19. Juli 2019

63 Up

Like meeting old friends – as always.

Die James Bond-Reihe lebt seit nunmehr 57 Jahren fort, allenfalls noch übertrumpft von Godzilla, dessen Filme seit 65 Jahren durch die Kinos stampfen. Knapp dahinter kommt dann bereits die Up-Dokumentationsreihe von Granada, die 1964 das erste Mal über britische Fernsehgeräte flimmerte. Eine Serie sollte daraus eigentlich gar nicht werden, “it was only ever going to be one film”, sagte Regisseur Michael Apted einst über das ambitionierte Projekt. Ursprünglich als Studie über das englische Klassensystem geplant, stellte Seven Up! vor 55 Jahren gut ein Dutzend Schulkinder aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten einander gegenüber. Sieben Jahre später besuchte Apted seine Protagonisten dann für 7 Plus Seven erneut.

Alle Jahre wieder ist dies nun der Fall, immer im Abstand von sieben Jahren. Dieses Jahr war es wieder so weit, 63 Up lief Anfang Juni als Dreiteiler im Fernsehen. “I think we all still feel very nervous about this”, unkt Andrew – selbst wenn das Prozedere alle Beteiligten nun schon acht Mal durchgemacht haben. Bereits seit 28 Up nehmen nicht mehr alle Protagonisten teil, Charles ist damals als erster ausgestiegen. Von den 14 Kindern von einst sind heuer elf übriggeblieben, neben Charles verzichtete auch Suzy erstmals darauf, von Apted interviewt zu werden. Schon in früheren Filmen und zuletzt in 56 Up sprach sie von einem lächerlichen Gefühl der Loyalität zur Serie, “even though I hate it”. Nun hat dies also (leider) wohl (vorerst?) ein Ende.

Erstmals fehlt auch Lynn, stets eine Fürsprecherin der Up-Reihe, aber leider 2013 verstorben. Ihre Töchter und ihr Mann reflektieren im dritten Teil von 63 Up in Lynns Segment, was ihre Mutter und Frau ausgemacht hat. Sie hatte in 42 Up einst bereits geäußert, dass sie der Tod weniger schreckt, als der Gedanke daran, ihre Liebsten zurückzulassen. Fast wortgetreu hören wir dies in 63 Up auch aus einem anderen Mund – dem von Nick. Der ehemalige Farmerssohn, der seither zum Nuklearforscher und Uni-Dozent in den USA aufgestiegen ist, leidet an Kehlkopfkrebs mit ungewisser Diagnose. Er fasse nur noch kurzfristige Pläne, sagt er ahnungsvoll, auch wenn er im Folgenden dezidiert mögliche Behandlungsmethoden für die Krankheit auflistet.

Die eigene Sterblichkeit und die der Familienmitglieder ist eines der prägnantesten Themen in 63 Up. Hatte sich 56 Up nach den Jahrzehnten zuvor weniger mit den Unterschieden und den Gemeinsamkeiten der Beteiligten befasst, sondern ihren Status quo beleuchtet, rückt ihr Alter und ihre Gesundheit mehr in den Mittelpunkt. Einige von ihnen, wie Nick und Peter, haben schon Elternteile beerdigen müssen, andere wie Jackie mussten ihren geliebten Ex-Mann nach einem Verkehrsunfall zu Grabe tragen. “We know what’s coming…”, sagt auch Sue, der es im Gegensatz zu den anderen aber noch ganz gut geht. So leidet Tony an einem vererbten Kammerflattern und Neil kränkelt (“I’ve always relied on my body”) – aber schon immer.

Eine degenerative Erkrankung – “that fills me with thread”, gesteht auch Bruce. Er ist bereits in Rente von seiner Lehrtätigkeit, auch Andrew plant zum Jahresende 2019 aus seiner Kanzlei auszutreten. Gemeinsam mit seiner Frau will er reisen, solange die Gesundheit noch mitspielt. “The worst thing you hear is people retiring and then drop dead”, erklärt er als Beweggrund. Er ist nicht der einzige, der sich mit der nahenden Rente befasst. Auch Sue zählt die Tage (oder Jahre) bis zum finalen Feierabend, obschon sie als Kind der Arbeiterklasse einräumt: “I worked all my life, I can’t imagine not working.” Beklagen will sich trotzdem keiner, vielmehr sehen viele, dass es die heutige Generation in einigen Dingen schwerer hat, als sie selbst.

Zum Beispiel bezahlbaren Wohnraum zu finden, wie Sue anführt. Und erwähnt, dass ihre zwei Kinder zum Glück eine Wohnung haben. In Hinblick auf den Arbeitsmarkt und was Millennials erwartet, sieht auch Peter in ihnen “the first generation that doesn’t have it better than their parents”. Dass 63 Up einige politische Themen streift, überrascht angesichts der gegenwärtigen Ereignisse nicht. So klagt Taxifahrer Tony über die Auswirkungen, die Uber auf seine Branche hatte. Rund ein Drittel seines Ertrags ging so verloren. Auch der Brexit kommt zur Sprache, John war gegen ihn, Tony zwar dafür – doch die Meinung hat sich inzwischen auch gewandelt. Das Vertrauen in die politische Elite ist erschüttert, eventuell wählt Tony nächstes Mal die Grünen.

Hier reißt der Film kurz das alte, originale Thema des Klassenkampfes an. Es sei immer noch dieselbe Elite an der Macht in Großbritannien, resümiert Nick. Jene Oberschicht, deren Vertreter John, Andrew, Charles und Suzy damals Seven Up! eingeführt hatte. “Those people are not necessarily most fit to run the country”, findet Nick – und wird als einziger Exil-Brite in Amerika natürlich auch nach Präsident Trump befragt. Der Nuklearforscher, immer schon einer der Gescheitesten, sinniert darüber, er sei sich unschlüssig, was von dem das Trump sagt er tatsächlich glaubt und was nur Show sei. Darin ist er sich mit den Beteiligten nicht unähnlich, die natürlich auch wissen und sich vorbereiten, was sie Apted vor der Kamera preisgeben.

Nicht akkurat repräsentiert – das ist seit Jahr(zehnt)en ein Vorwurf, den einige von ihnen der Up-Reihe machen. Auch hier erneuter Jackie ihre frühere Kritik, dass sie in 21 mit den anderen Mädchen nach Themen wie Ehe und Familie befragt wurde, statt nach der politischen Lage. Ungeachtet dessen, dass 1977 eine andere Zeit gewesen sein mag. Die Reihe gebe nicht unbedingt wieder, wer er wirklich sei, meinte Nick einst – aber sie gebe eine gewisse Person wieder, mit der sich die Zuschauer identifizieren können. So fragt Apted einige von ihnen, ob sie sich in den Bildern aus Seven Up! erkennen (“Give me a child until he is seven and I will show you the man”), was die meisten wie Jackie oder Nick auch durchaus bestätigen können.

Dabei entwickelten sich nicht alle Wege, wie von den Bildern suggeriert. Aber auch die Teilnehmer selbst haben nicht alle ihre Erwartungen erfüllt. So blickt Bruce doch leicht vergrämt darauf zurück, nie eine höhere Lehrfunktion erreicht zu haben. “I’ve been a big disappointment to myself”, meint auch John (leicht verschmitzt), hatte er sich doch als Kind und Teenager vorgenommen, politisch aktiver zu sein, als er es letztlich wurde (er engagiert sich jedoch weiterhin intensive für Bulgarien). Tony, Optimist wie eh und je, sieht es etwas differenzierter. Zwar zerschlug sich sein Traum von einer Wohnanlage auf Mallorca, aber er hat dennoch viel erreicht, findet der 63-Jährige. “You must understand, I’m only a cabbie”, erinnert er uns.

Ansonsten ist es erfrischend, wie wenig sich bei manchen getan hat. Sue ist seit 20 Jahren weiterhin mit Glen verlobt, Symon ist immer noch als Pflegevater aktiv und arbeitet an der Beziehung zu seinen Kindern aus erster Ehe. Zusammen mit seiner Frau ist es diesmal er, der seinen alten Internats-Kameraden Paul in Australien besucht. Der ist dort weiterhin als Hausmeister aktiv, wirkt zugleich sehr viel älter als beispielsweise Peter. Neben den eigenen Kindern stehen bei einigen bereits die Enkel im Fokus. Tony hat sechs an der Zahl, darunter jene Enkeltochter, die er mit seiner Frau selbst großzieht, weil ihre Mutter Probleme hat. Neil hat zwar keine Kinder, aber dafür inzwischen geheiratet – auch wenn die Ehe zu scheitern scheint.

Mit der Studie zum Klassensystem hat dies längst nichts mehr zu tun, ist stattdessen weiter eine soziokulturelle Historiographie und Dokument der jeweiligen Zeit. Für all jene, die mit der Up-Reihe aufgewachsen sind, ist die Rückkehr immer wieder etwas Schönes. “Like meeting old friends”, findet Tony, der nach 56 Up erneut wie die Filme zuvor mit seinem Segment den jüngsten Teil einleitet. Apted selbst geht sogar noch einen Schritt weiter: “it is very much like a family.” Schließlich kennt er selbst die Teilnehmer seit 55 Jahren, sah sie weitaus mehr aufwachsen als das Publikum, das in der Regel nur etwa zehnminütige Einblicke erhält (die – variierend intensiv – auch mit Archivmaterial aus den vergangenen Filmen aufgefüllt werden).

Die Zuschauer reflektieren mit jedem Up-Film nicht nur das Leben der Teilnehmer, sondern auch ihr eigenes. Denn egal ob Tony aus dem East End stammt, Bruce und Suzy aufs Internat gingen und John eine Elite-Uni besuchte, was die Up-Reihe zeigt(e), sind weniger ihre Unterschiede als ihre Gemeinsamkeiten. Und in diesen fand – und findet – sich auch der Zuschauer wieder. Wer die Serie seit ihren Anfängen begleitet, sieht sich mit denselben Fragen zur eigenen Gesundheit und der von den Eltern konfrontiert. Und hegt den Wunsch, dass es den Kindern und Enkeln gutgehen soll. Dies macht 63 Up und die Serie so speziell und besonders, weil das Format in gewisser Weise transzendierend partizipativ ist.

Was eigentlich nur ein kurzer Film sein sollte, ist seit 1964 auf deren Neun angewachsen. Im Grunde wäre 70 Up ein schöner Abschluss für 2026 – von 7 bis 70, das hätte etwas. Die Frage nach der Gesundheit betrifft natürlich auch Michael Apted selbst, inzwischen 78 Jahre alt. Ob er mit 85 noch in der Verfassung ist, die Interviews fortzuführen, ist zu hoffen (“We know what’s coming…”, echoet Sues Bemerkung), wenn auch nicht selbstverständlich. Aber wie schnell die Zeit vergeht und wie kurz sieben Jahre sein können, veranschaulicht vielleicht kaum eine Reihe wie diese, erkennbar an Tonys Reaktion auf die Zeit seit dem letzten Besuch. “It’s flown by, Michael. Just gone”, lacht der herzige Taxifahrer. Hoffentlich im Jahr 2026 erneut.

7.5/10

5. Juli 2019

Ivanovo detstvo [Ivan’s Childhood]

No questions and no discussions.

Ein Ende bedeutet in vielen Fällen immer zugleich ein Anfang für etwas Neues. So baute die Karriere eines Pedro Almodóvar im Zuge der Movida Madrileña auf dem Ende des Franquismus auf und auch Andrei Tarkovsky profitierte in seiner künstlerischen Entwicklung vom Post-Stalinismus und seinen Folgen. Wurden unter dem Diktator nur wenige sowjetische Filme produziert, stieg deren Zahl mit seinem Tod an. Und wandelte sich in ihrer Aussagekraft – von propagandistischen Botschaften zur Realitätswiedergabe. Werke wie Mikhail Kalatozovs Letyat zhuravli [The Cranes Are Flying] aus dem Jahr 1957 zeigten nun weniger den Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg, als vielmehr dessen Auswirkungen auf das sowjetische Volk.

“Break out of the propaganda mold and give war the face of true human anguish” – diesem Aspekt verschrieb sich Tarkovskys Debütfilm Ivanovo detstvo [Ivan’s Childhood] von 1962, wie Dina Iordanova in ihrem Aufsatz “Dreams Come True” der Criterion Edition bemerkt. Zwar schließt Tarkovskys Film mit dem Sieg der Alliierten über die Nazis, zum Inhalt hat er aber den Preis, den der Krieg gegen das Dritte Reich die Figuren kostet. Für Tarkovsky, frisch von der Moskauer Filmhochschule, bot Ivanovo detstvo die Chance, sich zu beweisen. “Finishing his apprenticeship”, nennt es seine Filmbiografin Vida Johnson im Featurette “Life as a Dream”. Der Film avancierte zu seiner ersten “exercise in poetic cinema”, resümiert Johnson.

Basierend auf der Novelle Ivan von Vladimir Bogomolov handelt der Film vom 12-jährigen Ivan (Nikolai Burlyaev), der im Krieg seine Mutter (Irina Tarkovskaya) und Schwester verloren hat und seither als wertvoller Aufklärungsspäher für die Rote Armee fungiert. “The soul of the front” nennen ihn seine Vorgesetzten liebevoll, die Ivan versucht, mit Neuigkeiten zu erreichen, als er auf den Stützpunkt von Lieutenant Galtsev (Evgeny Zharikov) stößt. Kurz darauf trifft Captain Kholin (Valentin Zubkov) ein, um Ivans Information über die Aktivitäten der Wehrmacht einzuholen. Obwohl ihn alle Beteiligten lieber auf die Militärschule schicken wollen, besteht Ivan darauf, an der Front zu bleiben. “I can get through anywhere”, behauptet er.

“The kid has a hot temper”, weiß Gryaznov (Nikolai Grinko), Ivans Militär-Kontakt im Hauptquartier. Die Männer lassen Ivan somit gewähren, während er sich zusammen mit Kholin und dessen Untergebenen Katasonych (Stepan Krylov) für eine Spähmission jenseits des Flusses vorbereitet, der als Grenzlinie zwischen den Armeen dient. Für Tarkovsky war Ivan “a character created by war and absorbed by it”, wie er in “Between Two Films” schreibt. Eine Entwicklung, die der Regisseur verdeutlicht, indem jeder der drei Film-Akte mit einer Traumsequenz beginnt, die jeweils Erinnerungen an Ivans Kindheit vor dem Krieg interpretiert. Ehe Tarkovsky sie stets hart und kompromisslos mit Ivans trauriger Realität in der Gegenwart kontrastiert.

Gerade die Traumsequenzen, die nicht aus Bogomolovs Novelle stammen, aber auch der Film im Allgemeinen boten Tarkovsky die Möglichkeit, sich an narrativen Elementen und solchen der Mise en scène zu versuchen, die seine späteren Werke ausmachen sollten. “A heightened consciousness of style, point of view, and framing, and a fluid camera”, schreibt Dina Iordanova. Ungeachtet des Schwarz-Weiß-Filmmaterials wohnt den Traumsequenzen eine tonale Farbenfrohe inne. Wir sehen Ivan lachend und glücklich, sei es einleitend während des Sommers fasziniert von der Natur, im Spiel mit anderen Kindern am Strand oder wenn er nach einem Regenschauer mit seiner Schwester per Kutsche eine Apfelernte an hungrige Pferde verfüttert.

Gefilmte Vergänglichkeit, schließlich ist dem Ivan der Gegenwart nichts mehr geblieben als seine Rachegelüste gegenüber den Nazis. Er ist damit nicht alleine, wie eine Szene zwischen dem ersten und zweiten Akt zeigt. Darin trifft Ivan auf einen alten Mann (Dmitri Militenko), der seine Frau verloren hat und sein Zuhause. Außer dem Kaminofen steht im Grunde nichts mehr, was das Erscheinungsbild des Mannes, der ein Bild in einem Haus, das keine Wände mehr hat, aufhängen will, umso traumatischer macht. In gewisser Weise lässt sich in ihm ein Spiegelbild von Ivan selbst erkennen: Das Bild als Erinnerung droht verloren zu gehen, wenn ihm die Nazis in ihrer Zerstörungswut mit den Wänden jede Möglichkeit zum Bestand rauben.

Die Auswirkungen des Krieges sind fast durchweg in Ivanovo detstvo enthalten, zum Beispiel auch in Masha (Valentina Malyavina), der Krankenschwester auf Galtsevs Stützpunkt. Sie musste wie so viele andere ihr Studium unterbrechen (in einer Szene begegnet ihr ein früherer Kommilitone), um sich dem Krieg gegen Deutschland zu verschreiben. Eine der prägnantesten Szenen des Films lässt Masha in einem eindrucksvollen weißen Birkenwald auf Kholin treffen. Er, von ihr vereinnahmt, lässt sich in seinen Avancen dazu hinreißen, Masha zu küssen. Was dieser unangenehm und in gewisser Weise doch auch willkommen scheint. Masha ist von allen Figuren in Tarkovskys Film vielleicht mit am schwersten zu deuten.

Aus heutiger Sicht stellt die Szene eindeutig einen sexuellen Übergriff Kholins dar, den wir zuvor sehr sympathisch gezeichnet sehen. Tarkovskys Beschreibung als “graveside kiss” in “Between Two Films” ließe sich so deuten, dass Kholin, für den jeder Tag der letzte sein könnte, den Kuss als eine Art Abschiedsgeschenk vom Leben „raubt“. Der Kuss ist dabei auch im Kontext jener vermeintlichen Dreiecksbeziehung zwischen Masha, Kholin und Galtsev zu sehen. So scheint es zwischen der Krankenschwester und dem Lieutenant eine Romanze zu geben, die sich beide nicht eingestehen wollen. Kholins Anwesenheit führt letztlich dann dazu, dass Masha von Galtsev von der Front wegversetzt wird. Womöglich auch oder vor allem zu ihrem Schutz.

Masha jedenfalls wirkt einerseits ergriffen und bedrängt von Kholins Avancen, andererseits zeigt die Figur aber Anflüge einer Wertschätzung. Vielleicht auch nur, weil sie sich von Galtsev nicht gesehen fühlt. Seine Versetzung von Masha suggeriert wiederum, dass er ihr weitere Übergriffe von Soldaten, im Glauben es sei ihre finale Gelegenheit vor dem Tod, ersparen will. So unklar die Interpretation der Szene sein mag, desto deutlicher wird in ihr das inszenatorische Geschick von Tarkovsky und seinem Kameramann Vadim Yusov. Der Wald voller Birken selbst gibt mit seiner weißen Rinde dem Schwarzweißfilm eine besondere Note – und der Szenerie etwas anmutige Schönheit, die ansonsten an der Front fehlt.

Doch selbst die Trostlosigkeit der Zerstörung fängt Tarkovsky hübsch ein, sei es wenn Ivan in einer zerbombten Hausruine steht oder er sich mit Kholin und Galtsev später durch einen überfluteten Wald durchschlägt. Ein eindrucksvolles Echo aus dem Kontrast zwischen den lebensfrohen Träumen Ivans und dem kriegerischen Albtraum der Gegenwart findet sich auch in einer Mörsersalve der Wehrmacht, die direkt in den Durchbruch von Sonnenschein und harmonischem Vogelgezwitscher mündet. Die Übergänge der Träume in die Realität sind zwar fließend, ihre Integration ins Geschehen jedoch seltener, als man im Vorfeld womöglich erwartet hätte. Infolgedessen wirkt Ivanovo detstvo weniger surreal als er hätte letztlich sein können.

Entfernt erinnert der Film dabei an Stanley Kubricks Paths of Glory – dergestalt, dass beide in Schwarzweiß gedrehte Antikriegsfilme sind, die einen zum Genre eher gegensätzlichen Ansatz als üblich wählen und dabei als frühe Fingerübung für das spätere Œuvre ihrer Regisseure dienen. Weder Kubrik noch Tarkovsky heben die Heldenhaftigkeit der Soldaten gegen ihr deutschen Gegner hervor, sondern betonen die Pein und Qual, die mit dem Krieg für die Beteiligten einhergeht. Umso mehr fällt der Schluss von Ivanovo detstvo etwas aus dem Rahmen, wenn die Handlung von der deprimierenden und hoffnungslosen Front schließlich zum gewonnenen Kriegsende nach Berlin springt – der innewohnenden Tragik zum Trotz.

In seiner Summe ist Ivanovo detstvo gegenüber anderen (Meister-)Werken von Andrei Tarkovsky wie Stalker oder Solyaris deutlich zugänglicher, sicher auch mit dadurch bedingt, dass es sich um sein Debüt handelt. Ansätze des späteren Schaffens des Regisseurs sind aber durchaus erkennbar. Von Vadim Yusov durchweg eindrucksvoll fotografiert und vom gesamten Ensemble, allen voran dem jungen Nikolai Burlyaev, einprägsam gespielt, ist der Film letztlich sicher mehr als nur eine Fingerübung Tarkovskys, um sich zu beweisen, dass er das Gelernte in die Tat umsetzen kann. Vielmehr markiert er den Anfang einer großen und ruhmreichen Karriere – und die ersten Schritte hin zu Andrei Tarkovskys später folgender “poetry of cinema”.

8.5/10