12. August 2012

Stevie

Wherever I go (…) it’s just nothing but trouble.

Das US-Mentoring-Programm “Big Brothers Big Sisters” (BBBS) wurde 1904 vom New Yorker Gerichtsschreiber Ernest Kent Coulter initiiert, um die Zahl jugendlicher Straftäter zu verringern. Ehrenamtliche Mentoren und Mentorinnen sollten eine einjährige Patenschaft für Kinder aus Problemfamilien übernehmen, diese fördern und ihnen als „großer Bruder“ oder „große Schwester“ zur Seite stehen. Auch der Chicagoer Regisseur Steve James wurde 1982 während seiner Studienzeit ein “Big Brother“ und betreute den 11-jährigen Stephen “Stevie” Fielding aus Pomona, Illinois. Als die wöchentlichen Besuche nach einem Jahr rum waren, wollte er mit ihm in Kontakt bleiben. “Of course, I haven’t been“, sagt James später.

Über zehn Jahre zogen ins Land und James hatte inzwischen Erfolg mit seiner Basketball-Dokumentation Hoop Dreams. Er entschloss sich 1995 zurück nach Pomona zu fahren, um mit der Kamera zu dokumentieren wie es Stevie ergangen war. Dieser lebte immer noch mit seiner Stief-Großmutter in einem Wohntrailer mitten in der Einöde und hat über die Jahre mehrere Vorstrafen wegen verschiedener Vergehen gesammelt. “Wherever I go“, erklärt er uns, “it’s just nothing but trouble“. Es trat somit also genau das Gegenteil dessen ein, was das Mentoring von BBBS eigentlich bewirken sollte. “It went beyond my worst fears from the past of what Stevie would grow up to be“, bemerkt James im Erzählkommentar.

Als Hauptursache wird die mütterliche Vernachlässigung des Jungen im Frühstadium ausgemacht. Im Alter von sechs Monaten verstieß ihn seine Mutter Bernice, weil er nicht der Sohn ihres Mannes war. Dennoch nahmen dessen Eltern Stevie auf und zogen ihn groß, “just 50 yards down the road where his mother lived“. Die wiederum soll den Jungen geschlagen haben, das berichtet neben der Großmutter auch seine Halbschwester Brenda, die ebenfalls in einem Wohntrailer einige Straßen weiter wohnt. Es wird klar, dass zwischen allen Beteiligten keine positiven Emotionen existieren. Umso bezeichnender ist dann der Kontrast, als James seine eigene Frau plus Kinder nach Pomona holt, um sie mit Stevie in eine Küche zu setzen.

Dort berichtet er dann, wie er versucht hat, die Bremsleitungen seiner Mutter zu kappen, während James’ Frau freundliche Verblüffung vorspielt und ihr Gatte schnell die Kinder aus dem Zimmer schafft. “He always seemed to be an accident waiting to happen“, hatte James zu Beginn der Dokumentation gesagt. Man umarmt sich auf der Veranda und verspricht, sich bald wieder zu sehen. Natürlich kam es nicht so. Erneut vergeht etwas Zeit, wenn auch nur zwei Jahre. Dann will James mal wieder nach Stevie sehen und erfährt 1997, dass er im Gefängnis sitzt, weil er seine 8-jährige Cousine sexuell misshandelt haben soll. Spätestens jetzt scheint James genug Potential für seine Doku zu sehen. Stevie geht in Produktion.

Es geht also zurück nach Pomona, mit Stevie sprechen, seiner Pflichtverteidigerin und der Familie. Endlich meldet sich auch Bernice zu Wort, im Doppelgespann mit ihrer Schwester Wendy, der Mutter des 8-jährigen Mädchens. James ist in seinem Metier, bohrt mit traurigen Augen seine Gegenüber an und beobachtet, wie sich die White trash-Lawine selbst ins Rollen bringt. Was es denn für ein Film sein solle, wird er gefragt. Eine Dokumentation über Stevie werde es sein, sagt James. “Who he is and what he had become.” Was lief schief in Stevies Leben, dass es ihn zu dem werden ließ, der er ist? Zum vorbestraften Pädophilen. Seine Vergangenheit zeichnet das Bild eines traumatisierten, verlorenen Jungen.

Von der Mutter verstoßen, den Vater nie gekannt. Der Großvater verstirbt früh, hinzu kommen körperliche Schläge von Bernice, wenn sie sich denn mal sehen. Irgendwann wird Stevie ins Heim übergeben, wo man ihn in verschiedene Familien platziert. Ein Ehepaar hat es ihm besonders angetan, doch auch sie verlassen ihn irgendwann. Später wird Stevie sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen ausgesetzt, ehe es zurück nach Pomona und der Mutter seines Stiefvaters geht. Steve James wird sein “Big Brother” und verschwindet nach einem Jahr wieder aus seinem Leben. Misshandlung und Vernachlässigung bestimmten Stevies Leben und seine Entwicklung scheint durch äußere Umstände vorgezeichnet.

“If they had all come together with that kid, he’d been a whole different kid”, sagt ausgerechnet seine Tante richtigerweise. Aber niemand hat sich um Stevie gekümmert, weder seine Mutter, noch später sein “Big Brother”. Oft sehen wir Stevie auf einen Buggy durch Pomona fahren, den Rücken seiner Lederjacke ziert die Aufschrift “All you got?”. Was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker und so beobachtet auch James: “He feels he can take anything”. Als der Regisseur genug Material gesammelt zu haben scheint, verlässt er im Juli 1997 Pomona wieder, während Stevie noch wegen des sexuellen Übergriffs auf seine Cousine im Gefängnis sitzt. “Right now”, sagt James, “doing nothing seems like the safest thing to do”.

Die Lösung ist erneut Nichtstun, das dieses Mal jedoch nur wenige Wochen anhält. Einen Monat später bittet Stevie seinen ehemaligen großen Bruder darum, ihm $100 für seine Kaution zu leihen. James lehnt ab, stattdessen löst Stevies Halbschwester die Kaution. Er ist somit wieder auf freiem Fuß und James macht sich dementsprechend wieder auf gen Süden. Weiterdrehen, neues Material für Stevie sammeln. “Here I was, repaying him by putting his tortured life on display”, wird James später auf die Audiotonspur faseln. Nie hätte er gedacht, dass jener kleine Junge von einst zu seinem Filmobjekt werden würde und nun sei er für ihn nicht mehr als das. Wer braucht schon Feinde, der solche „großen Brüder“ hat?

Stevie ist über weite Strecken ein kruder Mix aus Dokumentation und Exploitation, „Dokuploitation“ wenn man so will. Bemerkenswert ist dabei, wie wenig James sich selbst als Teil des Problems sieht. Welche Wirkung sein ständiges Auftauchen und Fernbleiben in Stevies Leben hat. Auf das einjährige BBBS-Mentoring folgte eine zehnjährige Abwesenheit, auf den ersten Besuch das Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen, das erst zwei Jahre später stattfand, als Stevie im Gefängnis saß. Obschon er versichert, auf Stevies Seite zu stehen, ist er ihm keine $100 Kaution wert, aber natürlich die Reise nach Pomona, als sein Filmobjekt vorläufig entlassen wird. Der Film Stevie steht folglich über dem Menschen Stevie.

Im Gegensatz zu Hoop Dreams oder später auch The Interrupters fehlt Steve James in Stevie das fehlende Fingerspitzengefühl gegenüber seinen Filmobjekten. Die Protagonisten werden emotional ausgeschlachtet zum Mehrwert seiner Dokumentation. In einer Szene gegen Ende des Films hakt James bezüglich eines Streits zwischen Bernice und Brenda nach, den Mutter und Tochter zuvor erfolgreich aus der Welt geschafft haben. Der Regisseur fragt solange, bis er seine gewünschte Antwort erhält, reißt damit jedoch auch die Wunden neu auf. “Told you, I didn’t want to get into it”, wirft ihm Bernice unter Tränen vor. James murmelt eine kleinlaute Entschuldigung und blickt mit seinen traurigen Äuglein in den Raum.

James ist die mit Abstand unsympathischste Figur in diesem Hinterland-Drama, was angesichts solcher Charaktere wie den Frauen schlagenden, nach Matrizid lüsternden und kleine Mädchen missbrauchenden Stevie oder den regionalen Anführer der arischen Bruderschaft durchaus ein Brett ist. Die durch die Bank durchweg interessanten und teils sogar faszinierenden Protagonisten in Stevie sind allesamt authentischer als der renommierte Regisseur aus Chicago. “I thought it would be a glorious experience”, resümierte James zu Beginn des Films hinsichtlich seiner Involvierung als “Big Brother” und war dann nach eigener Aussage froh, als er nach einem Jahr nicht mehr jede Woche nach Pomona fahren musste.

Abgesehen von Steve James’ fehlendem Schuldeingeständnis und seiner Ausnutzung von Stevie und seiner Familie gelingt es Stevie dennoch, die Entwicklung seiner Hauptfigur nachzuverfolgen. Dass Stevie zu dem wurde, der er ist, hat er seinem Umfeld zu verdanken, zu dem auch James selbst gehört. Immer wieder sehen wir dabei gelegentlich Einblicke in die Person und das Leben, das er hätte führen können, wenn alles anders gekommen wäre. Doch Stevie nahm es, wie es kam und scheint dabei zumindest bisweilen durchaus glücklich gewesen zu sein. Dennoch war ihm das Glück nie lange hold und es bewahrheitete sich seine Einschätzung zu Beginn des Films: Wo Stevie auch hingeht, “it’s just nothing but trouble”.

7.5/10

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