6. Dezember 2024

Tótem

Elaborar. 

Es ist naheliegend, dass man nur um etwas trauert, was für einen von Wert ist. “If we love, we grieve”, beschrieb es der US-Dichter Thomas Lynch. Sei es eine verlorene Liebe oder ein verlorenes Leben. Lila Avilés widmet sich in ihrem zweiten Film Tótem der Trauerbewältigung einer Großfamilie – obgleich die Person, die sie beweinen, noch gar nicht gestorben ist. Tona (Mateo García Elizondo) ist 27 Jahre alt und scheinbar unheilbar krank. An seinem Geburtstag, vermutlich den letzten, den er erleben wird, wollen ihm seine ältesten Schwestern eine Feier widmen. Eine Geburtstagsfeier, die zugleich eine Totenwache ist. Tona steht dabei weniger im Fokus als seine Familie, allen voran seine sieben Jahre alte Tochter Sol (Naíma Sentíes).

Der Film beginnt relativ losgelöst, wenn wir Sol und ihre Mutter Lucía (Iazua Larios) auf dem Weg zu den Feiervorbereitungen begegnen. Erst einmal im Elternhaus von Tona angekommen, legt sich ein Schleier von Schwermut über die Bilder. “If things were bad before, they’re far worse now. It makes me so fucking sad, because I can’t control it”, beschreibt eine Frau, die bei Sols Großvater (Alberto Amador) in Therapie ist, diesem in einer Sitzung die Probleme in ihrem Liebesleben. Könnte aber im Grunde auch der Siebenjährigen aus der Seele sprechen. Die Begegnung mit ihrem Vater wird hinausgezögert, begründet damit, dass dieser sich ausruhen müsse. Wie verschiedene Einblicke zeigen, ist das Leben für Tona zur Last verkommen.

Für Sol dürfte es die erste Konfrontation mit dem Konzept Tod sein, auch wenn sie über Fragen herausfindet, dass vor ihrem Vater schon dessen Mutter in demselben Zimmer dem Ende entgegenblickte. Dass Tona mit 27 Jahren extrem jung ist, mag die Verarbeitung seines designierten Ablebens noch komplizierter machen, speziell für seine Tochter. Dass Tona seinen letzten Tagen entgegenblickt, ist weniger der Krankheit geschuldet, als der Tatsache, dass die Familie finanziell alle Möglichkeiten für seine Behandlung ausgeschöpft hat. Selbst beim Gehalt für seine aufopferungsvolle Pflegerin Cruz (Teresita Sánchez) ist man hinterher, gleichwohl Tonas älteste Schwester Alejandra (Marisol Gasé) Geld für eine „Exorzistin“ übrig hat.

“Look at these women crying. That’s a lot of sadness, a lot of pain”, stellt Letztere beim Anblick von Bildern an den Wänden fest, die jene, die Tona selbst malte, wieder verdrängt haben. Auch diese Feststellung lässt sich auf die Frauen in Tonas Leben transferieren, von Sol und Alejandra über Cruz, Lucía oder seine zweitälteste Schwester Nuri (Montserrat Marañón). In der Tat ist Tótem ein unwahrscheinlich warmherziger und liebevoller Blick ins Leben dieser mexikanischen Großfamilie, in der Eltern an ihren Kindern verzweifeln und diese von ihren Erzeugern genervt sind. Aber ebenso ein Film von teils unerträglicher Traurigkeit, gerade in all jenen Momenten, wenn Naíma Sentíes mit stummem Blick versucht, die Dinge zu verarbeiten.

Besonders das Mädchen spürt eine Ohnmacht, vor der aber auch Nuri nicht gefeit ist. Avilés gelingt es, die Melancholie des Ganzen immer wieder aufzubrechen, meist dadurch, vom Tod aufs Leben zu schwenken, in Form von der nächsten Generation mit Sols Cousins und Cousinen, die selbst im Gegensatz zu der Siebenjährigen eher peripher von dem erstickenden Wehmut im Haus beeinträchtigt scheinen. Sentíes ist hierbei das Herzstück des Films, geschickt das Spiel zwischen Tränen und Lachen beherrschend. Doch das ganze Ensemble bringt die Figuren glaubwürdig zum Leben, vielleicht mit Abstrichen von den späteren Partygästen und Tonas anderen beiden Geschwistern, die weniger integriert wirken als Alejandra und Nuri.

Tótem ist ein Film, der sehr nah dran an seinen Charakteren ist, einerseits aufgrund des Bildformats (1.33 : 1), andererseits, da er Sol, Tona oder Nuri in Momenten auf die Pelle rückt, die für diese sehr persönlich sind. Seine Welt wirkt somit sehr klein, ist aber auch sehr groß, da es stets noch einen weiteren Raum im Haus zu erkunden gibt oder einen Garten, der neue Welten öffnet. Lila Avilés erzählt auf berührende Weise davon, Loszulassen, während man noch mitten in der Umarmung steckt. Manchmal gebe es Dinge, die man sehen möchte, aber dies nicht möglich ist, sagt Tona später Sol, als diese endlich zu ihm vordringen darf. Aber sie würden, so Tona, einen dennoch nicht loslassen. Genauso wenig wie Tótem den Zuschauer.

7/10