In der japanischen Kultur stellen die drei Affen Mizaru, Kikazaru und Iwazaru, die nichts Böses sehen, hören oder sagen, eine buddhistische Legende dar. Während in Asien interpretiert wird, dass sie über Schlechtes hinweg sehen wollen, gelten sie im Westen dagegen als Versinnbildlichung von fehlender Zivilcourage. Geschieht etwas Böses, wird weggesehen, weggehört und nichts gesagt. Ein Prozedere, welches oft auf sozial gebeutelte Stadtviertel zutrifft, in denen Gangs und das organisierte Verbrechen das Sagen haben. Dass es nahezu unmöglich ist, aus Menschen, die sich wie die drei Affen verhalten, Informationen herauszufiltern, muss auch die 17-jährige Ree Dolly (Jennifer Lawrence) in Debra Graniks intensivem Drama Winter’s Bone feststellen.
Ree ist die Heldin des gleichnamigen Romans von Daniel Woodrell über eine kleine Gemeinde auf dem Ozark-Plateau der USA. Da ihr Vater als einer von vielen Meth-Köchen irgendwo in den Wäldern sein Unwesen treibt und ihre Mutter aufgrund einer geistigen Störung ein Sozialfall ist, dient Ree als Oberhaupt der Familie und Erzieherin ihrer beiden kleinen Geschwister. Ihnen zeigt sie, wie sie Eichhörnchen zum Abendessen schießen und anschließend häuten können. Es ist eine harte und raue Gegend, die problemlos als Hauptstadt von White Trash County gelten könnte, bedenkt man, dass hier jede kaputte Frau einen noch kaputteren Mann an ihrer Seite weiß und sowieso die meisten Personen über mehrere Ecken miteinander verwandt sind. So bleibt alles in der Familie.
Und weil Ree entgegen den anderen Figuren - darunter ihre gleichaltrige Freundin Gail (Lauren Sweetser), die jedoch bereits dank Mann und Kind im Teufelskreis gefangen ist - erstaunlich normal erscheint, fällt es umso leichter, ihr bereitwillig als Identifikationsfigur zu folgen. Als ihr Vater eine Gerichtsanhörung zu verpassen droht, jedoch als Kaution das Haus seiner Familie überschrieben hat, obliegt es nun Ree, den Flüchtigen ausfindig zu machen und an jenen Termin zu erinnern, will sie sicher stellen, dass sie und ihre Geschwister auch weiterhin ein Dach über den Kopf haben. Das einzige Problem ist, dass niemand darüber sprechen will, wo sich Rees Vater aufhalten könnte, geschweige denn befindet. Getreu dem Motto: Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen.
Diese Welt ist maskulin dominiert, selten darf Ree ihre Fragen direkt an die Männer der Gemeinde herantragen, stets ist ein weiblicher Bote von Nöten. Es ist daher bezeichnend, wenn in einer Szene die vom Leben gezeichnete Merab (Dale Dickey) Ree fragt: “Ain’t you got no man to do this?“. Und erst mit fortlaufender Spieldauer dämmert einem langsam, dass der Grund, warum keiner der Männer Ree Auskunft darüber geben will, wo ihr Vater ist, weniger damit zusammenhängt, diesen zu schützen, sondern sich selbst. Es ist Rees unbändiger Wille und die Notwendigkeit, für ihre Geschwister zu sorgen (besonders in Anbetracht dessen, dass der gegenüber wohnende Abschaum sie bereitwillig aufnehmen, sprich: mit hinunterreißen, würde), der sie tiefer in gefährliche Gefilde bringt.
“Some of our blood at least is the same“, ist einer von Rees verbalen Versuchen, ein Gespräch mit dem „Kingpin“ der Gemeinde, Thump (Ronnie Hall), zu erzwingen. Dass Blutsbande in Woodrells Geschichte jedoch nichts bedeuten müssen, wurde zuvor bereits gezeigt, als Rees Onkel Teardrop (John Hawkes) ihr gegenüber handgreiflich wurde, als sie nach seinem Bruder fragte. Wer in Winter’s Bone keine Fragen stellt, lebt länger - das macht Granik überdeutlich. Gefährlich wird es immer dann, wenn jemand redet, wenn jemand etwas hört oder wenn jemand etwas sieht. Dies gilt für Thump und Merab ebenso wie für den lokalen Sheriff Baskin (Garret Dillahunt), was in zwei kurzen, aber deswegen nicht minder angespannten und intensiven Szenen im dritten Akt mehr als deutlich wird.
So packend und spannend Winter’s Bone ausfällt, besticht der Film die meiste Zeit jedoch durch das erwachsene Spiel von Jennifer Lawrence. Dass auch das übrige Ensemble mit Hervorhebung von Dickey und Hawkes im Vergleich zu Lawrence kaum aufsteckt, macht den in blassen und kalten Bildern geschossenen Film zu Charakterkino erster Güte. Besonders im Finale gelingt es Granik eine entscheidende Szene gekonnt auf Messers Schneide tanzen zu lassen, sodass man als Zuschauer fast den Atem anhält, ob dem, was als nächstes geschieht. Am Ende ist man dann froh, dass man selbst nicht in jener Meth-geplagten Gemeinde der Ozarks lebt, wo grimmige Menschen am liebsten unter sich sind. Weshalb Winter’s Bone zu einem der eindringlichsten und besten Filme des Jahres avanciert.
8.5/10
Danke, du machst mich noch neugieriger, als ich ohnehin schon war. Es gibt bei jeder Oscar-Verleihung einen Film, dem von Anfang an keine Chancen eingeräumt werden, obwohl er die Preise mehr als verdient hätte. "Winter's Bone" dürfte so einer sein.
AntwortenLöschenOh, und dein TV-Tipp der Woche ist ein ganz Toller, nebenbei. Über den werde ich wohl auch noch was schreiben.
Wäre die Welt gerecht, hätte der Film und die Lawrence an Stelle des Königsdramas und der Portman gewonnen.
AntwortenLöschenSehr schöne Besprechung, kann dir nur zustimmen. Winter's Bone beweist wiedereinmal, wie mutig und intensiv das amerikanische Independent-Kino in den letzten Jahren geworden ist.
AntwortenLöschenWarum Kameramann Michael McDonough für einen Oscar nicht einmal nominiert wurde, ist und bleibt ein Rätsel.