19. Januar 2011

The Wire - Season Four

No one wins. One side just loses more slowly.

Wenn sie alles falsch gemacht hätten, reminisziert David Simon in einem Feature zur vierten Staffel von The Wire, könnte seine Schöpfung einfach nur eine Cop-Serie sein. Natürlich ist The Wire auch das, eine Cop-Serie. Aber dennoch ist sie auch viel mehr, in ihrem Versuch, die Realität durch Fiktion abzubilden. Nach einjähriger Pause kam die Show von David Simon und Ed Burns zurück und baute, wie schon die drei Staffeln zuvor, hauptsächlich auf den Erfahrungen der beiden Serienschöpfer auf. Bevor sich die HBO-Serie in ihrem fünften und letzten Jahr dem Blick auf die Medienlandschaft und damit den Erfahrungen des gelernten Journalisten Simon widmete, wandert der Fokus des vierten Jahres in die Schulen.

Hierbei wurden die Erlebnisse von Ed Burns aufgegriffen, der nach seiner Zeit in Baltimores Mordkommission mehrere Jahre als Lehrer an einer der städtischen Mittelschulen aktiv war. War das Thema der dritten Staffel „Reformation“, respektive das Scheitern dieser für Figuren wie Major Colvin (Robert Widsom) und Stringer Bell (Idris Elba), so steht das vierte Jahr offensichtlich unter dem Motto „Erziehung“. The Wire beginnt einen kritischen und zum Teil erschütternden Blick in die urbane Schulpolitik zu werfen. Die Erfahrungen von Burns selbst teilen sich hierbei Prez (Jim True-Frost) und Colvin, die beide nach den Ereignissen des Vorjahres den Polizeidienst verlassen mussten und nun als Erzieher arbeiten.

Gleichzeitig dringt die Serie auch in das Leben der ausschließlich afroamerikanischen Schüler vor, indem vier von ihnen Nebenrollen erhalten. Die präsenteste Figur ist Namond (Julito McCullum), Sohn von Wee-Bey (Hassan Johnson) und Corner-Dealer für Bodie (J.D. Williams), dessen Mutter alles daran setzt, dass er in dieselben Fußstapfen wie sein lebenslänglich verurteilter Vater tritt. Zudem ist Namond der einzige der Clique, der sich kriminell betätigt, auch wenn der ruhige und intelligente Michael (Tristan Wilds) gelegentlich am Corner aushilft. Er hat jedoch wie die anderen Drei mit einem geschädigten Zuhause klar zu kommen, erzieht er seinen kleinen Bruder durch die Drogensucht der Mutter alleine.

Noch chaotischer geht es bei Dukie (Jermaine Crawford) zu, dessen Eltern ihn schlagen, bestehlen und vernachlässigen. Erst durch das soziale Engagement von Prez ergeht es dem Jungen im Laufe der vierten Staffel besser. Als letzter im Bunde ist das Waisenkind Randy (Maestro Harrell), der bei einer Pflegemutter lebt und sich als Pausenhof-Entrepeneur und Süßigkeiten-Dealer versucht. Namond, Michael, Dukie und Randy stellen letztlich die Brücke zwischen Schule und Straße dar und somit auch das Bindeglied zwischen der Welt der Drogen und der Welt der Erziehung, die in Baltimore zumindest in den afroamerikanischen Vierteln Hand in Hand zu gehen scheinen und das Leben von drei von ihnen verändern werden.

Mit dem Urteil gegen Avon (Wood Harris) aus Mission Accomplished ist Marlo Stanfield (Jamie Hector) auf der Westside nunmehr konkurrenzlos. Selbst Bodie bleibt später keine Wahl als für Marlo zu dealen, während Slim Charles (Anwan Glover) zur rechten Hand von Proposition Joe (Robert F. Chew) wird. Zugleich gerät Marlo immer mehr außer Kontrolle und beginnt wahllos Menschen von seinen Soldaten Chris (Gbenga Akkinagbe) und Snoop (Felicia Pearson) exekutieren zu lassen. So muss unter anderen ein Wachmann dran glauben, weil er Marlo gegenübertritt oder eine Lieferantin, damit ihr Mord Omar (Michael K. Williams) in die Schuhe geschoben werden kann, der unbewusst in Marlos Weg geraten ist.

Marlo wiederum ist weiterhin das Ziel der von Daniels’ ins Leben gerufenen Spezialeinheit, auch wenn Daniels (Lance Reddick) inzwischen zum Major aufgestiegen und Colvin ersetzt hat. Dennoch fehlt es Freamon (Clarke Peters) und Greggs (Sonja Sohn) an entsprechenden Leichen, die Chris und Snoop in verlassenen Häusern verstecken. Indem Randy bei unwissentlich in Boys of Summer bei einem von Marlos Morden mitwirkt, beginnen die ersten beiden Welten früh mit den Ermittlungen der Polizei rund um Bunk (Wendell Pierce), Herc (Domenick Lombardozzi) und Carver (Seth Gilliam) zu verschmelzen, von denen sich speziell Herc und Carver nun vollends beginnen, in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln.

Während Herc im Laufe der Staffel vermehrt seine Inkompetenz unter Beweis stellt, zeigt Carver ab Margin of Error, dass bei ihm doch nicht Hopfen und Malz verloren ist. Ähnlich ergeht es McNulty (Dominic West), der seinen Frieden mit dem Dasein als Streifenpolizist gefunden und ein scheinbar glückliches, nüchternes und monogames Leben mit Beadie (Amy Ryan) begonnen hat. Da West jedoch mehr Zeit mit seiner Familie in London verbringen wollte, taucht McNulty im vierten Jahr relativ wenig und wenn dann nur als Randfigur auf. Damit kommt er aber immer noch auf mindestens ebenso viel Laufzeit wie Sydnor (Corey Parker Robinson), der weiterhin ein lediglich bekanntes Gesicht im Hintergrund bleibt.

Schenkte The Wire in den Vorjahren zumindest Einblicke in das Privatleben des Triumvirats McNulty-Daniels-Greggs, so tritt auch dies in der vierten Staffel zurück. Stattdessen stehen fast ausschließlich Namond, Randy, Michael und Dukie im Fokus, sowie zusätzlich noch Stadtrat Tommy Carcetti (Aidan Gillen), dessen Kampagne, Bürgermeister zu werden, in Margin of Error einen erfolgreichen Abschluss findet. Ohnehin widmet sich die Serie dieses Mal wohl auch aufgrund des Wahlkampfes mehr der Welt der Politik, als dies noch im Vorjahr der Fall war. Zugleich zählt Carcetti ebenfalls zu den Figuren, die dieses Jahr einen positiven Wandel durchleben, wenn er ähnlich wie McNulty seiner Promiskuität abschwört.

Grundsätzlich veranschaulicht diese Staffel, wie viel im Schul- und Politiksystem der USA im Argen liegt und inwiefern man das Drogenproblem an der Wurzel und damit an den Schulen anpacken muss. So nimmt Cutty (Chad Coleman) einen Nebenjob an, in dem er Schulschwänzer einkassiert und in ihre Klasse bringt. Als er jedoch das System durchschaut (die Schüler müssen nur ein Mal im Monat erscheinen, weshalb sie die übrigen Tage in Ruhe gelassen werden), gibt Cutty den Job schließlich auf. Auch Prez wird in Corner Boys und Know Your Place mit absurder Schulpolitik konfrontiert, wenn er seine Schüler lediglich auf bestimmte Tests vorbereiten soll, anstatt ihnen Wissen zu vermitteln.

Im vierten Jahr ist The Wire ein zweischneidiges Schwert. Zwar bemüht sich die Serie wie nie zuvor, reale Vorgänge kritisch und unterhaltsam aufzubereiten, was ihr schlussendlich auch gelingt. So gesehen übertrifft die vierte Staffel in ihrer Bedeutung ihren Vorgänger, ohne ihn zugleich auf narrativer Ebene vollends zu übertreffen. Denn in keiner Staffel bediente man sich so offensichtlich an filmischen Vorbildern, was im Anspruch der Serie, urbanes Leben real-fiktiv darzustellen, negativ auffällt. Beispielsweise suchen Dukie und Co. in Alliances in bester Stand By Me-Manier eine Leiche auf oder belohnt Colvin in Know Your Place eine Schulübung wie in Dangerous Minds mit einem noblen Restaurantbesuch.

Auch die Charakterausarbeitung wirkt bisweilen schwach, wenn Figuren wie Namond oder Michael zum Ende hin ziemlich unvorbereitet und überraschend in 180°-Kehrtwendung zum Staffelbeginn reagieren und eine extrem prominente und ambivalente Rolle wie die von Marlo im Grunde jedes Jahr nicht ansatzweise analysiert wird. Selbst von einer Serie, die weder Charaktere noch eine Handlung, sondern primär ein soziales Stadtbild vermitteln will, darf man hier mehr erwarten. Grundsätzlich sind die neuen Figuren aber wie jedes Jahr ausgesprochen interessant, gut besetzt und für die Entwicklung der Geschichte zuträglich, was jedoch verstärkt auf Kosten des Polizeiensembles rund um McNulty und Co. geht.

Obschon sich die Charakterentwicklungen gegen Ende überschlagen, zählt das Staffelfinale Final Grades, gefolgt von seiner Vorgängerfolge That’s Got His Own und Unto Others zu den besten Episoden dieser Staffel. Deren bemerkenswertes Merkmal ist fraglos, wie einfach sich die Aufmerksamkeit der Schullandschaft zuwandte, ohne zugleich Handlungsstränge von anderen Figuren wie Bubbles (Andre Royo) großartig außer Acht zu lassen. “It could have, if we'd done everything wrong, been a cop show”, sagte David Simon. Und dass The Wire mehr als eine Cop-Show ist, auch wenn sie ihre eigenen Ansprüche nicht immer vollends erfüllen kann, zeichnet sie verdientermaßen als Besonderheit aus.

8/10

7 Kommentare:

  1. Gute Staffel. An dieser Höllenschule will ich nicht unterrichten. Zum Glück ist es in Deutschland noch nicht so weit gediehen mit dem fast religiösen Glauben an Statistiken.

    Staffel 5 (gesehen habe ich bislang die ersten drei Episoden) konzentriert sich nun auf die Presse. Damit wären dann wohl alle Säulen der Gesellschaft durchanalysiert. Allerdings ist eines nach wie vor mies: Der Vorspann-Song. :)

    8/10

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  2. Ich mag den Vorspann-Song eigentlich, nicht so sehr die Kinder-Interpretation der 4. Staffel, aber die der 5. von Steve Earle ist sogar mein Favorit.

    Und 8/10 sind bei dir ja gefühlte 10/10, wenn ich seh, dass sowas die DEADWOOD auch nicht besser wegkommt.

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  3. Ist schon eine gute Serie. Die Figuren sind zwar weniger zugänglich, aber das ist wohl Absicht. Die erste Staffel, die ich in ganz schlechter Erinnerung habe (da ich alles so kurz hintereinander gucke, fließen die Staffeln sowieso ineinander), muss ich noch einmal sehen.

    Staffel 1 und 2 hatten die grausamsten Song-Interpretationen. Danach wurde es besser. Aber ein Ohrwurm ist das einfach nicht und die Bilder dazu find ich auch nicht sonderlich ansprechend.

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  4. Season 2 ist ja keine Interpretation, sondern Tom Waits selbst - da watscht der HBO-Titten-Jochen mal eben den Waitsy ab *g* Ich finde das Season 5 Opening sehr gelungen, sowohl von den Bildern als auch der Interpretation her. THE WIRE ist sogar eine der wenigen Drama- bzw. HBO-Serien, wo ich mir sogar jede Folge das Intro in Gänze gegeben hab (während ich bei TRUE BLOOD z.B. meist vorspule).

    Aber wir beide wissen ja, das unsere Geschmäcker verschieden sind. Immerhin stimmen wir überein, dass es eine gute Serie ist - damit war ja nicht mehr zu rechnen ;-)

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  5. Scheiß drauf, wer das Original verbrochen hat. Der Song ist per se Käse.

    Das True Blood Intro find ich übrigens ebenfalls nicht prickelnd. Es gibt (gerade wenn man Episoden kurz hintereinander sieht) kaum einen Vorspann, der einen auf Dauer bei Laune hält. Am besten hat das m. E. "24" gelöst :)

    Hhhm, das wäre eigentlich mal eine glorreiche 7-Auswahl wert ;) Leider hab ich derzeit natürlich überhaupt keine Zeit dafür. Also musst du das mit deinen Top 5 übernehmen, die du ja auch frecherweise seit einiger Zeit vernachlässigst!!!
    Ich meckere dann in den Comments über deine miserable Auswahl und mache Verbesserungsvorschläge - versprochen! ;)

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  6. 1. fehlen mir für eine Top 5 von Serienintros die entsprechende Kenntnis vieler Serien, beispielsweise M*A*S*H, DALLAS, DENVER, CHEERS, FRASIER, etc., da ich der Ansicht bin, man muss ein Intro nach seiner Serie bewerten und nicht nur für sich, ergo, die Serie muss man kennen. Sprich: Eine Top 5 wäre ja sehr "aktuell" mit hauptsächlich Serien aus den 00ern und ggf. noch FRIENDS, X FILES und TWIN PEAKS aus den 90ern, womit man ja auch schon 3/5 hätte. Ich überlass das also dir, für die Osterferien, haste was zum tun ;-)

    2. Bei mir ist immer eine Top 5 in Planung, nur zieht sich das bisweilen, aufgrund der "Recherche". Im April habe ich eine geplant, im September war auch eine angedacht und möglicherweise schaffe ich die andere, ich bereits vor einem halben Jahr begonnen habe, bis November auch noch. Von daher stehen hier noch jede "Menge" Top-5-en ins Haus :-)

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  7. Dass man nicht alles kennen kann, ist klar.

    Der X-Files-Vorspann ist ja nun auch nicht gerade bombastisch-gut.

    Schön zu wissen, dass man demnächst mit einer Top 5 rechnen kann.

    Osterferien? Doppelabiturjahrgang!!! Da ist nichts mit Ferien :(

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