2. Mai 2020

Wendy

Our lives are gonna be the greatest story ever told.

Generell wenig Liebe erfährt Hook im Œuvre von Steven Spielberg, ist quasi ein “lost boy” innerhalb seiner sonst so wertgeschätzten Filmografie. Als Frevel wurde erachtet, dass Peter Pan in dem Film erwachsen wurde, er hätte sich doch besser näher an der Vorlage bewegt, kritisierte seiner Zeit Roger Ebert. Dabei erzählt Hook wie J.M. Barries Peter Pan vom Kindsein und von Zeitlosigkeit, von Spielbetrieb und Emanzipation. Allesamt Elemente, die auch Benh Zeitlins neuesten Film Wendy ausmachen, seines Zeichens eine lose Neuinterpretation von Barries Pan-Vorlage. Rund acht Jahre nach seinem imposanten Debüt Beasts of the Southern Wild dürfte Wendy allerdings ähnlich wie Spielbergs Hook zu Unrecht wenig Liebe erfahren.

In Zeitlins Version ist Peter (Yashua Mack) eher eine Randfigur. Weniger Charakter als ein personifiziertes Konzept von Freiheit und Jugendlichkeit für Wendy (Devin France) und ihre Brüder Douglas (Gage Naquin) und James (Gavin Naquin). Die folgen eines Nachts von ihrem Zimmer aus Peter auf einen vorbeifahrenden Zug, der sie schließlich zu einer abgelegenen Insel bringt, bevölkert von einigen verlorenen Kindern. Darunter zu ihrem Erstaunen auch Thomas (Krysztof Mayn), ein Junge aus ihrer Nachbarschaft, der vor vielen Jahren als vermisst gemeldet wurde. Doch der Schein auf der Insel scheint zu trügen und die Abenteuerlust weicht nach einem tragischen Vorfall bald dem Realitätsfrust, der die Welt von Peter aus den Fugen bringt.

Ähnlich wie in Beasts of the Southern Wild ist das Setting der Geschichte essentiell. Wendy wächst in Darling’s Diner auf, dem Bahnhofsimbiss ihrer Mutter. Er existiert in einer Art gesellschaftlichem Vakuum. Um Darling’s Diner ist alles im Wandel begriffen, die Leute in den Zügen lediglich auf Durchreise, stets in Bewegung – nur das Diner und seine Gäste verharren. Stagnieren. “Your life will go by and nothing will ever happen”, befürchtet Wendy zu Beginn, konfrontiert mit der Vergangenheit ihrer Mutter. Die wollte einst Rodeos reiten, ehe sie ihre Kinder bekam und nun deren Erziehung, wie es Eltern eben so tun, alles unterordnet. “The more you grow up, the less things you get to do that you wanna”, klärt James seine Schwester auf.

Erwachsenwerden wird hier gleichgestellt mit der Aufgabe von Träumen und Abenteuerdrang. Mit ein Grund für Wendy, als sie nachts Peter wahrnimmt, ihm auf einen der passierenden Züge zu folgen. Sie stagniert nicht mehr, das Leben geht nicht an ihr vorbei, sondern sie und ihre Brüder am Leben. “Past billions of people who never dared to leave”, erklärt sie vollmundig. Der Ausbruch aus dem System als ultimatives Abenteuer. Auf Peters Insel müssen die Kinder nicht erwachsen werden – was allerdings, wie wir schnell erfahren, nicht bedeutet, dass sie nicht altern. Erkennbar an Buzzo (Lowell Landes), einem älteren Mann, der früher einmal einer der Lost Boys war. Und wie sich zeigen wird, mit diesem Schicksal auf der Insel nicht alleine ist.

Traurigkeit war es, die ihn habe altern lassen. Wer seine infantile Leichtigkeit verliert, verliert seine Jugend. Buzzo wird zum Aussätzigent, während Peter seine Identität und die der anderen alten Menschen auf der Insel ignoriert. “Peter knows what he wants to know”, sagt einer von ihnen. Sie leben in einer verlassenen Siedlung, bezeichnender Weise ebenfalls mit einem Diner – losgelöst von Zeit und Raum. Das wahre Leben spielt sich draußen, fernab des Diners und der Siedlung ab, wie schon zuvor bei Darling’s Diner der Fall. Buzzo und Co. können von Peter und den Lost Kids nicht akzeptiert werden, wollen sie nicht wie diese enden. Schließlich manifestieren sie all das, was Peter und Co. eher negativ assoziieren mit der Tatsache, älter zu werden.

In einer Umfrage unter Kindern Ende des 20. Jahrhunderts zeigte sich, dass jedes dritte Kind angab, Altsein würde sich unheimlich, erschreckend und einsam anfühlen (s. “Children's Views on Aging: Their Attitudes and Values”, in: The Gerontologist, Vol. 37, No. 3,1997 S. 414). Sie hätten eine negative Sichtweise zum alt zu sein, heißt es weiter (S. 415). Schaut man sich Buzzo und Co. an, kann man dies gut verstehen. Umso strenger ist Peter daher, keine traurigen oder negativen Gedanken zuzulassen. Wer alle Sorgen aussperrt, hält das Alter von sich fern. Zugleich sind die Erwachsenen auf der Insel erpicht darauf, wieder ihre Jugendlichkeit zu erlangen. Ähnlich wie es Robin Williams’ Peter im Verlauf von Spielbergs Hook erlebt hat.

Wendy ist kein klassischer Coming-of-Age-, sondern eher ein Staying-Young-Film, die Insel von Peter dient vor allem Wendy – ähnlich wie die in Spike Jonzes Where the Wild Things Are – als Doublette für den Alltag, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Und die Realität zu akzeptieren. “All kids grow up”, wusste Wendy schon zu Beginn und getreu Barries Vorlage wird sie auch bei Zeitlin zum Schluss Nimmerland den Rücken kehren, den Kreislauf vom Kind zum Elternteil zu werden abschließen. Ebenjenen Kreislauf, den Spielberg in Hook als Ausgangspunkt für seine Fortsetzung der Geschichte nahm. Denn Kinder können nur Kinder sein, wenn es Erwachsene gibt. “Our lives”, proklamiert Wendy, “are gonna be the greatest story ever told.”

Zeitlin inszenierte dies in einer langjährigen Produktion (die ersten Arbeiten begannen bereits im Jahr 2013) wie schon in seinem Debüt als von Kindern getragenes pompöses audio-visuelles modernes Märchen, untermalt mit eindringlicher, kraftvoller Hornbläser-Musik von Dan Romer und eingefangen in mitreißenden Bildern von Sturla Brandt Grøvlen. Wendy besitzt dabei weniger Sozialkommentar als Beasts of the Southern Wild und auch das Kinderensemble agiert nicht ganz auf der Höhe. Weder Yashua Mack noch Devin France sind auf dem Level einer Quvenzhané Wallis, für das, was Wendy erzählt, erfüllen sie ihren Zweck. Der Film dreht sich weniger um eine spezielle Handlung oder ihre Figuren als um die Vermittlung eines Gefühls.

Wendy ist ein mit viel Liebe inszenierter Film darüber, was es bedeutet Kind zu sein. Sowie darüber, dass Erwachsen zu sein nicht gleichbedeutend mit Traurigkeit ist. Das Jung und Alt nicht getrennt von-, sondern miteinander existieren und zusammen Abenteuer erleben können, wie die Beziehung von Peter und Hook im Schlussakt zeigen wird. Es ist eine Adaption von Barries Geschichte, die sich nah an deren Geist bewegt, aber doch gänzlich anders ist (Ebert wäre vermutlich zufrieden). Zwar ein kleiner Rückschritt gegenüber seinem imposanten Debüt von 2012, aber dennoch ein gelungener Blick aufs Kindsein, der ganz George Bernard Shaws Erkenntnis folgt: “We don’t stop playing because we grow old, we grow old when we stop playing.”

7/10