15. November 2012

The Invisible War

Don’t risk it. Ask her when she’s sober.

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums hat das US-Militär 2011 mit über 150.000 neuen Rekruten seine Vorgaben erfüllen können. Bedenkt man, dass 2009 rund 15 Prozent der Armee aus Frauen bestand, wären das um die 23.000 Rekrutinnen pro Jahr. Diese Frauen verpflichten sich für den Dienst am Vaterland, darauf vorbereitet, im Notfall für dieses ihr Leben zu lassen. Worauf sie nicht vorbereitet sind, und was jede fünfte Soldatin während ihrer Dienstzeit erleben muss, ist ein sexueller Übergriff, voraussichtlich von einem direkten Vorgesetzten. Vergewaltigung, so ein Gerichtsbeschluss, sei im US-Militär eine „berufsbedingte Gefahr“.

Einem CNN-Artikel von Jackie Speier vom Juni 2012 zufolge, hat man im US-Militär eine 86-prozentige Chance “of keeping your crime a secret”. Kommt es dann doch ans Licht, wird in 92 von 100 Fällen ein Verfahren vermieden. Wer gerne vergewaltigt, so die morbide Schlussfolgerung, ist im US-Militär bestens aufgehoben. Schließlich haben laut einer Studie der US Navy bereits 15 Prozent der Rekruten eine Vergangenheit mit sexuellen Übergriffen. Mit Vergewaltigung in diesem “band of brothers” beschäftigt sich auch Kirby Dicks aufrüttelnder Dokumentarfilm The Invisible War, in dem ehemalige Soldatinnen von sexuellen Übergriffen auf sich berichten.

“Any report of a sexual assault is fully investigated in the United States Navy”, versichert an einer Stelle Rear Admiral Anthony Kurta, Direktor des Military Personnel Plans and Policy Office. Dabei meldet jede vierte Soldatin nicht einmal ihren Übergriff, weil die Person, der sie es melden müsste, diesen selbst getätigt hat. Außerdem arbeitet Dicks Film heraus, dass selbst wenn es zu einer Anzeige kommt, diese meist im Keim erstickt wird. Die Schilderungen der Frauen – der Film beginnt mit einer nicht enden wollenden Anzahl Talking Heads von Betroffenen – zeigt, dass es sich keinesfalls, wie vom Militär darstellt, um Einzelschicksale handelt.

Allein 2010 soll es laut CNN 19.000 solcher Vorfälle gegeben haben – allerdings nur die gemeldeten, wohlgemerkt. Gemeldet haben auch die Interviewten in The Invisible War ihre Vergewaltigungen – getan hat sich wenig, bis auf den emotionalen und teilweise körperlichen Schaden, den die Veteraninnen erlitten haben. So nahm Hannah Sewell in der Navy ein Kamerad ihre Jungfräulichkeit, andere Frauen wurden von ihrem Vergewaltiger sogar schwanger. Kori Cioca gefiel an der Coast Guard die Kameraderie unter den Soldaten, die Disziplin. “Who I wanted to be”, sagt sie, “they taught you there”. Bis sie vergewaltigt und verletzt wurde.

Ihr Vorgesetzter sprengte ihr Kiefergelenk, inzwischen kann sie keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen, aufgrund der Kälte im Winter nicht mit ihrer Tochter draußen spielen. Vor ihr auf dem Tisch stehen über zwei Dutzend Tablettenröhrchen, die sie für ihre Schmerzen schlucken muss. Die Übernahme der Kosten lehnt das Militär ab, da Cioca aufgrund der Vergewaltigung zwei Monate vor Dienstende bereits aus der Armee austrat. Ebenso wie ihr Mann, den sie dort kennengelernt hat. Wie die anderen Interviewten hat sie sich trotz der Folgeschäden ein halbwegs normales Leben aufbauen können – was nicht jeder Veteranin widerfährt.

“40 per cent of homeless, female veterans have been raped while they’ve been serving”, weiß die Autorin Helen Benedict. Nicht wenige von ihnen haben einen Selbstmordversuch oder zumindest den Gedanken an einen solchen hinter sich. Ein Gefühl der Unsicherheit beschleicht Trina McDonald bis heute, seit sie von einem vermeintlichen Freund auf ihrer Navy-Station vergewaltigt wurde. “I got there in February”, erinnert sie sich. “By April I was drugged and raped for the first time.” Als einzige Frau unter zehn Männern sei sie sich vorgekommen wie ein Stück Fleisch. Die Schuld, das zeigt The Invisible War, wird derweil oft bei den Frauen selbst gesucht.

So warf man einer Soldatin vor, sie hätte sich zu aufreizend gekleidet – dabei hatte sie lediglich ihre Uniform an. Die angeblichen Auslöser für die Taten, ebenso wie ihre Nichtverfolgung, sind verstörend. Ebenso wie Dicks kurzzeitiger Ausflug in einen scheinbar noch weitaus dunkleren Abgrund, als plötzlich mit Michael Matthews ein Veteran von einer Vergewaltigung berichtet. Der ehemalige Air Force Soldat wurde in jungen Jahren von zwei unbekannten Kameraden vergewaltigt – ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Rund ein Prozent der männlichen Soldaten widerfährt dieses Schicksal jedes Jahr, was weniger klingt, aber mehr ist als bei den Frauen.

Denn dadurch, dass es mehr männliche als weibliche Soldaten gibt, ist die Zahl der Betroffenen mit über 20.000 Fällen höher. Vergewaltigung in der Armee, so das Ergebnis, ist nicht auf das Geschlecht des Opfers bezogen. Auch wenn sich verschiedene Kampagnen gegen sexuelle Übergriffe – darunter der zynische Hinweis “Don’t risk it. Ask her when she’s sober” – primär zum Schutz der Soldatinnen aussprechen. Die Auswirkungen sind evident: Auf die Frage, ob sie ihre Töchter beim Militär sehen wollen, verneinen alle Interviewten. “I was always taught that it’s every citizen’s duty to join the military”, sagt Jessica Hinves. “If you can, you should.”

Sie stammt wie einige andere Soldatinnen aus einer Militärfamilie. Und hier fragt man sich als Zuschauer durchaus, ob ihre Männer oder Väter, die teils als hochrangige Offiziere angestellt sind, konkret etwas unternommen haben. Einige von ihnen spricht Dick zwar, allerdings berichten sie nicht von eigenen Handlungen. Und trotz der Inklusion von Michael Matthews gehen die sexuellen Übergriffe auf Männer etwas unter, wo sie doch die Mehrheit der Fälle ausmachen, ebenso wie zum Schluss zwar viele Politiker viel reden, aber ebenfalls nicht auf mögliche Handlungen und Maßnahmen angesprochen werden. Hier hätte der Film noch Potenzial gehabt.

Aber auch so ist es erschütternd, wie in The Tillman Story zuvor erneut aufgezeigt zu bekommen, aus was für Menschen sich das US-Militär genau zusammenstellt und wozu die Leitung dieses Apparates im Stande ist, um seine Täter zu schützen und seine Opfer zu benachteiligen. Denn während die Hannah Sewells ihrer Jungfräulichkeit beraubt und die Kori Ciocas unwiderruflich verletzt wurden, hat das US-Militär nicht nur nie Verfahren gegen die Täter aufgenommen, sondern diese teils sogar ausgezeichnet oder befördert. Dabei sind sexuelle Übergriffe in der Armee kein reines US-Phänomen, sondern kommen auch bei uns in der Bundeswehr vor.

Rund 80 Vorfälle werden dort jährlich gemeldet, wobei nur ein Viertel der Soldatinnen dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr nach die sexuellen Übergriffe überhaupt zur Anzeige bringt. Ganz so dramatisch wie in den USA scheint die Situation aber zumindest hierzulande (noch) nicht zu sein – und vermutlich würden Vergewaltigungen auch hier nicht als Berufsgefahr ausgelegt werden. Frauen in den USA sei in Bezug auf die Einschreibung zum Dienst beim Militär jedenfalls geraten: Don’t risk it. Denn wenn The Invisible War dem Zuschauer etwas zeigt, dann dass der berühmte US Army-Slogan “Be All You Can Be” für viele nicht viel heißt.

8/10

2 Kommentare:

  1. Das war einer der Dokus, die mich dann doch mehr interessiert haben (im Gegensatz zu Head Games ;)). Hört sich alles ziemlich heftig an und sehr erschreckend, dass es im Militär sich so eine 'Normalität' entwickelt hat rund um das Thema.
    Passend dazu hat auch The Good Wife eine Episode zu dem Thema gehabt. Guter Weckruf, dass solche Taten nicht unter den Teppich gekehrt werden dürfen. Die Doku merk ich mir auf jeden Fall vor.

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    1. Was alles im Militär geschieht, ist in der Tat erschreckend. Da merkt man, dass "band of brothers" auch total 1944 ist.

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