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24. August 2018

The Bleeding Edge

Get. Outta. Town.

Als in Monty Pythons The Meaning of Life im ersten Kapitel “The Miracle of Birth” eine Frau zur Entbindung in den OP-Saal eines Krankenhauses gebracht wird, ordern die Ärzte erst einmal allerlei Maschinen. Nicht zu vergessen “the machine that goes ‘ping!’”, seines Zeichens das teuerste Gerät im Hospital. Die Geburt erledigt sich dann quasi von selbst, der allerneusten Technik (im Englischen “bleeding edge”) sei Dank. Jene medizinischen Geräte und der aus ihnen resultierenden Technik-Wahn sind es, denen sich Kirby Dick in seiner Dokumentation The Bleeding Edge widmet. Diese handelt davon, dass neu nicht unbedingt besser heißen muss und medizinische Vorrichtungen mehr Schaden anrichten können als Gutes.

Das Hauptaugenmerk richtet der Film dabei auf Essure, eine vom Pharmakonzern Bayer vertriebene Sterilisations-Alternative für Frauen. Statt die Eileiter abzuklemmen versprach Essure in einem 45-minütigen narkosefreien Eingriff eine Metallspule in diese einzusetzen. Sie würden ein Narbengewebe fördern, das die Eileiter verschließt – so die Idee. Allerdings klagten Frauen wie Angie Firmalino oder Ana Fuentes im Anschluss über Beschwerden und Blutungen. Und waren nicht alleine. Firmalino gründete eine Facebook-Gruppe für Betroffene, die bald mehrere Tausend Teilnehmer umfasste. 16.000 von ihnen haben seither Klage gegen Bayer eingereicht, das Unternehmen inzwischen die Einstellung von Essure veranlasst.

Quasi in Nebenhandlungen führt Dick noch die Beispiele von Tammy Jackson und Dr. Stephen Tower an. Erstere ist selbst Krankenschwester, litt unter Blasenproblemen und ließ sich auf Anraten ihrer Ärzte ein chirurgisches Maschennetz in den Unterleib verpflanzen. Dieses soll Organen Stabilität verleihen – verursachte Jackson jedoch Schmerzen und Beschwerden, die auch nach 19 weiteren Operationen nicht behoben sind. Nicht kommunizierte Risiken und Nebenwirkungen zog auch ein aus Kobalt gefertigtes Hüftgelenk bei Dr. Tower nach sich. Als er sich dieses nach Demenzerscheinungen austauschen ließ, stellten die Ärzte fest, dass der Kobalt das umliegende Gewebe angegriffen hatte und in den Blutstrom des Patienten überging.

“There’s this tremendous hunger to have the latest gadgets, the newest technology, without the proper evaluation”, bringt es Dr. Martin Makary, Dozent an der John Hopkins University auf den Punkt. The Bleeding Edge nennt es in seinem Vorspann “unleashing innovation” – der Glauben, dass neue medizinische Geräte automatisch besser seien. Was auch der Fall sein kann, insofern sie einer entsprechenden Prüfung unterzogen werden. “Premarket approval” nennt sich das, findet allerdings in der Praxis kaum so statt. Stattdessen wird die so genannte Methode “510(k)” angewandt, eine Produktfreigabe auf Basis der Ähnlichkeit mit einem bereits zugelassenen Produkt. Nur: Was als Ausnahme gedacht war, ist nun zur Regel verkommen.

Der Grund, so macht es die Dokumentation Glauben, scheint simpel: Geld. Die Medizingeräte-Industrie boomt und macht weltweit fast 400 Milliarden Dollar Umsatz jedes Jahr. Und verdient letztlich Geld mit der mangelnden Gesundheit der Menschen. 70 Millionen Amerikaner – und damit jeder Fünfte – tragen eine medizinische Vorrichtung in ihrem Körper, schreibt Autorin Jeanne Lenzer. Die Geräte stellen ein Geschäft dar, jede Computertomografie bringt bares Geld – erhöht zugleich aber auch das Krebsrisiko. Für die Pharmaindustrie sicher ein geringeres Übel, da sich mit Krebsbehandlungen weiterverdienen lässt. Entsprechend machen ihre Vertreter bei Ärzten Lobbyarbeit, um ihre Produkte bei den Medizinern an den Mann zu bringen.

Die Fäden müssten im Grunde bei der US-Gesundheitsbehörde FDA zusammenlaufen, doch The Bleeding Edge zeigt, dass die in der Regel bereits von Lobbyisten unterwandert ist. Geräte werden nicht ausreichend auf ihr medizinisches Risiko und Nachwirkungen geprüft, sodass sie schneller auf den Markt kommen und Absatz generieren. Die Leidtragenden sind die Patienten, von denen Kirby Dick einige zeigt. Sympathische Menschen mit teils erschreckenden Krankenakten berichten über Schmerzen, zu Ende gegangene Beziehungen und verlorene Sexualleben. Ähnlich wie in seinen vorangegangenen Werken wie den Vergewaltigungsaufarbeitungen The Invisible War und The Hunting Ground ist Dick nah an seinen Protagonisten.

Zugleich liefert die Dokumentation nicht ausreichend Einblick in die Hintergründe der Komplikationen. Wie genau sahen diese nun bei Essure aus, wieso zerstört Kobalt das im Körper umliegende Gewebe und warum eignen sich chirurgische Maschen nur in manchen aber nicht in allen Fällen? Zwar kommen einzelne Mediziner und Chirurgen zu Wort, wirklich die Hintergründe beleuchtet der Film aber nicht. So steht es ein wenig für sich, wenn ein Arzt berichtet, er benötigte eher 200 statt 20 Einsätze mit dem Da-Vinci-Operations-System, einem riesigen Roboter-Apparat, mit dem der Chirurg per Fernsteuerung beispielsweise Hysterektomien durchführt. Wieso bedarf es zum Gabelstaplerfahren eines Scheins, aber nicht für Da Vinci?

Die Folgen scheinen enorm, was nicht nur die 16.000 Anklagen gegen Bayer zeigen, sondern auch die über 120 Millionen Dollar Schadensersatz, die der Pharmakonzern Johnson & Johnson, Hersteller der chirurgischen Masche, an Betroffene zahlte. The Bleeding Edge schließt mit diesen Informationen als Texttafel, anstatt sie zum Anlass für eine stärkere Hinterfragung zu nutzen. Grundsätzlich erfüllt der Film aber seinen Zweck, dass der Zuschauer sich zweimal überlegt, ob er unbedingt einen Fremdkörper in seinem Körper will. Und wenn, bewährte Eingriffe neuer unerprobter Innovationstechnologien vorzieht. „Nützen oder wenigstens nicht schaden“, benannte Hippokrates von Kos seiner Zeit schon die Richtschnur bei der Behandlung von Kranken.

6.5/10

15. November 2012

The Invisible War

Don’t risk it. Ask her when she’s sober.

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums hat das US-Militär 2011 mit über 150.000 neuen Rekruten seine Vorgaben erfüllen können. Bedenkt man, dass 2009 rund 15 Prozent der Armee aus Frauen bestand, wären das um die 23.000 Rekrutinnen pro Jahr. Diese Frauen verpflichten sich für den Dienst am Vaterland, darauf vorbereitet, im Notfall für dieses ihr Leben zu lassen. Worauf sie nicht vorbereitet sind, und was jede fünfte Soldatin während ihrer Dienstzeit erleben muss, ist ein sexueller Übergriff, voraussichtlich von einem direkten Vorgesetzten. Vergewaltigung, so ein Gerichtsbeschluss, sei im US-Militär eine „berufsbedingte Gefahr“.

Einem CNN-Artikel von Jackie Speier vom Juni 2012 zufolge, hat man im US-Militär eine 86-prozentige Chance “of keeping your crime a secret”. Kommt es dann doch ans Licht, wird in 92 von 100 Fällen ein Verfahren vermieden. Wer gerne vergewaltigt, so die morbide Schlussfolgerung, ist im US-Militär bestens aufgehoben. Schließlich haben laut einer Studie der US Navy bereits 15 Prozent der Rekruten eine Vergangenheit mit sexuellen Übergriffen. Mit Vergewaltigung in diesem “band of brothers” beschäftigt sich auch Kirby Dicks aufrüttelnder Dokumentarfilm The Invisible War, in dem ehemalige Soldatinnen von sexuellen Übergriffen auf sich berichten.

“Any report of a sexual assault is fully investigated in the United States Navy”, versichert an einer Stelle Rear Admiral Anthony Kurta, Direktor des Military Personnel Plans and Policy Office. Dabei meldet jede vierte Soldatin nicht einmal ihren Übergriff, weil die Person, der sie es melden müsste, diesen selbst getätigt hat. Außerdem arbeitet Dicks Film heraus, dass selbst wenn es zu einer Anzeige kommt, diese meist im Keim erstickt wird. Die Schilderungen der Frauen – der Film beginnt mit einer nicht enden wollenden Anzahl Talking Heads von Betroffenen – zeigt, dass es sich keinesfalls, wie vom Militär darstellt, um Einzelschicksale handelt.

Allein 2010 soll es laut CNN 19.000 solcher Vorfälle gegeben haben – allerdings nur die gemeldeten, wohlgemerkt. Gemeldet haben auch die Interviewten in The Invisible War ihre Vergewaltigungen – getan hat sich wenig, bis auf den emotionalen und teilweise körperlichen Schaden, den die Veteraninnen erlitten haben. So nahm Hannah Sewell in der Navy ein Kamerad ihre Jungfräulichkeit, andere Frauen wurden von ihrem Vergewaltiger sogar schwanger. Kori Cioca gefiel an der Coast Guard die Kameraderie unter den Soldaten, die Disziplin. “Who I wanted to be”, sagt sie, “they taught you there”. Bis sie vergewaltigt und verletzt wurde.

Ihr Vorgesetzter sprengte ihr Kiefergelenk, inzwischen kann sie keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen, aufgrund der Kälte im Winter nicht mit ihrer Tochter draußen spielen. Vor ihr auf dem Tisch stehen über zwei Dutzend Tablettenröhrchen, die sie für ihre Schmerzen schlucken muss. Die Übernahme der Kosten lehnt das Militär ab, da Cioca aufgrund der Vergewaltigung zwei Monate vor Dienstende bereits aus der Armee austrat. Ebenso wie ihr Mann, den sie dort kennengelernt hat. Wie die anderen Interviewten hat sie sich trotz der Folgeschäden ein halbwegs normales Leben aufbauen können – was nicht jeder Veteranin widerfährt.

“40 per cent of homeless, female veterans have been raped while they’ve been serving”, weiß die Autorin Helen Benedict. Nicht wenige von ihnen haben einen Selbstmordversuch oder zumindest den Gedanken an einen solchen hinter sich. Ein Gefühl der Unsicherheit beschleicht Trina McDonald bis heute, seit sie von einem vermeintlichen Freund auf ihrer Navy-Station vergewaltigt wurde. “I got there in February”, erinnert sie sich. “By April I was drugged and raped for the first time.” Als einzige Frau unter zehn Männern sei sie sich vorgekommen wie ein Stück Fleisch. Die Schuld, das zeigt The Invisible War, wird derweil oft bei den Frauen selbst gesucht.

So warf man einer Soldatin vor, sie hätte sich zu aufreizend gekleidet – dabei hatte sie lediglich ihre Uniform an. Die angeblichen Auslöser für die Taten, ebenso wie ihre Nichtverfolgung, sind verstörend. Ebenso wie Dicks kurzzeitiger Ausflug in einen scheinbar noch weitaus dunkleren Abgrund, als plötzlich mit Michael Matthews ein Veteran von einer Vergewaltigung berichtet. Der ehemalige Air Force Soldat wurde in jungen Jahren von zwei unbekannten Kameraden vergewaltigt – ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Rund ein Prozent der männlichen Soldaten widerfährt dieses Schicksal jedes Jahr, was weniger klingt, aber mehr ist als bei den Frauen.

Denn dadurch, dass es mehr männliche als weibliche Soldaten gibt, ist die Zahl der Betroffenen mit über 20.000 Fällen höher. Vergewaltigung in der Armee, so das Ergebnis, ist nicht auf das Geschlecht des Opfers bezogen. Auch wenn sich verschiedene Kampagnen gegen sexuelle Übergriffe – darunter der zynische Hinweis “Don’t risk it. Ask her when she’s sober” – primär zum Schutz der Soldatinnen aussprechen. Die Auswirkungen sind evident: Auf die Frage, ob sie ihre Töchter beim Militär sehen wollen, verneinen alle Interviewten. “I was always taught that it’s every citizen’s duty to join the military”, sagt Jessica Hinves. “If you can, you should.”

Sie stammt wie einige andere Soldatinnen aus einer Militärfamilie. Und hier fragt man sich als Zuschauer durchaus, ob ihre Männer oder Väter, die teils als hochrangige Offiziere angestellt sind, konkret etwas unternommen haben. Einige von ihnen spricht Dick zwar, allerdings berichten sie nicht von eigenen Handlungen. Und trotz der Inklusion von Michael Matthews gehen die sexuellen Übergriffe auf Männer etwas unter, wo sie doch die Mehrheit der Fälle ausmachen, ebenso wie zum Schluss zwar viele Politiker viel reden, aber ebenfalls nicht auf mögliche Handlungen und Maßnahmen angesprochen werden. Hier hätte der Film noch Potenzial gehabt.

Aber auch so ist es erschütternd, wie in The Tillman Story zuvor erneut aufgezeigt zu bekommen, aus was für Menschen sich das US-Militär genau zusammenstellt und wozu die Leitung dieses Apparates im Stande ist, um seine Täter zu schützen und seine Opfer zu benachteiligen. Denn während die Hannah Sewells ihrer Jungfräulichkeit beraubt und die Kori Ciocas unwiderruflich verletzt wurden, hat das US-Militär nicht nur nie Verfahren gegen die Täter aufgenommen, sondern diese teils sogar ausgezeichnet oder befördert. Dabei sind sexuelle Übergriffe in der Armee kein reines US-Phänomen, sondern kommen auch bei uns in der Bundeswehr vor.

Rund 80 Vorfälle werden dort jährlich gemeldet, wobei nur ein Viertel der Soldatinnen dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr nach die sexuellen Übergriffe überhaupt zur Anzeige bringt. Ganz so dramatisch wie in den USA scheint die Situation aber zumindest hierzulande (noch) nicht zu sein – und vermutlich würden Vergewaltigungen auch hier nicht als Berufsgefahr ausgelegt werden. Frauen in den USA sei in Bezug auf die Einschreibung zum Dienst beim Militär jedenfalls geraten: Don’t risk it. Denn wenn The Invisible War dem Zuschauer etwas zeigt, dann dass der berühmte US Army-Slogan “Be All You Can Be” für viele nicht viel heißt.

8/10