitglieder Daniel Faraday (Jeremy Davies), Frank Lapidus (Jeff Fahey), Charlotte Lewis (Rebecca Mader) und Miles Straume (Ken Leong) herauszufinden.

Besondere Spannung erzeugte die vierte Staffel, indem in The Economist offenbart wurde, dass in den Vorblenden Sayid und später auch Jack gemeinsame Sache mit ihrer Nemesis Ben machten. Aus vermeintlich drei Lagern wurden in den verbleibenden elf Folgen der Staffel (durch den Autorenstreik 2007/08 entfielen zwei Episoden) somit zwei Lager, dadurch zugleich die Gefahr durch das Frachtpersonal nicht nur für die Überlebenden, sondern gar die Insel, verstärkt und andererseits die in der zweiten Staffel aufgestellte Behauptung Bens, die Anderen seien die „Guten“, in gewisser Hinsicht untermauert. Vorsichtig wurde Ben also zum Sympathicus aufgebaut, auch, weil in The Shape of Things to Come seine Adoptivtochter Alex (Tania Raymonde) durch die Hinrichtung von Frachtermitglied Keamy (Kevin Durand) wie so viele vor ihr zum Opfer an die Insel mutierte. So wurde Ben im direkten Vergleich mit Industriemagnat Charles Widmore (Alan Dale) gleich weniger widerlich, wie auch seine vollkommene Hingabe zur Insel, die er zu deren Schutz (indem er sie in der Zeit verschob) in There’s No Place Like Home vermeintlich für immer verlassen musste, bemerkenswert war.

Von ihrem Aufbau her war die vierte Staffel ausgesprochen emotional. Es war ein Jahr der Trennungen, primär der Trennung von einem geliebten Partner. So musste Claire im Staffelauftakt den Tod von Charlie verarbeiten, während Ji Yeon auf äußerst gelungene Weise - eine Vorblende von Sun wurde mit einer Rückblende von Jin kombiniert - den Tod von Jin andeutete. Auch die Beziehungen anderer Figuren wie die Liaison von Jack und Kate in den Vorblenden oder Bens Beziehung zu Alex und der Insel selbst standen vor einer Trennung. Einen Neuanfang dagegen durfte die Figur des Michael starten, der, geplagt von seinen Morden, einen Märtyrertod für seine Freunde starb. Perrineaus Rückkehr war vorab bereits bekannt geworden (zumindest in Fankreisen) und seine Reintegration wollte letztlich nur bedingt funktionieren, da von einer moralischen Erlösung nur bedingt gesprochen werden konnte (da er bis auf Sayid und Desmond mit kaum jemand richtig interagierte) und die Frage nach seinem und Walts Schicksal eher leidlich zufriedenstellend beantwortet wurde.

Wem es dann in den vier Jahren zuvor bereits mit einer Krankheiten heilenden Insel voller Eisbären, Geistern und Rauchmonstern zu mystisch war, für den hielt die fünfte Staffel besondere Herausforderungen bereit. Hatten sich die Überlebenden zuvor bereits personell aufgespaltet, taten sie es nun auch geographisch. Dies hatte zur Folge, dass das traditionelle Schema der Insel-Haupthandlung und einer sekundären Charakterhandlung in Rück- oder Vorblende umstrukturiert wurde. Fortan verfolgte Lost in der ersten Hälfte der Staffel zwei Parallelhandlungen: Die, der auf der Insel Zurückgebliebenen, und die, der Oceanic Six, die zur Insel zurückkehren wollten. Kein einfaches Unterfangen, da durch das Bestreben von Ben nun zur körperlichen Benachteiligung der verbliebenen Überlebenden die Insel wahllos durch die Zeit sprang, ehe sie schließlich im Jahr 1977 zum Stehen kam. Jene Überlebenden wurden im letzten Staffelfinale durch die Explosion des Frachters und zu Beginn der fünften Staffel durch die Zeitsprünge praktischerweise so weit dezimiert, dass spätestens jetzt wirklich nur noch die Kerncharaktere (Locke, Sawyer, Juliet, Daniel, Jin, Miles) am Leben waren.


Ob sich Lindelof und Cuse mit der durch die Zeit reisenden Insel und der anschließenden Verlagerung des Geschehens in der zweiten Hälfte der Staffel dreißig Jahre in die Vergangenheit einen Gefallen taten, darf bezweifelt werden. Speziell die Logik der Serie stand nun auf wackeligen Beinen, wenn auch in Folgen wie Whatever Happended, Happened (Sayid versucht, Ben im Kindesalter zu erschießen, was jedoch dazu führt, dass dieser zu den Anderen übertritt) oder The Incident (Jack will den Bau der Swan-Station stoppen, damit diese 27 Jahre später nicht zum Absturz von Oceanic 815 führt) versucht wurde, das Zeitparadoxon aufrecht zu erhalten („It seems kind of wishy-washy“, stellt Hurley in The Variable fest). Die Situation bringt zwar nette Momente mit sich, wenn Jack nun in der Dharma Initiative ein einfacher Hausmeister war und Sawyer als Sicherheitschef La Fleur den Anführer der Gruppe gab oder Hurley versuchte, das Drehbuch zu The Empire Strikes Back aus dem Kopf heraus aufzuschreiben, dennoch wartete man vergebens auf eine Erklärung dafür, dass die Gruppen weiterhin getrennt blieb.

Zwar wurde der Oceanic Flug 815 so gut wie möglich nachgestellt, um die kosmischen Voraussetzungen zum Ursprungsabsturz zu schaffen, dennoch war es ein Rätsel, warum Jack, Kate und Hurley in der Vergangenheit und Sun gemeinsam mit Ben, Lapidus und Locke in der Gegenwart stecken blieb. Ein Spannungskniff, sollten doch Sun und Jin weiterhin getrennt bleiben und der alte Ben möglichst nicht mit seinem jüngeren Ich dasselbe Raum-Zeit-Kontinuum beanspruchen. Wie Hurley jedoch sagte, wurde das Lost-Universum im fünften Jahr mit Ausblick auf nur noch zwei Dutzend Episoden immer undurchsichtiger, wenn ein toter Locke, der wie Ben zuvor die Insel zu deren Schutz verließ, um Jack und Co. zur Rückkehr zu bewegen und dies mit dem Leben bezahlte, plötzlich wieder lebendig war oder jeder dem Schicksalselement folgend mit irgendwelchen anderen Figuren genetisch verbunden wurde (so war Miles natürlich der Sohn von Dr. Wickmund bzw. Pierre Chang und Faraday das Kind von Eloise Hawking und Charles Widmore, somit auch der Bruder von Penny und der Schwager von Desmond, seinem Zeitreise-Kumpel).

Langsam beschlich den Zuschauer nun also das Gefühl, dass er kaum mit Antworten auf all die Fragen rechnen durfte, die sich im Laufe der letzten Jahre angesammelt hatten. Zum Beispiel wieso die Zündung einer Nuklearwaffe dafür sorgen sollte, dass die Überlebenden von Oceanic 815 nie abstürzen würden. Denn hier findet sich erneut ein Zeitparadoxon, schließlich ist die Tatsache, dass Jack und Co. sich in 1977 befinden bereits Beweis dafür, dass die Zündung der Bombe dies nicht verhindert sondern vielmehr ausgelöst hat („It doesn't work like that. You can't change anything“, sagt Miles in Whatever Happened, Happened). Dies hat wiederum zur Folge, dass die Ereignisse der fünften Staffel zu den Ereignissen der vorangegangenen Staffeln führten. Es bleibt also fraglich, ob Jack überhaupt irgendetwas tun kann, um zu verhindern, was bereits geschehen ist oder was das betrifft, noch geschehen wird. In ihrer Darstellungsform mit Einbezug einer Atombombenzündung in der Vergangenheit wird Lost was ihren Determinismus anging somit immer übertriebener und erreichte im Vergleich zur Pilotstaffel (Überleben in seltsamer Umgebung) ungeahnte Ausmaße.

Nach dem dritten Jahr wurde Lost dann ein festes Ende gesetzt. Drei weitere Staffeln wurden produziert, ein feststehendes Finaldatum ermöglichte es, nicht mehr abzuschweifen, sondern auf ein bestimmtes Ziel hinzuschreiben. Mit dem fünften Staffelfinale The Incident begann die Serie nun, ihre eigentliche Botschaft wieder aufzugreifen. Endlich erhielt der ominöse Jacob mit Mark Pellegrino ein Gesicht und mit der gezeigten „Auserwählung“ der Hauptfiguren in deren Vergangenheit wurde zugleich das bestätigt, was ohnehin bereits seit Jahren bekannt war: Keine der (Sprech-)Rollen war zufällig auf der Insel. Auch die Hell-Dunkel-Symbolik wurde wieder aufgegriffen, indem man einem weißgekleideten Jacob in dessen Rückblende sein in schwarz gekleideter Bruder (Titus Welliver) als Nemesis zur Seite stellte. Dass Jacob so schnell wie er kam auch wieder verschwand - Ben tötet ihn im Finale -, findet seine Ursache sicherlich auch darin, dass die Figur, die für alles verantwortlich ist (und dementsprechend über die Antworten verfügte), nicht am Leben bleiben konnte, um diese Antworten weiterzugeben.

Mit der Serie auf Zielkurs und Jacob weitestgehend aus dem Weg (er erschien gelegentlich Hurley), konnte das mysteriöse Inselmassaker in seine letzten 17 Episoden gehen. Grund genug für ein neues narratives Mittel, welches die Rück- und Vorblenden vollständig ersetzte. Es spielten weiterhin zwei Handlungsstränge nebeneinander: Der Reguläre auf der Insel und eine neue Handlung, in der Oceanic 815 nie abstürzte, was von vielen Fans als Erschaffung einer alternativen Realität durch die Zündung der Nuklearwaffe in The Incident gelesen wurde. Auf der Insel wurden die Überlebenden wiederum zurück in die Zukunft katapultiert, während Juliet das Unterfangen mit ihrem Leben bezahlte. Mit den Anderen als Verbündeten, den toten Frachtermitgliedern und allen wichtigen Figuren wieder auf der Insel in der richtigen beziehungsweise selben Zeit, avancierte schließlich der wieder auferstandene Locke als Reinkarnation von Wellivers Man in Black (in Fankreisen MIB getauft) zum Hauptgegenspieler. In The Substitute wurde dem Kind explizit ein Name gegeben, als MIB Sawyer offenbarte, dass die Überlebenden Kandidaten für Jacobs Posten seien.

Abgesehen von einigem Hokuspokus um eine zurückkehrende Claire (die gegen Ende der vierten Staffel im Dschungel verschwand und im Vorjahr nicht zum Ensemble zählte) und einem von den Toten wieder auferstandenen Sayid, die nun beide innerlich verdorben waren - was genau mit beiden Figuren geschah und welche Rolle der Tempel der Anderen als Refugium und ihr Leiter Dogen (Hiroyuki Sanada) spielten, blieb, wie Vieles, unbeantwortet - ist das zentrale Handlungselement der Kampf von Team Jacob gegen das Team MIB. Zuvorderst galt es für Jack, Hurley und Jacobs rechter Hand, Richard Alpert (Nestor Carbonell), herauszufinden, wie sie MIB - oder Locke, wie ihn die Gruppe der Einfachheit halber nennt - daran hindern konnten, die Insel zu verlassen und somit nicht nur diese, sondern den gesamten Planeten zu zerstören (denn laut Ab Aeterno war die Insel der Korken, der das Böse vor der Welt bewahrt). Ein Unterfangen, das erforderte, dass Locke entweder alle Kandidaten ausschaltete beziehungsweise, wie bei Sawyer der Fall, auf seine Seite zog, oder dass die Kandidaten herausfanden, wer von ihnen Jacobs Nachfolger war, um Locke zu stoppen.

Weitaus interessanter als die Weiterführung des Zählreimprinzips auf der Insel war dagegen das Geschehen in der vermeintlichen alternativen Realität, in der erneut das „Six Degrees of Separation“-Prinzip griff. So war Ben ein Englischlehrer an der High School von Alex und Jack und Juliet haben einen Sohn aus einer gemeinsamen, aber inzwischen geschiedenen Ehe, während Sawyer gemeinsam mit Miles bei der Polizei arbeitete und Desmond die rechte Hand in der Firma von Charles Widmore war. Doch nicht alle hatten ein neues Leben erhalten, war Kate schließlich weiterhin eine FBI-Flüchtige und Locke querschnittsgelähmt. So wurde relativ schnell klar (allein durch Sawyers neues Polizisten-Dasein), dass die Zündung der Bombe in The Incident nicht für diese Realität verantwortlich sein konnte, sondern diese Realität losgelöst von den Ereignissen der fünften Staffel existierte (man erinnere sich an die TV-Serie Sliders). Immerhin hielt die alternative Realität für viele Fans die Möglichkeit parat, dass auch jene, die gestorben waren, am Ende glücklich enden würden, indem durch die Zerstörung der bisher bekannten Dimension, jeder weiterhin glücklich in der anderen leben konnte.

Zumindest bis zum Serienfinale, indem - erneut auf sehr selbstironische Weise - die alternative Realität in Wirklichkeit als Limbus entlarvt wurde, als jenes Szenario also, für das Viele stets die Serienhandlung allgemein ausgemacht hatten. Losgelöst von dem etwas dick aufgetragenen christlich-religiösen mumbo-jumbo war The End gerade in ihrer Sekundärhandlung ausgesprochen bewegend und epochal geraten. Zwar verfügte sie über einige Schwächen - wie die Wahl, dass Sayid lieber mit Shannon denn mit Nadia im Jenseits vereint sein wollte oder ebenso, Claire ihre dreimonatige Romanze mit Charlie als Liebe ihres Lebens ausgemacht zu haben schien, während Walt beispielsweise ganz fehlt - bildete aber grundsätzlich eine berührende Wiedervereinigung jener Figuren, die man über die Jahre liebgewonnen hatte. Wenn sich die verlorenen „Seelenpartner“ (besonders bewegend: Aarons Geburt und die daraus resultierende Wiedererkennung von Claire und Charlie) aneinander erinnerten - oder im Falle von Ana Lucias Cameo, nicht - spielt Lost die Emotionsklaviatur mit Bravur. Dass am Ende mehr Fragen wie Antworten blieben, rückte in den Hintergrund.   

Die Serienmythologie frustrierte natürlich. Die Insel war ein Korken, der das ultimative Böse dort behielt, wo es bleiben sollte. Und die behütet werden musste, was wiederum zur Handlung von Lost führte. Eine Reihe von Figuren, die ohne Motivation lebten, denen es an einer Bestimmung fehlte. Die meisten Charaktere verloren ihr Leben, die wenigsten von ihnen, um wirklich die Insel zu schützen (z.B. Boone, Libby, Shannon, in gewisser Hinsicht auch Sun und Jin in The Candidate). Zwar versuchten Folgen wie Ab Aeterno und Across the Sea Antworten zu geben, schafften dies jedoch nur bedingt. So waren die Geister Seelen, die noch nicht bereit fürs Jenseits sind. Egal ob Michael, der sich zwar durch seinen Heldentod in der vierten Staffel rehabilitiert zu haben schien, oder Isabella, jene alte Liebe von Richard, die eines natürlichen Todes starb. Sie sind es auch, die für die Flüsterstimmen verantwortlich waren, die unter anderem dazu führten, dass Ana Lucia versehentlich Shannon erschoss. Während das Rauchmonster nur das zweite Wesen von MIB war, nachdem sein Bruder ihn ermordet und hinunter in das Licht des Lebens warf.

Dies erklärte zwar nicht, warum das Monster auf Bens Kommando in den Baracken der Anderen erschien, als dieser es rief, wieso es Sonarzäune zurückhielten, es in die Seelen respektive Vergangenheit anderer Menschen blicken und die Gestalt von Verstorbenen annehmen konnte, das Aussehen von Locke anschließend jedoch nicht mehr loswurde. Wer Antworten darauf haben wollte, was und wo die „magic box“ war, die Anthony Cooper auf die Insel brachte, wer Sayid von den Toten wiedererweckte und warum er anschließend innerlich dennoch tot war, was Figuren wie Ana Lucia und Mr. Eko disqualifizierte, gemeinsam mit den Anderen ins Jenseits einzuziehen (außer finanzielle Unstimmigkeiten mit dem Darsteller) oder warum Desmond ideal war, elektromagnetischen Impulsen zu widerstehen, die daraufhin sein Bewusstsein durch die Zeit und sogar ins Jenseits befördern konnten, und Walt über übersinnliche Kräfte verfügte, der war bei Lost schlussendlich an der falschen Adresse. Denn obschon die Serie von Anfang an mit diesen mysteriösen Elementen kokettierte und sich ihrer bediente, war Lost am Ende weniger eine Mystery-, denn eine Charakterserie.   

Eine Serie voller Liebesgeschichten, von denen Desmonds und Pennys sicherlich jene Beziehung war, deren Schicksal am meisten bewegte. Eine Serie über Eltern, die von ihren Kindern getrennt waren. Und wenn es einen Zuschauer bedrückt, dass beispielsweise Jin nie seine Tochter sehen durfte und stattdessen an der Seite seiner Frau den Tod wählte, dann kann eine Serie trotz dutzender offener Fragen wenig falsch gemacht haben. Man freute sich mit den Figuren, wenn sie einander in den Armen hielten, man fühlte mit ihnen, wenn eine nach der anderen starb. Egal ob Boone, Ana Lucia, Libby, Charlie, Eko, Rosseau, Alex, Locke, Juliet, Sayid, Jin, Sun und Jack - man hatte mit ihnen gelitten, mit ihnen gehangen. Nicht, weil sie einen Flugzeugabsturz überlebten, als dessen Passagiere sie von einem unsterblichen Beschützer einer mysteriösen Insel ausgewählt wurden, sondern um ihrer selbst willen. So wirkte die Identität der Insel, das Wieso, Weshalb und Warum, letztlich eher wie eine Bürde, ein vielversprechend verpacktes Geschenk, von dessen Inhalt man hinterher enttäuscht war, nachdem man es den ganzen Abend unter dem Weihnachtsbaum begutachtet hatte.

Am Ende war Lost eine im Wortsinn herausragende Serie der bisherigen Fernsehgeschichte. Nicht nur wegen der Fankultur, die sie nach sich gezogen hatte. Dass man sich der Serie derart bereitwillig hingegeben hat, lag natürlich an den vielen Fragen, Geheimnissen und Figuren, die sie bevölkerten. Ein brillantes Forum für gerade zu Beginn zumeist brillante Geschichten. Speziell die zweite Staffel bildet hier das Nonplusultra, wenn die Querverbindungen der Figuren untereinander, sowie die Thematik um die Dharma Initiative und Anderen an Gestalt gewann (auch wenn sie in der dritten Staffel nicht entsprechend zu Ende geführt werden konnte). Dass die diese Besprechung abschließenden Wertungen vielleicht verhältnismäßig niedrig ausfallen, ist der Mehrfachsichtung gerade der ersten beiden Staffeln geschuldet. Denn Lost ist eine Serie, die am besten in der ersten Sichtung funktioniert, wenn für den Zuschauer selbst das Gesehen noch neu und das Unbekannte auch tatsächlich unbekannt ist. Dennoch hat die Serie ihren Platz gefunden, beim Zuschauer wie in der Geschichte. In diesem Sinne: Remember… and let go.


Lost - Season One: 8/10
Lost - Season Two: 8.5/10
Lost - Season Three: 8/10
Lost - Season Four: 8/10
Lost - Season Five: 8/10
Lost - Season Six: 7.5/10

22. November 2010

Exit Through the Gift Shop

Taking vandalism in an entirely new direction.

„Kunst ist sehr schnell, weil jede Kunstform, kaum bekannt gemacht, in einer Woche wieder altmodisch ist“, hat Andy Warhol gesagt. Für kaum eine Kunstform könnte dieses Zitat wohl so zutreffen wie auf Streetart. “Street art has a short life span so it needed documenting“, erklärt der britische Streetart-Künstler Banksy in seinem Debütfilm Exit Through the Gift Shop. Eine Dokumentation, die in ihren Ursprüngen als sinnloses Abfilmen eines Exil-Franzosen in Los Angeles begann und sich später zum Ziel setzte, mit Banksy das große Phänomen einer Untergrundszene abzulichten. Oder anders gesagt: Eine brillante Mockumentary, in der sich ein Künstler via Mise en abyme selbst inszeniert und zugleich einem Massenpublikum “authentic insight of the birth of a movement“ verschafft.

Mittel zum Zweck ist der Franzose Thierry Guetta, der in den neunziger Jahren in die USA auswanderte und dort anfing, seinen Alltag aufzuzeichnen, nachdem ihm als Kind die Mutter starb. Per Zufall traf er bei einem Heimaturlaub 1999 auf das künstlerische Schaffen seines Cousins, der niemand Geringeres sein soll als der Streetartist Invader. Mit der Kamera folgt ihm Thierry, fasst früh die Intention von Streetart zusammen, wenn er sagt: “You want to express yourself and put [the art] outside so people can see it“. Zudem gesteht Thierry, dass ihm die den Aktionen innewohnende Gefahr gefällt. Bald ist Invader nicht mehr genug und so kommt es zum Kontakt mit Künstler Shepard Fairey, der auch für das berühmte „Hope“-Plakat von Barack Obama verantwortlich war.

Auf Fairey folgen weitere Künstler wie Monsieur André, Zeus, Seizer, Borf, Swoon und andere, die Thierry bei ihren nächtlichen Ausflügen begleitet, um ihre Arbeiten - und mit ihnen “the biggest counter-cultural movement since punk“, so Erzähler Rhys Ifans - mit seiner Kamera zu dokumentieren. Während alle, insbesondere Fairey, in dem Glauben gelassen werden, dass Thierry eine Dokumentation über Streetart dreht, ist die Wahrheit, dass dieser einfach weiterhin alles ohne wirkliche Hintergedanken abfilmt. Obschon er keinen fertigen Film plant, wünscht Thierry sich dennoch, für diesen den mysteriösen Banksy vor die Kamera zu kriegen. Was natürlich über kurz oder lang gelingt, und mit Banksy erhält Thierry Einzug in eine Welt, die er später selbst bewohnen soll.

Ob der Film nun docu- oder mockumentary (Jeannette Catsoulis nannte ihn in der New York Times eine “prankumentary“) ist, bleibt dem Urteil des Zuschauers überlassen. Grundsätzlich ist Banksys Debütfilm jedoch weniger Dokument über Thierry Guetta respektive Mr. Brainwash, zu dem er am Ende verkommt, sondern bleibt durchweg der Versuch, einem Milieufremden Publikum eine neue Kunstbewegung nahe zu bringen. Und indem der Film die Geschichte von Thierry erzählt (den man nie künstlerisch arbeiten sieht und der in einer Szene sogar von einem seiner Bilder ablesen muss, was dieses eigentlich darstellen soll), präsentiert er uns wahrscheinlich doch mehr Einblicke nicht nur in das Schaffen des gesichtslosen Banksy, sondern auch in dessen eigenes Selbstverständnis.

Wenn Banksy plötzlich in Kunstsammlungen neben Roy Lichtenstein, Keith Haring und Andy Warhol auftaucht, wenn seine Werke in Auktionshäusern für eine halbe Million Dollar verkauft werden, dann ist die Feststellung von Mr. Brainwash (“It’s like being an artist overnight“) möglicherweise lediglich die Feststellung von Banksy selbst. Und Exit Through the Gift Shop mehr eine eigene mediale Dekonstruktion denn wirkliche Dokumentation, wenn sich Banksys Resümee “Maybe it means it’s a bit of a joke“ nicht nur auf die Intention seines Filmes sondern auch auf sein eigenes Standing innerhalb der Kunstszene münzen lässt. Oder wie es Banksy mit seinem Zitat für die „Life is beautiful“-Ausstellung von Mr. Brainwash ausdrückte: “It’s a phenomenon. And I don’t mean that in a good way“.

Zuträglich ist hierbei natürlich, dass Banksy ein Pseudonym ist. Ein gesichtsloser Künstler, dessen Stimme zudem noch verzerrt wird. Was viel Interpretationsspielraum lässt, beispielsweise, dass Guetta selbst Banksy ist oder dass Banksy letztlich auch mehrere Personen sein können. Ein Phantom und “maybe a bit of a joke“ einiger Streetartists, die verwundert feststellen, dass das, was manche Vandalismus schimpfen, bei anderen neben Picasso und Co. gehängt wird. Insofern ist Banksy inzwischen auch Marke und wenn zu seiner „Barely Legal“-Ausstellung Stars wie Jude Law oder Brangelina erscheinen, darf man sich die Frage stellen, ob Banksy hier von deren Anwesenheit profitiert oder ob nicht vielmehr die Schauspieler davon profitieren, auf seiner Vernissage gewesen zu sein.

Was den Film auszeichnet, ist die Tatsache, dass er es nicht versäumt, tatsächlich authentische Einblicke zu liefern und sich zugleich als narrativ-stringentes Gesamtpaket zu verkaufen. Die Kamera begleitet Banksy bei einigen seiner Arbeitsprozesse und rückt auch andere Künstler ins Licht. Als roter Faden funktioniert Thierry in seiner liebenswürdigen Art (“I don't know how to play chess, but to me, life is like a game of chess“), der später seine Werke auf dieselbe Weise verkauft, wie zuvor die Klamotten in seinem Fashion-Laden (billig ein- und teuer als Sonderstück verkaufen), bestens, verdankt es sich doch primär seinem Schauspiel, dass die Illusion, Exit Through the Gift Shop könnte eine Dokumentation sein, aufrecht erhalten wird. It’s a phenomenon. And I mean that in a good way.

8.5/10

19. November 2010

South Park - Season Fourteen

What’s up with that?

Auf diesem Blog werden ja gerne Serien-Analogien gepflegt. Um mal eine Neue zu bedienen: Serien sind wie… Beziehungen. Wenn sie gut laufen, erachtet man sie als selbstverständlich und irgendwann merkt man zu spät, dass sie beginnen, in eine Sackgasse zu laufen. In den vergangenen Jahren war South Park, ähnlich wie The Office, Serientechnisch der Fels in der Brandung. Ein konstant gutes Niveau wurde Jahr um Jahr aufrecht erhalten. Bis zur 13. Staffel im Vorjahr, die plötzlich einbrach. Etwas lief schief und dies schien auch Matt Stone und Trey Parker aufzufallen, kam die 14. Staffel doch erstaunlich stark zurück. Es gab treffende, passende und vielleicht in dieser überhypten Gesellschaft auch notwendige pop-kulturelle Seitenhiebe. Doch eine Doppelfolge sowie eine Folgentrilogie sollte der Staffel einen Strich durch die Rechnung machen.

Welchen qualitativen Spagat South Park dieses Jahr unternahm, ist beachtlich. Öffnete die Staffel sehr gelungen mit Sexual Healing und der Aufgreifung der Affären Tiger Woods’ sowie der Sexsucht anderer Prominenter, kombinierte die zweite Episode The Tales of Scrotie McBoogerballs den gewohnt pubertären Humor der Serienmacher mit einer gefälligen Gegenkritik an der Popkulturkritik. Besonders das Bohei um J.D. Salingers The Catcher in the Rye wurde hierbei in Erinnerung gerufen, während sich Medicinal Fried Chicken der Tatsache widmete, dass Marihuana in den USA zwar illegal ist, aber aus medizinischen Gründen verschrieben werden darf. Nach den ersten drei Folgen glaubt man die Serie in den guten alten Zeiten zu wissen, erscheint doch alles, wie in der Hochphase der Beziehung. Besonders als der Höhepunkt der Staffel folgt.

Sehr voraus denkend beschäftigt sich You Have 0 Friends mit der Unsinnigkeit „Facebook“, der inzwischen 500 Millionen Menschen verfallen sind und die dieses Jahr eine Kinoauswertung erfahren hat. Ähnlich wie zuvor schon Make Love, Not Warcraft rufen Parker und Stone den Suchtfaktor des sozialen Netzwerkes in Erinnerung, um gleichzeitig die Idiotie des gesamten Systems zu karikieren. Wenn Stan am Ende der Folge zu dem Urteil kommt: „Fuck Facebook, seriously“, ist das wohl die wahrste Aussage, die sich 2010 angesichts von The Social Network (und dessen mehr als wahrscheinliche Auszeichnungen bei den kommenden Oscars) treffen lässt. Umso bedauerlicher, dass nach dieser herausragenden Folge mit den Jubiläumsfolgen zur 200. produzierten Episode (simpel 200 und 201 genannt) ein Teufelskreis eingeläutet wurde.

Fiel die 200. Folge 200 noch annehmbar aus, avancierte 201 eine Woche später mit zu den schlechtesten Episoden, die die Serie je gesehen hatte. Überbordend mit Nebenhandlungen (u.a. Cartmans Vater, Tom Cruise, Terrorismus) verlor sich die Folge in ungewollter Lächerlichkeit, die auch durch Alan-Moore-Zitate nicht gerettet werden konnte. Umso erfreulicher der Übergang in den Sommer-Hiatus mit Crippled Summer und der Catchphrase der Staffel schlechthin („Mimsyyyy!“). Zwar startete die Serie im Oktober eher durchwachsen mit der NASCAR-Persiflage Poor and Stupid, doch ließen schon die anschließenden Folgen wie zuvor der Start in die 14. Staffel die vorherigen Tiefpunkte vergessen. Nur um dann innerhalb eines (Halb-)Jahres denselben Fehler erneut zu machen.

Die Sehgewohnheiten des Zuschauers wurden in der zweiten Hälfte der Staffel angegriffen: Zuerst in der amüsanten Folge It’s a Jersey Thing Reality-Shows wie Jersey Shore und The Real Housewives of New Jersey, im Staffelfinale Crème fraiche die inzwischen omnipräsenten Kochshows rund um Jamie Oliver und Co., sowie wohl am ehrlichsten und akkuratesten der Filmhype rund um Inception in Insheeption. Während sich darin mit Mr. Mackey einer der Randfiguren gewidmet wird, holen Stone und Parker zugleich zum Rundumschlag (wenn auch inspiriert durch CollegeHumor) gegen einen der meistüberschätzten Filme aller Zeiten aus („It’s so complex and cool.“). Während It’s a Jersey Thing und Insheeption nicht an die vier Auftaktfolgen der Staffel herankommen, stechen sie dennoch problemlos aus den letzten sieben Folgen des 14. Jahres heraus.

Mit Coon 2: Hindsight, erhielt die Vorjahresfolge The Coon dann ein Sequel und war selbst nur der Auftakt für die darauffolgenden Episoden Mysterion Rises (der Titel ein zeitnaher Seitenhieb auf Nolans drittes Batman-Abenteuer) und Coon vs. Coon and Friends. Weder vermochte die Trilogie durch ihren Comic-Charakter so zu überzeugen, wie es bei The Coon noch mit Abstrichen der Fall war, noch schaffte sie es, die Fehler von 200 und 201 zu vermeiden. Auch die Trilogie kämpft mit ihrer vielen Nebenhandlungen wie dem Ölleck von BP, später dann aber auch Kennys scheinbare Unsterblichkeit oder die H.P. Lovecraft Figur Cthulhu. So reihen sich Coon 2: Hindsight und Mysterion Rises neben 201 zu den wohl drei schlechtesten Episoden in der South Park-Seriengeschichte, während zumindest Coon vs. Coon and Friends noch einige nette Momente hat.

Dass die 14. Staffel insgesamt also als bisher Schlechteste nach fast anderthalb Jahrzehnten dasteht, ist speziell diesen drei katastrophalen Folgen geschuldet, die eine ansonsten leicht überdurchschnittliche Staffel brachial nach unten ziehen. Dennoch zeigen gerade You Have 0 Friends und The Tale of Scrotie McBoogerballs, dass eine Serie wie South Park nicht nur brillante Satire sein kann, sondern dass in dieser Lemming-Gesellschaft Formate wie die kleine fiktive Stadt in Nevada zwingend notwendig sind. Dass eine Beziehung nach 14 Jahren nicht mehr so funktioniert, wie Jahre zuvor, ist kein Geheimnis. Wie jede gute Beziehung bedarf es auch in der Serienlandschaft der kontinuierlichen Arbeit am eigenen Produkt. Denn um cool zu gelten, muss etwas nicht wie Inception (pseudo-)komplex sein. Es langt schon, wenn es durchdacht ist.

6/10

17. November 2010

Aruitemo aruitemo

Can’t you call your mom once in a while?

Eine Kleinfamilie sitzt in einer Straßenbahn. Sie, Yukari (Yui Natsukawa), trägt ein friedlich-freundliches Lächeln auf ihren Lippen. Er, Ryota (Hiroshi Abe), blickt mürrisch drein, als müsse er zum Zahnarzt. Die Reise führt aus der Großstadt zu einem Familientreffen. Die ersten Bilder von Kore-eda Hirokazus Film suggerieren fast, dass es hier gilt, Yukaris Familie zu besuchen. Doch Ryotas Abneigung richtet sich gegen die eigenen Erzeuger. Ob man nicht absagen könne? Eine Ausrede einfallen lassen? Wenigstens am selben Abend wieder heimfahren? Doch Yukari lehnt ab. Man wird über Nacht bleiben. Am Ende wird vermutlich auch sie diese Entscheidung bereuen.

Jährlich „zelebrieren“ die Yokoyamas den Heldentod von Junpei, Ryotas Bruder, der einst einem Kind am Strand das Leben rettete, aber dabei verstarb. Wie genau Junpei ums Leben kam, erzählt Kore-eda nicht und an sich ist es auch von sekundärer Natur. Im Vordergrund steht die Trauerfeier, bei der witzige Anekdoten erzählt werden, in denen die Eltern, Shohei und Toshiko, stets die Rollen zwischen Junpei und Ryota so vertauschen, dass der verstorbene Sohn besser wegkommt. Sehr zum missfallen Ryotas, der unter der Bürde leidet, es seinen Eltern nicht recht machen zu können. Als Kind wollte er Arzt werden, so wie sein Vater. Letztlich ist er es nicht geworden.

Auch dieser Grund ist von sekundärer Natur. Stattdessen ist Ryota arbeitslos, verschweigt dies jedoch und gibt sich dafür als Restaurateur aus. Was ihm auch nicht gerade den Respekt des Vaters einbringt, der durchklingen lässt, dass er anstelle von Junpei durchaus auf andere Menschen in seinem Leben hätte verzichten können. Insbesondere auf den Jungen, dem Junpei damals das Leben rettete, und der von Toshiko jährlich zur Trauerfeier eingeladen wird, damit sie ihn mit seinen Schuldgefühlen plagen kann. Übergewichtig hangelt er sich von Praktikum zu Praktikum und ist aufgrund der Trauerfeier so nervös, dass er sein Hemd und obendrein den Boden vollschwitzt.

Das Urteil ist – wie vermutlich jedes Jahr – gefällt: Dafür hätte Junpei wahrlich nicht sterben müssen. Lediglich Ryota bäumt sich auf, erkennt den Druck der Erwartungshaltung, weiß um die Enttäuschung in den Augen seiner Eltern. In Aruitemo aruitemo präsentiert Kore-eda eine Familie, die eigentlich kaum etwas vereint, außer den toten Sohn beziehungsweise den toten Bruder. Chinami (You), Ryotas Schwester, bietet an, mit ihrem Mann und den zwei Kindern zu den Eltern zu ziehen. Schließlich wird Toshiko nicht jünger und Shohei ist am grauen Star erkrankt. Erwünscht ist das jedoch nicht, war Toshiko doch bereits der nachmittägliche Besuch zuviel des Guten.

Das Verhältnis zu Ryota und Yukari ist nicht viel besser, kritisieren es doch sowohl Toshiko als auch Shohei, dass der Sohn „beschädigte Ware“ gekauft hat– denn Yukari ist Witwe. Die guten Manieren werden dann, wie es sich fürs Genre gehört, am Esstisch fallen gelassen. Hier wird geäußert, was sich an Frust und emotionalem Ballast angesammelt hat. Dass es dabei nicht zu Dialogen, sondern aneinandergereihten Monologen kommt, passt ins Bild der Familie Yokoyama. So gefällig Kore-eda die gestörten Beziehungen der Yokoyamas skizziert, so gehaltlos ist sein Drama jedoch unterm Strich auch. Daher verwundert es nicht, dass der Film ohne vollendete Katharsis endet.

Oberflächlich betrachtet funktioniert Aruitemo aruitemo sehr gut, nur dass Kore-eda wenig über die Charaktere preisgibt, verbaut ihm ein gelungeneres Gesamtbild. Schließlich wäre es interessant gewesen, zu erfahren, warum Ryota nicht mehr Arzt werden wollte oder wieso sich Shohei so abfällig gegenüber seinem Sohn und auch seiner eigenen Frau benimmt. Zwar kann alles irgendwie auf Junpeis Tod abgewälzt werden, doch erfährt man über diesen dafür nicht genug, als dass es sich vollends nachvollziehen ließe. Dennoch ist Kore-eda ein überzeugendes Charakterdrama gelungen, in dem das Schauspielerensemble, speziell Kiki Kirin (Toshiko), heraussticht.

7.5/10

14. November 2010

Harry Potter and the Deathly Hallows: Part I

I thought you knew what you had signed up for?

Es fing alles mit einem 216 Seiten starken Roman vor neun Jahren an. Harry Potter and the Philosopher’s Stone avancierte zum überraschenden Belletristikerfolg und sollte seine Autorin, Joanne K. Rowling, zur zweitreichsten Frau im Britischen Königreich nach Queen Elizabeth II. machen. Mit dem Erfolg stieg vermutlich auch Rowlings Selbstsicherheit, wurden ihre Nachfolgeromane im Folgenden nicht nur immer dicker, sondern beanspruchte das vierte Buch Harry Potter and the Goblet of Fire gar doppelt so viele Seiten wie sein Vorgänger Harry Potter and the Prisoner of Azkaban. Dass eine derartig erfolgreiche Romanreihe, speziell in der an Kinder orientierten Literatur, nicht umhin kommt, fürs Kino adaptiert zu werden, ist verständlich. Wo es Chris Columbus mit seinen ersten beiden Verfilmungen gelang, nahezu jede Seite getreu abzufilmen, war klar, dass dies spätestens ab dem vierten Band nicht mehr möglich sein würde. Was läge also näher, als das große Finale, Harry Potter and the Deathly Hallows, ob der Handlungsfülle auf zwei Filme aufzuteilen?

Denn es muss viel erzählt werden, nicht nur das, was Rowling in ihren siebten Roman niederschrieb, sondern auch all die Details, die in den Vorgängerfilmen ausgelassen wurden und die nun entweder doch wichtig oder zumindest nicht ohne weiteres auslassen werden können. So lernt das Publikum zu Beginn des Filmes einen zerknirscht dreinblickenden Rufus Scrimgeour (Bill Nighy) kennen, seines Zeichens Minister of Magic, doch erfährt man dies erst jetzt, obschon er den Posten bereits länger inne hat. Scrimgeour tauchte vermutlich deshalb nicht in Harry Potter and the Half-Blood Prince auf, weil er eine verzichtbare Figur ist. Was man nicht zuletzt durch ihre Anwesenheit im siebten Film merkt, die nicht der Rede wert ist, da sie nicht die Funktion ausfüllen kann, die ihr eigentlich gebührt. Nighys Figur kommt aus dem Nichts und verschwindet alsbald in dieses, ohne wirklich von Mehrwert gewesen zu sein. Der Grund warum Drehbuchautor Steve Kloves sie überhaupt einführt, findet sich in einem kleinen Detail, das zuvor unwichtig war, dessen es nun aber bedarf.

Ein Malus, der den gesamten Film durchzieht und diesen, obschon er sich bemüht, die Vorlage getreu abzufilmen, letztlich in seiner Essenz scheitern lässt. Denn Rowling ließ es sich nicht nehmen, zum Abschluss ihrer Geschichte eine Nummern-Revue zu installieren. Viel wird aus den vergangenen Abenteuern wieder aufgegriffen und avanciert zur Etappe auf dem Weg ins Ziel. Nur tauchte dies in den Filmen meist nicht auf. Als Harry Potter (Daniel Radcliffe) zu Beginn ein letztes Mal in ein Versteck transportiert werden muss, führt Regisseur David Yates mit Bill (Domhnall Gleeson) einen weiteren Weasley ein. Die linke Gesichtshälfte ist etwas vernarbt, mit Dank an den Werwolf Fenrir Greyback. Daneben steht Fleur Delaceur (Clémence Poésy), jene französische Schülerin, die im vierten Film beim Triwizard Tournament teilnahm und nun mit Bill verlobt ist. Ein Fakt, der wie das Selbstverständlichste auf der Welt in die Handlung integriert wird, da Kloves, Yates und Co. vermutlich voraussetzen, dass ohnehin jeder die Romane als Komplementärwerke gelesen hat.

Bill und Fleur, deren Beziehung wie Scrimgeour im sechsten Band eingeführt wurde und die - zugegeben - für dessen Handlung auch unerheblich waren, helfen nun, die finale Geschichte in Schwung zu bringen. Wie auch Scrimgeour, der Harry und seinen Freunden Ron Weasley (Rupert Grint) und Hermione Granger (Emma Watson) später die Nachlassenschaft des im Vorgänger ermordeten Professor Dumbledore (Michael Gambon) hinterlässt. Am Problematischsten ist wahrscheinlich noch eine Scherbe, in die Harry bisweilen blickt und die ihm später hilfreich sein soll, von der der Romanunkundige jedoch keine Ahnung hat, um was es sich handelt und woher es kommt. Es sind Dinge wie jener Spiegel, den Harrys Patenonkel Sirius (Gary Oldman) ihm in Harry Potter and the Order of the Phoenix gab, die bei der Adaption jenes Bandes verzichtenswert erschienen und sich nun rächen sollten. Denn wie keiner seiner Vorgänger zuvor macht Harry Potter and the Deathly Hallows: Part I deutlich: Wer die Bücher nicht kennt, der hat leider Pech gehabt.

Alle anderen dürften sich an den zahlreichen inhaltlichen Anschlussfehlern amüsieren, die Kloves bei seinem Versuch begeht, die Vorlage in ein möglichst actionreiches Road-Movie zu verwandeln. Denn was nicht in einem Satz mal eben abgehakt wird, quetscht Kloves in gehetzter Dramaturgie in andere Stellen hinein. So verkommt die Monatelange Suche von Harry, Hermione und Ron nach dem Vermächtnis von Dumbledore, der im Vorgänger eingeführten Horcruxe von Lord Voldemort (Ralph Fiennes), zum schnelllebigen Happening. Wer an der falschen Stelle aufsteht, um aufs Klo zu gehen und nochmals Popcorn zu holen, wird verwundert feststellen, dass das Trio bereits die eine oder andere Etappe abgearbeitet hat. Zwar bemüht sich der Film, die aufkommende Anspannung zwischen den Gruppenmitgliedern hier und da einzufangen, doch sind diese Momente so rar gesät, um die Dramaturgie nicht zu gefährden, dass sie eigentlich verpuffen. Dabei entsteht die wirkliche Dramaturgie gerade in den Momenten, denen sich der Film verweigert.

“These are dark times“, lauten die ersten Worte von Scrimgeour, die sich zum nicht eingehaltenen Versprechen entwickeln. Zwar versucht Yates gerade im Zaubereiministerium ein Flair vom Dritten Reich und der Judenverfolgung zu beschwören, wenn uniformierte Zauberer mit roter Armbinde Verdächtige abführen, deren Blutreinheitsstatus in Frage gestellt wird, doch reichen einige Nazi-Referenzen nicht aus, um eine Endzeitstimmung zu beschwören. Denn Harry Potter and the Deathly Hallows: Part I ist ein weitestgehend blutfreies Spektakel. In einer Szene wandern die drei Freunde durch trostlose und teils zerstörte Landschaften, mit Radiomeldungen von Gefallenen, doch revidiert dies nicht die unbeständige Atmosphäre von Unpersönlichkeit. Es sind irgendwelche Namen, die hier zum Opfer fallen, nicht jene, die den Figuren bekannt sind. Für emotionale Tiefe ist keine Zeit, nicht einmal in den Szenen der Hauptfiguren. Besonders zu leiden hat hier das nicht unkomplizierte (geschweige denn: unwichtige) Verhältnis von Harry zu Dumbledore.

Dessen Tod ist für die Figur ebenso eine Marginalie wie das Ableben von Sirius im Vorgänger. Auch Ginny (Bonnie Wright), Rons Schwester und Harrys Liebe, wird zu jener Randfigur, die sie bereits im sechsten Film gewesen ist. Dafür, dass die Serie „Harry Potter and…“ heißt, schafft es Yates wie in kaum einem der anderen Filme zuvor, das Innenleben seiner Hauptfigur auszuklammern. All das, was für diese wichtig ist, wird im siebten Film nahezu negiert. Dass die Gefühlswelt der Figuren hinten ansteht wäre dann akzeptabel, würde sich der Film in seiner Fortschreitung der wichtigen Etappen nicht unentwegt selbst in seiner Kontinuität und Authentizität ein Bein stellen. Zwar haben es die Verantwortlichen nicht leicht gehabt, lässt sich schwerlich etwas aus dem Roman streichen, ohne dass ein ganzes Kapitel umgeschrieben werden müsste, dennoch ist das fertige Ergebnis weitaus weniger gelungen und hinnehmbar, als zuvor in Harry Potter and the Half-Blood Prince, gegenüber welchem der jüngste Film dann auch in anderer Hinsicht einen Rückschritt darstellt.

Ohne Zweifel wird das Drama wohl nicht mehr das Genre eines Daniel Radcliffe, zeigt er sich doch wie bereits in den Vorgängern erneut mit den ernsten und emotionalen Szenen überfordert (was inzwischen auch sein Alter nicht mehr entschuldigt), während es die humorvollen Momente sind, in denen er aufblüht. Des Weiteren werden dann auch misslungene Ensembleentscheidungen fortgeführt, wenn Bill Nighy als Scrimgeour und Rhys Ifans als Xenophilius Lovegood sicher auch von Seiten der Regie wie bereits Gambon seinen Dumbledore oder Jim Broadbent den Potions-Professor Horace Slughorn mit Effizienz gegen die Wand spielen. Vom Besetzungsverbrechen der Helena Bonham Carter ganz zu schweigen. Es ist somit wie so oft Emma Watson, die mit couragiertem Spiel - und bisweilen unterstützt von Rupert Grint - für schauspielerische Glanzlichter sorgt, zu deren Aufleuchten auch Alan Rickmans Severus Snape und Imelda Stauntons Dolores Umbridge beitragen, obschon Letztere bedauerlicherweise nur wenige Minuten Spielzeit gewährt bekommen.

Dabei ist nicht alles schlecht an Harry Potter and the Deathly Hallows: Part I. Insbesondere die dem Road-Movie-Aspekt der Handlung innewohnenden Landschaftsaufnahmen begeistern, während auch Alexandre Desplats Musik gefällt. Und zumindest in Ansätzen sind die einzelnen Szenen überzeugend gestaltet, sei es der Beginn von Harrys Flucht inmitten des Ablenkungsmanövers des Phönix-Ordens oder das Aufeinandertreffen mit zwei Death Eater nach dem abrupten Ende von Bill und Fleurs Hochzeit. Ein kleines Highlight stellt dann die zwar extrem abgehastet eingeführte, aber dann speziell dank der verwandelten Alter Egos von Harry, Hermione und Ron (David O’Hara, Steffan Rhodri, Sophie Thompson) amüsante Zaubereiministeriumsszene dar. Wie gelungen die Szene geworden ist, sieht man in Anbetracht der gehetzten (und schlecht erzählten) Folgeszenen in Godric’s Hollow sowie auf dem Malfoy Grundstück. Dass der Film eher enttäuschend ausfällt, liegt somit weniger an der beeindruckenden Szenerie, sondern an Kloves’ mangelhafter Adaption.

Hinzu kommen Szenen, derer es nicht unbedingt bedurft hätte, von denen jedoch die graphische Illustration der Tale of the Three Brothers - und somit der Titelgebenden “Deathly Hallows“ - noch die Annehmbarste ist. Andere Einstellungen wie das Stoppen des Hogwarts Express zur Überprüfung, ob Harry anwesend ist (die Frage, warum Harry zurück nach Hogwarts sollte, das inzwischen unter der Kontrolle von Severus Snape ist, stellt sich den Death Eater scheinbar gar nicht), nur um in einer einzigen kurzen Totale bekannte Gesichter von Cormac McLaggen über Lavender Brown bis hin zu Cho Chang zu präsentieren, oder eine auflockernde Tanzszene zwischen Harry und Hermione sind zwar nett gemeint, allerdings vollkommen unerheblich für die Erzählung der ohnehin überlangen Geschichte. Andere Momente wie ein kurzer Kuss zwischen Ginny und Harry vor der Hochzeit von Bill und Fleur dagegen sind wohl nur da, um den Zuschauer daran zu erinnern, dass da noch was ist, auch wenn es - bis zum Epilog im achten Film - ab sofort nicht mehr thematisiert wird.

Dass Yates und Kloves trotz ihrer gehetzten Art dramaturgisch spannende Szenen, die meist Lord Voldemort betreffen, aussparen oder zumindest abschwächen, macht ihre Entscheidung nur umso unverständlicher. Es wäre Harry Potter and the Deathly Hallows: Part I sicher besser bekommen, wenn man sich zumindest in dessen Anfang mehr von der Vorlage entfernt hätte, anstatt sich um die Hochzeit zweier Figuren zu kümmern, die wenige Minuten zuvor erst auf der Bildfläche erschienen. Als („glaubwürdiges“) abenteuerreiches Road-Movie überzeugt der Film durch die fehlende Laufzeit nur bedingt (ein Makel, der durch eine Lord of the Rings-artige Extended Version auf DVD ausgeglichen werden könnte, jedoch war dies bereits bei den Vorgängern nicht der Fall). Letztlich ist Yates' dritter Potter-Film zu gehetzt, voller Anschlussfehler und am Ende Opfer seiner Vorgänger (hätte Rowling von vorneherein zumindest Kloves aber auch die Regisseure über den finalen Band informiert, wären eventuell viele Mängel vermeidbar und Manches einfacher gewesen).

Ein dankenswerter Umstand war im Nachhinein zumindest, dass es Warner Bros. nicht mehr gelang, den siebten Film rechtzeitig vor Filmstart in 3D zu konvertieren (was sich ohnehin nicht einmal bei einer Handvoll Einstellungen gelohnt hätte). Ob sich das Studio jenen finanziellen Push, der dafür verantwortlich ist, dass in Kürze eine Fortsetzung des grottigen Clash of the Titans bevorsteht, für Harry Potter and the Deathly Hallows: Part II nehmen lässt, ist fraglich. So oder so steht dem achten Film wahrscheinlich ein einfacheres Schicksal bevor, besteht er zur Hälfte doch aus einer einzigen Actionszene, die in der Tradition von Helm’s Deep aus The Two Towers stehen wird. Im Nachhinein hat sich die Entscheidung, den siebten Roman in zwei Filme aufzuteilen, wohl wieder mal nur für Produzent David Hayman und die Warner gelohnt, denn obschon für den 600 Seiten starken Roman rund fünf Stunden Laufzeit zur Verfügung standen, scheitert zumindest Harry Potter and the Deathly Hallows: Part I an denselben Dingen, die auch die meisten seiner Vorgänger ausmachten.

4.5/10