25. Dezember 2015

Magic Mike XXL

It’s not bro time. It’s show time.

Fleischbeschau kennt man in der Regel ja nur mit Frauen als Objekten, etwas ungewöhnlich war da, dass Steven Soderbergh 2012 eine Stripper-Komödie rund um Channing Tatum ankündigte. Magic Mike avancierte zum moderaten Erfolg, der wie so oft Gerüchte um eine Fortsetzung nach sich zog. Die erschien nun dieses Jahr in den Kinos – wenn auch relativ wenig beachtet. Zumindest in Nordamerika, wo Magic Mike XXL nur etwa die Hälfte seines Vorgängers einspielte. Bei den Kritikern fand die Fortsetzung dafür erneuten Anklang, obschon es in dem Film, bei dem nunmehr Gregory Jacobs Regie führte, nicht mehr allzu viel gibt, was wirklich eindrucksvoll gerät. Allen voran die Handlung – oder besser gesagt: die Abwesenheit einer solchen.

Ging es in Magic Mike um eine Katharsis der Hauptfigur, muss diese nun für eine Weiterführung der vorangegangenen Prämisse wieder ignoriert werden. So ist Mikes (Channing Tatum) Beziehung zu seiner Freundin Brooke in die Brüche gegangen – in einem müden Halbsatz erklärt – und auch sein Möbelunternehmen schlittert dem Abgrund entgegen. Da passt es, dass seine alten Stripper-Kollegen um Big Dick Richie (Joe Manganiello), Tarzan (Kevin Nash), Tito (Adam Rodríguez) und Ken (Matt Bomer) auf dem Weg nach Myrtle Beach zu einer Stripper Convention sind. Club-Besitzer Dallas ist mit Protegé Adam nach Macau abgehauen, weshalb auch sie ihrer Profession Adieu sagen wollen. Aber nicht vor einem letzten gemeinsamen Hurra.

In der Folge beschränkt sich Magic Mike XXL darauf, ein Road Movie sein zu wollen, in dem die Figuren und ihre Beziehung zueinander das Fehlen einer Geschichte übertünchen sollen. Was mal mehr und mal weniger funktioniert, aber grundsätzlich bereits am prinzipiellen Rezept dieses Films scheitert. Das Loslösen von entscheidenden Figuren des Vorgängerfilms geschieht dabei reichlich lieblos, indem sowohl Brooke (Cody Horn) als auch Dallas (Matthew McConaughey) lediglich mit einem Satz verabschiedet werden. Zumindest eint sie, dass sie beide Dinge wollten, die sie in Mike nicht (mehr) fanden. Und weil Mikes Geschäft aus unerklärten Gründen ohnehin schon schlecht läuft, kann auch dieses ruhigen Gewissens sich selbst überlassen werden.

Das Strippen und die Freundschaft zu den Kollegen bereitet Mike einfach zu viel Spaß. So die Botschaft, die der Film ans Publikum übertragen will. Nur kriegt das Publikum von der Freundschaft der Männer selbst wenig mit. Etwaige plötzlich existierenden Animositäten zwischen Mike und Ken werden bei – oder eher: nach – einem Alkoholgeschwängerten Lagerfeuer-Abend aus der Welt geräumt, Tito kriegt nicht mal einen Subplot und Tobias (Gabriel Iglesias) wird alsbald aus dem Film geschrieben. Tarzan darf immerhin in einer Szene erwähnen, dass er Kriegsveteran ist. Etwas, dass auch Mike nicht wusste; da es aber auch nicht weiter thematisiert wird, ist es ohnehin so unerheblich wie eigentlich alles, was in Magic Mike XXL geschieht.

Außer Mike kriegt nur Big Dick Richie etwas Luft zum Atmen – darunter in der Highlight-Szene des Films, wenn er zu den Backstreet Boys versucht, eine Tankstellenangestellte zum Lächeln zu strippen –, letztlich bleibt er wie alle anderen aber erneut im Schatten von Mike selbst. Der darf mit Amber Heards Fotografin Zoe flirten, die immer dann auftaucht, wenn sie der Film gebrauchen kann. Im Vergleich zu Cody Horns Brooke ist aber auch sie nur eine eindimensionale Figur als Staffage eines Films, der sich schlussendlich zum Selbstzweck gereicht. Ging es in Magic Mike noch um Figuren und darum, wie ihre Wünsche und ihr Alltag miteinander kollidierten, geht es in Magic Mike XXL um gar nichts. Allenfalls um den Spaß am Strippen.

Vielleicht scheitert deswegen der Versuch, so etwas wie eine Handlung zu installieren, die so halbgar ist, wie die neuen Figuren, die in sie geworfen werden. Elizabeth Banks als Convention Promoterin und Andie MacDowell als sexuell vernachlässigte Mutter sind verschenkt, Jada Pinkett-Smith als weibliches Dallas-Pendant und Donald Glover als Poetry-Slam-Stripper nur schwer erträglich. Selbst das Strippen verliert irgendwann seinen Reiz, wenn Gregory Jacobs ein halbstündiges Finale vom Stapel lässt, dass bis auf Mikes Tanzeinlage (wen wundert’s?) reichlich einfallslos choreografiert ist und auf Dauer ermüdend gerät. Und irgendwie kann man sich dann doch denken, wieso Brooke und Dallas dem Ganzen längst den Rücken gekehrt haben.

5.5/10

18. Dezember 2015

Tu dors Nicole

Bon retour.

Die Dinge waren auch schon einfacher – das merken auch die Charaktere in Stéphane Lafleurs Tu dors Nicole. Egal ob es um Minigolf, Babysitten oder das erste Auto geht. “Everything’s under control”, behauptet Hauptfigur Nicole (bezaubernd: Julianne Côté) da anfangs zwar, als ihre urlaubenden Eltern telefonisch nach dem rechten sehen. Wie sich zeigt, ist jedoch wenig in Nicoles Leben unter Kontrolle. Vielmehr befindet sich die junge Frau plan- und orientierungslos im Leerlauf. Was Lafleurs Film – nicht zuletzt deswegen, weil er in Schwarzweiß gedreht wurde – wie eine frankokanadisches Prequel zu Noah Baumbachs brillantem Frances Ha wirken lässt. Denn zwischen dessen Protagonistin und der von Tu dors Nicole existieren einige Parallelen.

Die Geschichte spielt während der Sommerferien. Nicoles Eltern sind verreist und ihre beste Freundin Véronique (Catherine St-Laurent) soll ihr einige Tage in dem leerstehenden Haus Gesellschaft leisten. Bis plötzlich Nicoles großer Bruder Rémi (Marc-André Grondin) mit seiner Band im Wohnzimmer steht, um dort ihr Album aufzunehmen. Im Gepäck dabei – mal wieder – einen neuen Schlagzeuger: den ruhigen JF (Francis La Haye). Während sich Nicole und Véronique durch die warmen Tage hangeln, gilt es zugleich den Avancen des jungen Martin (Godefroy Reding) aus dem Weg zu gehen, den Nicole früher als Babysitterin beaufsichtigte. Obendrein kommt dann noch hinzu, dass Nicole seit längerer Zeit nachts nicht mehr richtig schlafen kann.

Ähnlich wie Greta Gerwig in Frances Ha wirkt Nicole etwas verloren. Der Ex-Freund, einst ein Kiffer, ist nun verlobt. Véronique wiederum hat es in eine eigene kleine Wohnung geschafft und geht einer Arbeit nach. Nicole selbst lebt in den Tag hinein und arbeitet ein paar Stunden in einem Second Hand Shop, dessen Angestellte zum Großteil Menschen mit Handicap sind. Dort steckt sie hin und wieder Kleidungsstücke ein, die sie dann an Véronique weitergibt. Ein Lächeln zaubert derzeit nur ihre neu eingetroffene Kreditkarte auf ihre Lippen. Mit ihr buchen die Mädchen später auch eine Reise nach Island. Was sie in Island machen wollen, fragt sie JF daraufhin. “Nothing somewhere else”, lautet Nicoles so simple wie akkurate Antwort.

“Life… goes by fast”, hat zuvor bereits der zehnjährige Martin in einem Anflug von Ferris Bueller’s Day Off philosophiert, nachdem Nicole und Véronique feststellten, dass ihre bisherigen Fluchtpunkte vor dem Alltag inzwischen längst nicht mehr so viel Spaß machen wie früher. So ist für Nicole nur das wirklich interessant, was neu ist. Egal ob dies JF ist oder ein Familienvater, dem sie bei einem nächtlichen Spaziergang begegnet. “Are you lost?”, fragt sie diesen, da er mit seinem Auto immer wieder um den Block fährt. Er versuche lediglich seinen Sohn zum Einschlafen zu bringen, erklärt dieser. Nicht nur zu dem kleinen Knirps zeichnet sich eine Parallele zu Nicole ab; eigentlich ist es sie, die verloren im Kreis ihres Lebens fährt.

Nicht die einzige Spiegelung. So ist Véroniques Auto Ladybug mal wieder in der Werkstatt. “I can’t just abandon her”, erklärt sie – und könnte damit genauso gut über Nicole reden. Umso bezeichnender, dass dieses Gespräch in einer Szene stattfindet, in der beide Mädchen ziellos ihre Fahrräder über eine Wiese schieben, weil jede von ihnen der anderen folgte. “When the heat and pressure builds up it finally blows”, beschreibt Nicoles Ex-Freund Tommy ihr bei einer späteren Begegnung die Geysire Islands. Auch diese selbst repräsentieren letztlich die junge Frau Anfang 20, deren Sommer einen ganz anderen Verlauf nimmt, als von ihr erhofft. Was ist mit einem Leben anzufangen, das selbst von Zehnjährigen und Kiffern abgehängt wird?

Insofern funktioniert Tu dors Nicole zum einen als Porträt einer planlosen jungen Frau, die noch keine Zielrichtung für ihr Leben entdeckt hat. Zum anderen auch schlicht als Film über einen etwas langweiligen Sommer, wie ihn wohl die meisten schon einmal erlebt haben. Locker und leicht mit sehr feinsinnigem Humor ausgestattet gelang Stéphane Lafleur ein Werk, das mit jeder Sichtung runder wirkt und dessen Nuancen man mehr zu schätzen weiß. Heimlicher Star neben der hinreißenden Julianne Côté ist dabei der altkluge Martin, der dank vorzeitigem Stimmbruch glaubt, bei der doppelt so alten Nicole eine Chance zu haben. “The heart has no age”, schwadroniert der Knabe, der von einem Erwachsenen nachsynchronisiert wurde.

Zum Vorteil gereicht dem Film dabei auch der Entschluss, in Schwarzweiß zu drehen. Vielleicht zum einen als Sinnbild von Nicoles grau-tristem Alltag, vielleicht um bewusst die Nähe zum Arthouse-Kino und seinen Vertretern wie Frances Ha oder Alonso Ruizpalacios’ Güeros zu suchen. In Kombination mit Sara Misharas überzeugender Kameraarbeit und unterstützt von einem harmonischen Soundtrack, der sich zwischen Electro und Rock bewegt, kommt zumindest die technische Aufmachung von Tu dors Nicole tadellos daher. Auch das Darstellerensemble um die starke Julianne Côté und den charmanten Godefroy Reding gibt sich keine Blöße. Stéphane Lafleurs Film ist insofern also eine durchweg runde Sache geworden – très bien.

Die besondere Qualität von Tu dors Nicole ist allerdings seine Hauptfigur, die trotz ihrer teils etwas schroffen Art aufgrund ihrer Verlorenheit ungemein sympathisch wirkt. Sei es, wenn sie sich zu Beginn von einem One-Night-Stand wegschleicht oder in einem Running Gag verstärkt Probleme hat, ihr Fahrradschloss zu öffnen. Côtés Nicole wirkt aufrichtig und lebendig, eine dreidimensionale Repräsentantin einer ganzen Generation im Wartestand. Wer zu dieser Generation gehört oder an Filmen wie Frances Ha und Mistress America bereits Gefallen gefunden hat, ist hier bestens aufgehoben. “This was fun”, sagt Nicole zu ihrem One Night Stand und lässt unklar, ob sie es aufrichtig meint. In Bezug auf Tu dors Nicole bestehen da keine Zweifel.

7.5/10

12. Dezember 2015

Best of Enemies

Argument is sugar and the rest of us are flies.

Freunde hält man sich nah, Feinde näher – das wusste bereits der chinesische Militärstratege Sūnzǐ. Eine etwas andere Motivation hatten im Jahr 1968 die Herren William F. Buckley und Gore Vidal, die einander verabscheuten und dennoch gemeinsam vors Fernsehen traten. In zehn Debatten sollten sie für den Sender ABC die Nationalversammlungen der Republikaner und Demokraten analysieren. Auf der einen Seite der konservative Buckley, auf der anderen Seite der liberale Vidal. Die Debatten avancierten zum Ereignis, dass das Fernsehen revolutionieren sollte. In Best of Enemies rekapitulieren die Regisseure Robert Gordon und Morgan Neville die Umstände, Hintergründe und Folgen der Buckley-Vidal-Debatten.

Die waren eher aus der Not geboren. Denn mit den Nachrichtenformaten der Konkurrenten NBC und CBS konnte ABC nicht mithalten. “ABC was the third of the three networks”, sagt Richard Wald, ehemaliger Präsident von NBC News. “Would have been fourth, but there were only three.” Über den Ruf des Senders wurden sogar Witze gemacht. Wie lasse sich der Vietnam-Krieg beenden? Man strahlt ihn auf ABC aus und er wird nach drei Monaten eingestellt. Als es um die Nationalversammlungen des Jahres 1968 ging, brauchte es ein provokantes Medienexperiment, um gegen die Konkurrenz um Walter Cronkite bestehen zu können. “A shot in the dark” nennt Wald die ABC-Debatten rückblickend. Und gesteht: “It changed television. Forever.”

Geht es nach Best of Enemies lag dies weniger am Politdiskurs zwischen beiden Männern über die Kandidaten der Nationalversammlungen als am Diskurs über sich selbst. “Their debate was about lifestyles”, so einer der Talking Heads. “What kind of people should be we?” Der Schriftsteller und Drehbuchautor Vidal wollte Buckley im Fernsehen bloßstellen, Buckley sah im flamboyanten Vidal wiederum den Teufel. “Everything that was going to moral hell“, wie Vidal-Biograf Fred Kaplan sagt. Jeder dachte vom anderen, dass er sehr gefährlich sei, so der Autor Christopher Hitchens. Entsprechend ging es für die beiden Intellektuellen darum, ihr Gegenüber zu demaskieren. Etwas, dass geradezu nach einer möglichen TV-Kontroverse schrie.

“Networks – did they deal in controversy? No”, erklärt Richard Wald. “Did they invite controversy? No.” Und dennoch schalteten im Verlaufe der ABC-Übertragungen laut NY Times-Journalistin Ginia Bellafonte acht von zehn Amerikaner die Berichterstattung zur Republikaner-Convention in Miami ein. Die Einschaltquote von ABC stieg – und sollte andere Debattennachahmer später begünstigen. Für Buckley und Vidal ging es derweil weniger darum, ob Nixon oder Humphrey der kommende Präsident der Vereinigten Staaten würden. Es ging um Egos und Idealismus. Den in der Dokumentation ausgewählten Ausschnitten zufolge bearbeiteten sie sich Runde für Runde wie Boxer mit Worten statt Schlägen. Jeder auf seine Chance wartend.

Die Herangehensweise ist unterschiedlich, wo Vidal immer wieder die Deckung herunternimmt und Buckley lockt, gibt sich dieser zurückhaltender, vorsichtiger. Der Austausch der beiden ist bisweilen fraglos unterhaltsam, was inhaltlich unterfüttert wird mit den biografischen Hintergründen von Biografen wie Kaplan (Vidal) oder Sam Tanenhaus (Buckley). Best of Enemies steuert dabei gezielt auf jene berüchtigte neunte Debatte hin, während deren Auswirkungen und konkret die letzte Debatte etwas unter den Tisch fallen. Auch die Folgen für die Fernsehlandschaft als direkte Folge der ABC-Berichterstattung hätten die beiden Regisseure noch etwas stärker in den Mittelpunkt rücken können, anstatt dies nur am Rande anzusprechen.

Es wäre ebenso interessant gewesen, ein paar tatsächliche Einschätzungen von Buckley und Vidal zur Situation der USA von 1968 zu erhalten. Hier und da spricht Vidal zwar Punkte Buckleys an, dennoch fokussiert sich die Dokumentation zuvorderst auf die Animositäten zwischen den beiden. So wird Best of Enemies eher von seinen Charakteren als seiner medienpolitischen Bedeutung bestimmt, wobei das Thema durchaus noch etwas ausdehnbarer gewesen wäre, wie Clips von Personen wie Jon Stewart und Bill O’Reilly am Schluss zeigen. Aber auch in seiner finalen Form ist Best of Enemies ein über weite Strecken aufschlussreicher und amüsanter Einblick in eine vier Jahrzehnte zurückliegende Polit-, Kultur- und Medienlandschaft.

7/10

6. Dezember 2015

Mistress America

Five feet to the left and unhappy.

Wenn etwas die Figuren von Noah Baumbachs Filmografie eint, dann ihr Status als Außenstehende am Rande der Gesellschaft. Beobachter des Lebens, Zuschauer des Alltags. Ob in Kicking and Screaming, Greenberg, Frances Ha oder While We’re Young – überall finden sich Charaktere, die ihren Platz in der Welt suchen. Und damit in gewisser Weise auch sich selbst. Figuren, die etwas verloren wirken. Überwältigt von den Möglichkeiten und den daraus resultierenden Erwartungen an sich selbst. Da macht Baumbachs jüngster Film, Mistress America, den er mit seiner Hauptdarstellerin und Freundin Greta Gerwig geschrieben hat, keine Ausnahme. Denn auch er wird bestimmt von solchen Themen wie Unsicherheit und Selbstfindung.

Frisch an die Universität nach New York gewechselt, misslingt der Literaturstudentin Tracy (Lola Kirke) der Anschluss. Ihre Mutter ermutigt sie, sich bei ihrer designierten Stiefschwester Brooke (Greta Gerwig) zu melden. Die lebensfrohe Fitnesstrainerin, die derzeit plant, ein innovatives Restaurant zu eröffnen, hat es Tracy sofort angetan. Als Brooke jedoch ihr Lebensstil in die Parade fährt und ihr die Finanzierung ihres Lebensprojekts abhanden kommt, muss sie sich auf einen Road Trip in die Vergangenheit begeben. Begleitet wird sie dabei von Tracy, die die Situation als Vorlage einer Kurzgeschichte nutzt, sowie von Tracys Kommilitonen Tony (Matthew Shear) und seiner eifersüchtigen Freundin Nicolette (Jasmine Cephas Jones).

Der Einstieg in Mistress America gerät dabei etwas holpriger als der zu Frances Ha. Ein Zugang zu Tracy fällt schwer, ihr Außenseiterstatus wird mehr durch Bilder als Szenen kommuniziert. So isst sie beispielsweise in der Unimensa zu Pizza noch Cheerios. Auch Gerwigs Brooke ist anfangs eine zwiespältige Figur. Enorm von sich selbst vereinnahmt muss der Zuschauer sich ihrem Charakter gegenüber erst erwärmen. Zugleich ist nachvollziehbar, wieso die verloren wirkende Tracy sogleich von Brookes Lebensstil beeindruckt ist. “I could only agree with her”, läutet sie den Film ein. “It was too much fun to agree with her.” Hat man sich jedoch erstmal in die Geschichte eingefunden, läuft diese rund wie ein Schweizer Uhrwerk.

Schnell zeigt sich, dass der Film weniger Tracy als Brookes Geschichte erzählt. Wie bereits Frances in Frances Ha will Brooke etwas Eigenes für sich auf die Beine stellen. “I’ve spent my whole life chasing after things and knocking at doors”, erklärt sie. “I’m tired of running towards people. I want to be the place that people come to.” Dumm nur, dass ihr Lebensgefährte ihr die finanzielle Unterstützung entzieht, nachdem er sieht, dass sie fremdgegangen ist. Nun bleibt Brooke nur ihre Nemesis Mamie-Claire (Heather Lind) um Hilfe zu bitten, nachdem diese ihr einst nicht nur eine Geschäftsidee, sondern auch Freund Dylan (Michael Chernus) ausgespannt hat. “She was the last cowboy”, schwärmt Tracy. “All romance and failure.”

Gerade im zweiten Akt läuft Mistress America zur Höchstform auf, wenn die verschiedenen Lebensentwürfe von Tracy, Tony und Nicolette mit denen von Brooke, Mamie-Claire und Dylan kontrastiert werden. Mit unbekümmertem Unverständnis begegnet die 30-jährige Brooke da den Eifersüchteleien von Nicolette. “There’s no cheating when you’re 18”, klärt sie die Jugendliche auf. “You should all be touching each other all the time.” Für die jungen Leute sind die Älteren zugleich abschreckendes Beispiel und potentielles Spiegelbild einer zehn Jahre entfernten Zukunft. Die hat sich selbst in besonders guter Erinnerung. “I saw Nirvana live”, erklärt Dylan an einer Stelle stolz. Und ergänzt später: “I was the people, people make television shows about.”

Baumbach skizziert eine Welt, in der jeder den Fokus zuerst auf sich selbst richtet. So pflegt Brooke ihre sozialen Netzwerke, um sich selbst anzupreisen und zu bewerben. Welche Ironie, dass ihr Freund gerade dadurch im Ausland mitbekommt, dass sie mit einem anderen rumgemacht hat. Und als ihr eine ehemalige Schulkameradin in einem Bistro vorhält, Brooke hätte sie früher gemobbt, tut diese das als Nichtigkeit ab. “Everyone’s an asshole in high school.” Auch Tracy hat weniger Altruismus als vielmehr Material für ihre Geschichte im Kopf. Schließlich will sie in einen elitären Kreis eines Literaturclubs ihrer Universität aufgenommen werden. In Mistress America gilt über weite Strecken das Motto: Jeder ist sich selbst der Nächste.

“You can’t really know what it is to want things until you’re at least 30. And then with each passing year it gets bigger because the want is more and the possibility is less. Like how each passing year of your life seems faster because it’s a smaller portion of your total life. Like that. But in reverse.”

Am meisten zeigt sich diese Haltung bei Tracy, die ihre Umwelt mehr und mehr ihren Plänen unterwirft. “You used to be so nice”, hält ihr Tony in einer Szene vor. “I’m just the same in another direction now”, entgegnet die ihm. Womöglich färbte auf sie nur das Verhalten ihrer baldigen angeheirateten Schwester ab, und der Wunsch, von der Zuschauerin zur Teilnehmerin zu avancieren. Immerhin bemüht sich Tracy durchaus, den wahnwitzigen Projektwunsch von Brooke, ein Restaurant mit einem Friseursalon und einem Stadtteilzentrum zu kreuzen, am Leben zu erhalten. Nichts so sehr als Basis für ihre Geschichte als aus Zuneigung zu Brooke. Denn selbst wenn sie diese in gewisser Weise als Versagerin sieht, blickt sie aber auch zu ihr auf.

Etwas unrund gerät wiederum der Schluss, der sich zurück auf das Level der ersten 20 Minuten einpendelt. Gut möglich, dass sich diese Kritikpunkte bei Wiederholungssichtungen jedoch auflösen. Ungeachtet dessen vermag Mistress America aber trotz seines Screwball-Charakters mit seinem spritzigen Humor und zahlreichen genüsslichen Dialog- und Monologzeilen nicht ganz so gelungen den Zeitgeist einzufangen wie Frances Ha vor ihm. Dessen Charaktere wirkten zugleich etwas dreidimensionaler als hier der Fall, wo sie bisweilen prosaisch daher kommen. Als Schwesternfilm zu Frances Ha und While We’re Young funktioniert Mistress America aber durchaus vorzüglich, genauso wie als einer der besten Einträge des Filmjahres 2015.

7.5/10

1. Dezember 2015

Filmtagebuch: November 2015

APPROACHING THE ELEPHANT
(USA 2014, Amanda Wilder)
6.5/10

BEST OF ENEMIES
(USA 2015, Robert Gordon/Morgan Neville)
7/10

BIG EYES
(USA/CDN 2014, Tim Burton)
4/10

THE END OF THE TOUR
(USA 2015, James Ponsoldt)
6/10

FRIDAY THE 13TH [FREITAG DER 13.]
(USA 2009, Marcus Nispel)

2.5/10

GAME OF THRONES – SEASON 3
(USA 2013, Daniel Minahan/David Nutter u.a.)
5.5/10

GIRLS GONE DEAD [BIKINI SPRING BREAK MASSAKER]
(USA 2012, Michael Hoffman Jr./Aaron T. Wells)
4.5/10

THE GREAT BRITISH BAKE OFF – SEASON 5
(UK 2014, Andy Devonshire)
7/10

GÜEROS
(MEX 2014, Alonso Ruiz Palacios)
6/10

JONGENS [BOYS]
(NL 2014, Mischa Kamp)

5.5/10

THE MAN FROM U.N.C.L.E. [CODENAME: U.N.C.L.E.]
(USA/UK 2015, Guy Ritchie)
5.5/10

MARVEL’S JESSICA JONES
(USA 2015, S. J. Clarkson u.a.)
3.5/10

MAGGIE
(USA 2015, Henry Hobson)
7.5/10

MASTERCHEF – SEASON 6
(USA 2015, Brian Smith)
7/10

MISTRESS AMERICA
(USA 2015, Noah Baumbach)
7.5/10

OMOIDE NO MĀNĪ [ERINNERUNGEN AN MARNIE]
(J 2014, Yonebayashi Hiromasa)

7.5/10

SPACEBALLS
(USA 1987, Mel Brooks)
6/10

TANGERINE
(USA 2015, Sean Baker)
6/10

VICTORIA
(D 2015, Sebastian Schipper)
6/10

YOUTH [EWIGE JUGEND]
(I/F/CH/UK 2015, Paolo Sorrentino)

6.5/10

Retrospektive: Star Wars


STAR WARS [KRIEG DER STERNE]
(USA 1977, George Lucas)

9.5/10

THE EMPIRE STRIKES BACK [DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK]
(USA 1980, Irvin Kershner)

9/10

THE RETURN OF THE JEDI [DIE RÜCKKEHR DER JEDI-RITTER]
(USA 1983, Richard Marquand)

8/10

STAR WARS – EPISODE I: THE PHANTOM MENACE
[STAR WARS – EPISODE I: DIE DUNKLE BEDROHUNG]
(USA 1999, George Lucas)

3/10

STAR WARS – EPISODE II: ATTACK OF THE CLONES
[STAR WARS – EPISODE II: ANGRIFF DER KLONKRIEGER]
(USA 2002, George Lucas)

3.5/10

STAR WARS – EPISODE III: THE REVENGE OF THE SITH
[STAR WARS – EPISODE III: DIE RACHE DER SITH]
(USA 2005, George Lucas)

2/10