29. Dezember 2017

Uncertain

Yay, beer!

Wenn die Gesellschaft dir den Rücken zukehrt, drehst du der Gesellschaft ebenfalls den Rücken zu. Ganz getreu nehmen es die Einwohner von Uncertain, Texas nicht mit der Philosophie von Timon aus The Lion King. Und doch bleiben sie weitestgehend für sich, in ihrem 94-Seelen-Dorf am Caddo Lake, der in den benachbarten Bundesstaat Louisiana übergeht. Dies sorgt wiederum dafür, dass sich Menschen mit juristischen Problemen über den See nach Uncertain aufmachen. “Uncertain is a good place to hide”, weiß der lokale Sheriff Tom McCool. Auch die drei Protagonisten in Uncertain, dem Dokumentarfilm von Anna Sandilands und Ewan McNicol, haben bereits ihre Erfahrungen mit dem Gesetz gemacht. Und ihre Lehren daraus gezogen.

Zum Beispiel Henry Lewis, der einst im Streit einen jungen Mann erschoss und nun mit dem Gedanken hadert, womöglich im Jenseits nicht mit seiner Familie vereint zu werden. Er wisse, er hat viel Schlechtes in seinem Leben getan. Aber es sei auch viel Gutes darunter gewesen, sinniert der alternde Mann gegen Ende. Ebenfalls geläutert gibt sich Wayne Smith. Der ehemalige Junkie hat viele Jahre im Gefängnis verbracht, unter anderem weil er einem jungen Mann alkoholisiert bei einem Verkehrsunfall das Leben nahm. Heute teilt er sich mit seiner Frau in einem Trailer Park ein Wohnmobil und verbringt seine Nächte mit der Jagd auf Mr. Ed, einen hiesigen Eber. Er und seine Frau “built a life beyond anything we ever dreamed”, verrät Wayne.

So weit ist Zach Warren dagegen noch nicht. Der junge Diabetiker kämpft noch gegen seine Sucht an. Mit 21 gehe man in Uncertain in Rente, erzählt er eingangs. Denn dann gibt es in dem Örtchen nichts mehr für einen zu tun – außer sich zum Biertrinken in die lokale Bar zurückzuziehen. Uncertain, scheint es, ist kein Ort, um sich eine Zukunft aufzubauen. Sondern um seine Vergangenheit zu vergessen. “Uncertain is not on the way to anywhere”, beschreibt Sheriff McCool. “You’re either got to know where you’re going or be lost to find it.” Das trifft es eigentlich ganz gut, um die Bevölkerung am Rande der Gesellschaft in dem überschaubaren See-Dorf zu skizzieren. Ein Platz von Vergessenen oder denjenigen, die vergessen (werden) wollen.

Aber zugleich, wie Sandilands und McNicols Film zeigt, ein Ort mit vielen faszinierenden Facetten. Nicht nur wegen des fantastischen Ortsnamens, der zu tollen Beschreibungen wie The Church of Uncertain und ähnlichem führt. Grundsätzlich zeigt uns Uncertain keine schlechten Menschen, eher das Gegenteil. Zach ist aufrichtig und sympathisch, aber eben auch ein Kind seiner Umstände. Seine Heimat hält keine Zukunft für ihn bereit jenseits der Bier-Bars, das weiß er selbst auch. Weshalb er im Verlauf einen Neuanfang in Austin versucht. Er muss wie Henry und Wayne lernen, mit sich selbst und seinen Dämonen fertig zu werden. Gerade Wayne scheint diese in seine an Moby Dick erinnernde Jagd auf seine Nemesis Mr. Ed zu projizieren.

An vielen Stellen erinnert Uncertain bisweilen an Errol Morris’ Vernon, Florida, wenn sich der Film diesen von der Gesellschaft eher belächelten Charakteren widmet. Es dürfte viele überraschen, wie zufrieden Wayne mit seiner Trailer-Park-Situation wirkt, bis er in der zweiten Hälfte der Doku von seinen dunkelsten Momenten erzählt. Sandilands und McNicol sind nah dran an ihren Figuren und überfrachten die Geschichte nicht mit zu vielen von ihnen. In gewisser Weise repräsentieren Henry, Wayne und Zach drei Generationen, was die Parallelen zwischen ihnen nur noch tragischer, aber zugleich optimistisch macht. Obschon ein weiblicher Blick auf den Ort nicht geschadet hätte, selbst wenn Zach moniert, es gäbe kaum Frauen in ihm.

Die Bewohner von Uncertain kämpfen für ihr Recht zu existieren. Das eint sie mit dem Caddo Lake, der von einer Schwimmfarn-Plage befallen ist, die ihn zu ersticken droht. Weshalb mit Lee Eisenberg eine der Nebenfiguren bemüht ist, Rüsselkäfer zu züchten, die dem Farn Einhalt gebieten können. Es bedarf Stärke, um in Uncertain zu bestehen. “Not that I may best my brother, but that I may defeat my greatest enemy, myself”, wie Wayne ein altes Sprichwort amerikanischer Ureinwohner zitiert. Auch wenn Uncertain sicher ein idealer Ort ist, um sich zu verstecken, so zeigt der Dokumentarfilm von Anna Sandilands und Ewan McNicol doch auch, dass es ein Ort ist, an dem es viel zu entdecken gibt. Man muss nur wissen, wie man ihn findet.

6.5/10

22. Dezember 2017

Dawson City: Frozen Time

What power has gold to make men endure it all?

Das Gebiet um den Klondike und Yukon River war kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert der zentrale Anlaufpunkt des Goldrauschs. In Heerscharen zogen Abertausende gen Yukon in Kanada, um dort im Boden auf das begehrte Element zu stoßen. Selbst 1978 war dies noch der Fall, obgleich der Schatz, der in Dawson City ausgehoben wurde, kein Gold, aber doch Gold wert war. Über 500 verlorene Stummfilme förderten Bauarbeiten zu Tage, Jahrzehnte zuvor als Füllmaterial in einem zugeschütteten Pool gebunkert. Regisseur Bill Morrison nutzte die im Permafrost bewahrten Filme in seiner Dokumentation Dawson City: Frozen Time, um die Geschichte von Dawson City und die Rolle der Stadt während des Goldrausches nachzuerzählen.

“An incredible story”, nennt Morrison die Vorfälle in einem Fernsehinterview zu Beginn. Unglaublich ist auch sein Film geraten, der ausschließlich mit Archivmaterial – historische Fotos und Symbolbilder aus den gefundenen Stummfilmen – von den Anfängen Dawsons über deren Hochphase bin hin zu ihrem Niedergang berichtet. Dabei huldigt er zum einen der Stadt selbst, die aus dem Goldrausch heraus entstand und diesen merklich befeuerte. Aber er würdigt auch die verloren geglaubten Filme – vielleicht sogar zu ausgiebig. Kongenial musikalisch von Alex Somers begleitet, erschafft Morrison eine faszinierende Art der cineastischen Zeitreise, mit Einblicken in die Historie und den vermeintlichen Absturz einer Stadt sowie des Mediums Stummfilm.

Den Anfang machten erste Goldfunde von George Carmack in der damaligen Gegend gegen 1896. Der Schürfer Joseph Ladue erkannte das Potential des Geländes und erstand einen Großteil, um dann Flächen davon zu verpachten. Ein Jahr später tummelten sich bereits 3.500 Einwohner in dem nun Dawson City getauften Fleckchen. Als im selben Jahr insgesamt fünf Tonnen Gold geschürft wurden, rief die Nachricht etliche Nachahmer auf den Plan. Dem Ruf des Goldes folgten 100.000 Menschen – auch wenn ein Großteil von 70.000 unterwegs auf dem beschwerlichen Chilkoot Pass umkehrte oder starb. Dennoch wuchs Dawson bis 1898 auf eine Bevölkerung von 40.000 an und florierte. Ehe wenige Monate später der Hype wieder vorbei schien.

Ein Großteil der Schürfer zog 1899 nach Nome weiter, als dort Gold entdeckt wurde. Dawsons Einwohnerzahl fiel auf 10.000, ein Jahrzehnt später waren es dann nur noch 3.000 Bewohner. Weniger als nach dem ersten Jahr. Etwas verwunderlich, da doch 1900 noch über eine Million Unzen Gold entdeckt wurde – mit einem heutigen Gegenwert von 15 Milliarden Dollar, so Morrison. Wer noch in Dawson lebte, holte nun seine Familie nach. “They built the town they hoped to live in for the rest of their lives”, berichtet der Film. Das Glücksspiel wurde abgeschafft, die Prostitution aus der Stadt verdrängt. Stattdessen wurde gebaut: Kinotheater und Erholungszentren, darunter auch für viel Geld die Dawson Amateur Athletic Association (D.A.A.A.).

Die Verbindung von Dawson zum Kino scheint in die Wiege gelegt, hat es in Dawson City: Frozen Time den Anschein. So lebten einst der Unternehmer Sid Grauman und der Kinobetreiber Alex Pantages in der Stadt, die für ihre rund 3.000 Bewohner im Jahr 1911 gleich drei Kinos bereithielt. “Dawson had an idle, captive audience that was ready to be entertained”, hieß es zuvor bereits. Hunderte Stummfilme sah sich die Bevölkerung jedes Jahr an, und erlebte so selbst im abgelegenen Yukon Eindrücke aus dem New Yorker Central Park oder von exotischen Orten wie Palästina, Indien und Afrika. Und da Dawson innerhalb der Filmverleihroute die Endstation markierte und die Kinobetreiber für Rücksendungen zu geizig waren, bildete sich ein Archiv.

Eines, das spätestens mit Aufkommen des Tonfilms im Jahr 1929 dann allerdings plötzlich hinfällig war. Viele Betreiber zerstörten die inzwischen angehäuften Stummfilme – bereits zuvor waren etliche von ihnen als Füllmaterial des Pools in der D.A.A.A. verwendet worden, als dieser geglättet wurde, um als Fläche und Untergrund für das lokale Eishockey-Team zu dienen. Letztlich ein Segen, als sie – zwar durch den Permafrost angegriffen, aber immerhin bewahrt – über 50 Jahre später bei Bauarbeiten auf dem D.A.A.A.-Gelände wiederentdeckt wurden. Ein Schatz auf seine ganz eigene Weise, informierte die Dokumentation doch direkt zu Beginn darüber, dass 75 Prozent der gedrehten Stummfilme heute nicht mehr existieren.

Morrison selbst ist mit dem Sujet bestens vertraut, widmete er sich doch bereits 2002 in Decasia dem Verfall von Stummfilmen. Jene Passion mag dann auch erklären, wieso Dawson City: Frozen Time gerade in seinem Schlussdrittel eine Vielzahl an Clips der gefundenen Stummfilme präsentiert. Sie zeigen oft verschiedene identische Momente aus den unterschiedlichen Werken, was sie wiederum etwas repetitiv macht. Genauso wie an manchen Stellen etwas die Einordnung der Stadthistorie fehlt, zum Beispiel warum trotz des neuerlichen Goldfundes von 1900 die Bevölkerungszahl dennoch nicht erneut zu-, sondern weiter abnahm. So lebten 1950 schließlich nur noch etwas weniger als 900 Menschen in dem früheren Goldrausch-Mekka.

Dennoch gelang Morrison mit seinem jüngsten Film ein kleines Meisterwerk, dank der harmonischen Symbiose aus Archivbildern und Somers emotionaler Komposition. Auch die Wahl mit Texttafeln statt einer Erzählstimme verleiht Dawson City: Frozen Time nochmals etwas Besonderes und nimmt ihm das Feeling eines PBS-Specials. So honoriert Bill Morrison letztlich überzeugend der Historie der kleinen Stadt in Yukon sowie der Bedeutung und Geschichte des Stummfilms gleichermaßen. Informativ und unterhaltsam zugleich – mehr kann ein Zuschauer im Grunde nicht von einer Dokumentation erwarten. Weshalb für sich gesehen konsequenter Weise daher auch Dawson City: Frozen Time ein Schatz ist, den es für Filmlieber gilt, auszugraben.

7.5/10

15. Dezember 2017

The Killing of a Sacred Deer

The operation was a success but unfortunately the doctor didn’t make it.

Mit Verlusten im Leben zurecht zu kommen, ist für viele keineswegs einfach. Frust, Wut, Trauer, Resignation können damit einhergehen und Menschen verzweifeln lassen. Der griechische Auteur Giorgos Lanthimos konfrontiert in seinen Werken immer wieder seine Figuren mit Verlusten. Fehlte es den Kindern in Kynodontas an ihrer Freiheit, kompensierten die Charaktere in Alpeis konkret menschliche Verluste als Trauerbegleitung. Beides wiederum wohnt zugleich Lathimos’ letztjährigem Meisterwerk The Lobster inne. Nach dem Verlust des Partners droht den Charakteren darin das Ende ihrer sozialen und menschlichen Existenz, wenn sie keinen Ersatz finden. Verluste sind es auch, die den Kern von The Killing of a Sacred Deer bilden.

Darin verlor der 16-jährige Martin (Barry Keoghan) vor einigen Jahren seinen Vater während einer Herzoperation. Die Schuld gibt er dem diensthabenden Kardiologen Steven (Colin Farrell), der sich wiederum in seiner Freizeit des Jungen annimmt und Zeit mit ihm verbringt. Als er Martin in sein Haus einlädt und ihn seiner Familie vorstellt, will dieser die Einladung erwidern. Doch Martins Versuche, Steven mit seiner Mutter (Alicia Silverstone) zu verkuppeln, scheitern. Frustriert stellt der Jugendliche dem Arzt ein Ultimatum: Entweder er tötet als Ausgleich für den durch ihn verursachten Tod von Martins Vater eines seiner eigenen Familienmitglieder oder alle werden einer mysteriösen und letztlich tödlichen Krankheit anheimfallen.

Damit ist fast schon zu viel gesagt, ist das stärkste Faustpfand von The Killing of a Sacred Deer doch seine bedrohlich-verstörende Atmosphäre. So wirkt das erste Treffen von Steven und Martin im Film wie das eines Vaters mit seinem entfremdeten ältesten Sohn. Und als sich herausstellt, dass die Figuren nicht verwandt sind, wird die Beziehung zwischen dem Erwachsenen und dem Teenager noch undeutlicher. Ebenjene Beziehungen der Charaktere zu- und untereinander spielen ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle bei Lanthimos. Von Martins Bestreben, seiner Mutter neues Glück an der Seite des von ihr verehrten Steven zu schenken und diesen offiziell zum Vater-Ersatz zu machen hin zum Verhältnis von Steven zu seinen Kindern.

In kurzen Momenten skizziert der Regisseur dabei, dass Tochter Kim (Raffey Cassidy) ihrem Vater und Sohn Bob (Sunny Suljic) seiner Mutter Anna (Nicole Kidman) näher ist. Die übernimmt auch mal die häuslichen Pflichten des jüngsten Kindes, verteilt diese aber bereitwillig auf dessen Schwester, nachdem Bob als erstes dem „Fluch“ von Martin zum Opfer fällt. Naturgemäß nimmt Steven die Drohung des Jugendlichen anfangs nicht ernst. Die plötzliche Lähmung des Sohns wird als Vorwand zum Schule schwänzen abgetan. Zumal die Kollegen im Krankenhaus keine medizinische Erklärung für dessen Symptome haben. Lange Zeit befassen sich die Figuren somit gar nicht mit der Frage, wer zu opfern wäre, sollte es beim Status quo bleiben.

In gewisser Weise teilt sich The Killing of a Sacred Deer in drei Akte auf. Dem ersten, der die Exposition für die Handlung liefert, mit Stevens und Martins Verhältnis und ihren Familien als unbeteiligte Dritte. Im Mittelteil begleitet Lanthimos den allmählichen gesundheitlichen Verfall innerhalb Stevens Familie sowie dessen Frust und seine daraus geborene Wut ob der Situation. Erst im Schlussakt gewinnt die Geschichte eine neue, von Martin angestrebte Dynamik der Eskalation, kulminierend in einem Finale, das wie eine Symbiose aus Richard Kelly und Michael Haneke wirkt. Nebenbei dröselt der Film hinsichtlich der Umstände auch die Frage nach Verantwortung sowie dem klassischen patriarchalischen Rollenbild innerhalb der Familie auf.

Er sei nun in Abwesenheit seines Vaters der Mann im Haus, adressiert Martin beispielsweise in einer Szene Bob. Im Wissen, dass er, Martin, nun selbst nach dem Tod seines Vaters der Mann bei sich daheim ist. Und verantwortlich für seine Mutter, wie auch Anna, Kim und Bob im Grunde zu Steven blicken als Konfliktlöser ihrer Probleme. So absonderlich Martin in vielen seiner Szenen erscheint, so bedürftig nach (väterlicher) Liebe ist er womöglich. “Can I give you a hug?”, fragt er Steven da zu Beginn, als dieser ihm ein Geschenk macht. Und fragt den Arzt später in einer anderen Szene gar nicht mehr, sondern umarmt diesen einfach. Auf seine Weise versucht Martin, mit seinem Verlust klarzukommen. Scheitert aber daran, ihn zu ersetzen.

Verantwortung muss Steven auch für jenen Vorfall übernehmen, der ursächlich für die im Film gezeigten Ereignisse ist. Martins Schuldvorwurf mag aus der Trauer geboren sein, doch er scheint den Tatsachen zu entsprechen. Zwar schieben sich Steven und sein Anästhesist Matthew (Bill Camp) gegenseitig die Schuld für die misslungene Operation zu, doch die Annahme, Steven habe unter Alkoholeinfluss das Skalpell geschwungen, wird befeuert durch die Tatsache, dass er seit ebenso vielen Jahren nicht mehr trinkt wie die fatale Operation her ist. Es ist nicht das erste und einzige Mal im Film, als sich Steven seiner Verantwortung entzieht, der er sich gegen Ende wider Willen und besseren Wissens dann aber doch stellen muss.

The Killing of a Sacred Deer wird dabei weniger von seiner Prämisse getragen – wie erwähnt treibt Lanthimos sie erst im Schlussakt in das für ihn typische Absurde – oder von der Tiefe seiner Handlung als von der Stimmung, die Film und Figuren begleitet. Die Wahl auf den unscheinbaren Barry Keoghan als böswilligen Rachsüchtigen ist ungewöhnlich und auf ihre Art durchaus überzeugend. Colin Farrell bewies bereits in The Lobster, dass sich seine Art des Schauspiels sehr gut mit Lanthimos’ monotonem Dialogstil sowie kühler Inszenierung versteht. Nicole Kidman fügt sich dem nicht ganz und bleibt sich bisweilen eher treu, während gerade Alicia Silverstone in ihrem kurzen, aber prägnanten Auftritt eine eigene Duftmarke hinterlässt.

Heinrich Heine meinte einst, „man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt worden“. Martin könnte dies ähnlich sehen. Als ihn Anna in einer Szene fragt, warum der Jugendliche sie und ihre Kinder in den Zwist mit Steven zieht, erhält sie keine Antwort. Für den Teenager geht es weniger um Vergeltung an dem Arzt als darum, diesen den Verlust spüren zu lassen, mit dem er und seine Mutter selbst jeden Tag klarkommen müssen. Giorgos Lanthimos liefert mit The Killing of a Sacred Deer ein eindringliches und durchweg faszinierendes Psychodrama, dem dennoch etwas die Tiefe seiner Vorgänger fehlt. In gewisser Weise muss der jüngste Film des Griechen also mit seiner ganz eigenen Art von Verlust auskommen.

6.5/10

8. Dezember 2017

Motherland

Give your womb a rest.

In Deutschland war die Geburtenrate im vergangenen Jahr so hoch wie seit Anfang der 1980er nicht mehr. Im Schnitt brachte jede Frau 1,5 Kinder zur Welt – eine Zahl, von der die Philippinen weit entfernt sind. Dort entfallen laut den Vereinten Nationen rund drei Geburten auf jede Frau, eine seit Jahren immerhin zurückgehende Fertilitätsrate. Und eine, die sich so nicht direkt in Motherland, der Dokumentation von Ramona Diaz über eine Geburtsklinik in Manila widerspiegelt. Wie viele Kinder sie wolle, wird eine schwangere 24-Jährige darin von einer Krankenschwester gefragt. “Just five”, entgegnet die junge Frau, die zuletzt im jährlichen Rhythmus bereits vier Kinder anhäufte und dadurch die Geburtenrate des Landes übertrifft.

Damit ist sie nicht allein im Dr. Jose Fabella Memorial Hospital in Manila. Im Verlauf des Films bringt dort eine 26-jährige Frau ihr bereits 6. Kind zur Welt. “The children come out one after another”, klagt derweil eine andere Patientin, die schon sieben Kinder hat. “I can’t take care of all of them at once.” Verhütungsmaßnahmen wie Spiralen stoßen dennoch auf wenig Anklang bei den christlichen Frauen. Oftmals sind es ihre eigenen Mütter, die den Eingriff ablehnen, was etwas irritiert, da diese als Elterngeneration bereits dasselbe Schicksal durchgemacht haben. Stattdessen überbieten sich die Patientinnen in Motherland mit der Zahl ihrer Schwangerschaften und der Besuch in der Geburtsklinik wird für viele zum jährlichen Happening.

Das Ausmaß wird direkt in der völlig überfüllten medizinischen Einrichtung deutlich. Die Krankenbetten teilen sich zwei Frauen plus ihre Neugeborenen, mit jeweils zugeordneten Nummern, die von den Krankenschwestern aufgerufen werden wie auf dem Einwohnermeldeamt. Noch dramatischer ist es vor dem Entbindungssaal, wo sich teils bis zu drei Hochschwangere auf einer einzelnen Trage wälzen und auf die Abfertigung wie im Schlachthof warten. Eine von ihnen schafft es nicht mal mehr in den Kreissaal und gebiert ihr Kind im Gang. Praktisch ist diese Massenbehandlung zumindest dann, wenn eine Patientin ein hungriges Neugeborenes stillen kann, als dessen Mutter sich zeitweise für eine Dusche vom Bett entfernt hat.

Der westliche Zuschauer erlebt hier bestmöglich kontrolliertes Chaos, dessen absurde Ausmaße mehrmals wider Willen für Humor sorgen. Generell ist die Situation vor Ort aber bestürzend, so auch in der Frühchen-Station. Da es dem Krankenhaus an Inkubatoren mangelt, sollen sich die Mütter dadurch behelfen, dass sie ihre Kinder unter ein elastisches Top klemmen, um es wie ein Känguru durch ihre Körperwärme aufzupäppeln. Als später eine der Krankenschwestern im so genannten KMC (Kangaroo Mother Center) vorbeischaut, sieht sie aber die meisten Frühchen wie ein Handy auf dem Bett liegen, während die Mütter sich dem Klatsch und Tratsch widmen. Ohnehin spürt man nicht sonderlich viel Liebe zwischen Elternteil und Kind.

Obwohl ihr Frühchen nicht fit genug sei und eine Infektion riskiere, besteht eine der Mütter auf “HAMA” – eine Entlassung gegen ärztlichen Rat (home against medical advice”). Selbst ihr Ehegatte kann sie nicht umstimmen, nachdem dem Arbeitslosen klargemacht wurde, dass er nicht die Kosten des Krankenaufenthalts zu tragen hat. Sie müsse sich um ihre übrigen Kinder kümmern, klagt die Frau, doch der Umgang mit dem jüngsten Zuwachs wirkt wenig liebevoll. Vielmehr scheint es, als seien ihre Kinder für die jungen Mütter Steine im Rucksack ihres Lebens. Umso unverständlicher, weshalb sie alle auf die wiederholt vom Krankenhauspersonal angebotene Option einer Spirale mit zehn Jahre währender Schwangerschaftsprävention verzichten.

Ramona Diaz vermittelt mit Motherland intime Einblicke nicht nur in das Problem der Überbevölkerung auf den Philippinen als solches, sondern auch in das Leben der betroffenen Mütter. Bemerkenswert ist dabei die Zuversicht und der Optimismus, den die meisten von ihnen an den Tag legen, obschon ihre Partner oft nicht wissen, wie sie den Lebensunterhalt der nächsten Woche bestreiten, während die hungrigen Mäuler immer zahlreicher werden. Davon kann auch das Dr. Fabella Memorial Hospital ein Lied singen. Als es 1920 gegründet wurde, beherbergte es lediglich sechs Betten; heute teilen sich diese wiederum mindestens 24 Personen. Deutsche Frauen dürften somit froh sein, dass unsere Geburtenrate da deutlich geringer ausfällt.

6.5/10

1. Dezember 2017

The Square

Garbage!

Wird etwas erst dadurch zu Kunst, indem es in den Räumen eines Museums ausgestellt wird? Diese Frage wirft der Stockholmer Kurator Christian (Claes Bang) in einem Interview mit der Journalistin Anne (Elisabeth Moss) zu Beginn in den Raum, als er strauchelt, ihr eine Ausstellungsbeschreibung auf der Museums-Homepage sinnig zu erklären. Eine durchaus interessante Überlegung. So zeigt Christians Museum in einer seiner Ausstellungen unter anderem mehrere kleine Haufen Schutt, wie man sie auch auf einer Baustelle sehen könnte. Nur würde sie dort niemand als Kunst wahrnehmen. Ist es also erst die Institution des Museums, die einem Werk seinen künstlerischen Rahmen verleiht? Und kann in diesem Rahmen letztlich alles Kunst sein?

Ein vermeintliches Beziehungsgeflecht, das auch den Künstler Julian (Dominic West) nach eigenen Angaben in seiner Herangehensweise an seine Arbeit inspiriert: Wie verhält sich das Bild zum Rahmen und im Kontext seiner Ausstellungsfläche? Wenn dann während eines öffentlichen Gesprächs mit Julian unentwegt einer der Zuschauer obszöne Zurufe von sich gibt, scheint es gut möglich, dass dies weniger an dem erklärten Nachsatz, er habe das Tourette-Syndrom, liegt, als vielmehr eine Inszenierung sein könnte. Regisseur Ruben Östlund präsentiert in seinem jüngsten und in Cannes prämierten Film The Square mehrere solche vermeintlichen Meta-Vignetten, die losgelöst von der eigentlichen Haupthandlung passieren.

Eine Inszenierung erlebt der Zuschauer darin auch in ihrem ersten Akt. Während eines in die Öffentlichkeit getragenen Beziehungsdramas stellt sich heraus, dass dieses nur als Maske für zwei Taschendiebe diente, die Christian um seine Wertsachen erleichtern. Mittels Handy-Ortung kann Christian im Anschluss den Aufenthaltsort der Täter auf ein Sozialwohnhaus eingrenzen und lässt sich von seinem Mitarbeiter Michael (Christopher Læssø) dazu überreden, einen anonymen Drohbrief in jeden Briefkasten zu werfen, in welchem er sein Hab und Gut zurückfordert. Als er damit das Ehrgefühl eines unschuldigen Jungen verletzt, der nun vor seiner Familie als Dieb dasteht, ist dies schließlich der Auftakt für einige unglückliche Ereignisse.

Seinen Titel bezieht Ruben Östlunds Film dabei auf ein neues Kunstwerk, das sich Christians Museum der modernen Kunst gesichert hat. Ein beleuchtetes Quadrat, welches einen Raum des Vertrauens und Mitgefühls schaffen soll. Wer in dem Quadrat um Hilfe bitte, müsse von der Gesellschaft erhört werden, so das idealistische Konzept. Ob sie ein Leben retten wollen, fragt da morgendlich am Platz vor dem Hauptbahnhof eine Frau die Passanten – darunter Christian – nach einem finanziellen Beitrag oder einer Unterschrift. Und wird ebenso geflissentlich ignoriert wie die zahlreichen Obdachlosen und Bettler, die auf den Plätzen und vor den Läden sitzen. Und die in The Square als weiteres subtiles Thema mit brisantem Konfliktpotential dienen.

Rund 4.000 Bettler sollen sich nach Angaben inzwischen in Schweden aufhalten, bis zu 1.500 davon alleine in Stockholm. Wodurch die Stadt im Pro-Kopf-Vergleich mit zu den Städten mit den meisten Bettlern zählt. Wenn Christians Museum zur Vermarktung von The Square dann ihre hippe PR-Agentur mit einem viralen Video beauftragt und diese dafür letztlich als sozialen Kommentar auf die Lage in Schweden ein blondes Bettlerkind in den Fokus stellen wollen, ist der Ärger vorprogrammiert. Östlund nutzt die Reaktion auf das provokante Video später geschickt für eine Pressekonferenz – wieder eine Inszenierung –, in der das heuchlerische Echauffieren der Bürger ob eines Problems, das sie täglich selbst ignorieren, zu Tage tritt.

Es gibt noch andere solche satirisch demaskierenden Situationen, darunter die wohl einprägsamste Szene des Films während eines Bankett-Dinners des Museums. Eingeleitet von dem Perfomance-Künstler Oleg (Terry Notary), führt sich dieser als Gorilla inmitten der Gäste auf. Zuerst von diesen wie Julian humorvoll zur Kenntnis genommen, spannt sich der Akt mit der Zeit mehr und mehr an. Und es wird deutlich, dass weniger die Darbietung von Oleg als Primat das Werk seiner Kunst ist, sondern was dieses Schauspiel bei seiner Umgebung auslöst. Von Belustigung über Irritation hin zu Furcht und Aggression. Indem sich ein Mensch wie ein wildes Tier benimmt, lockt er letztlich dadurch aus den anderen Menschen ihren animalischen Trieb hervor.

Von einem Selbsterhaltungstrieb scheint auch Christian eingenommen. Wirkt der Verlust seiner Wertsachen zuerst für die Figur eher wenig dramatisch, ist er dann aber doch ursächlich für das weitere Drama im Verlauf des Films. Claes Bang spielt den bourgeoisen Christian nicht frei von Sympathien, aber doch mit erkennbaren Ecken und Kanten. Er steht hierbei im Fokus der Geschichte, in der die übrigen Charaktere wie Anne, Julian, Michael und Oleg nur am Rand auftauchen. Und hierin findet sich auch einer der Probleme von The Square, der immer wieder den Rahmen seiner Inszenierung erweitert, für jene die Kunst kommentierenden – und wohl auch teils persiflierenden – Szenen abseits von der Kernhandlung um Christian und den Drohbrief.

So könnte sowohl Julians durch den Tourette-Zuschauer torpediertes Künstlergespräch als auch die Dinner-Performance von Oleg im Prinzip genauso gut der Schere zum Opfer fallen, ohne dass dies die eigentliche Geschichte um Christians Drama beeinflussen würde. Jene Geschichte wiederum wäre zudem als Prämisse für einen Film von Jean-Pierre und Luc Dardenne eventuell besser aufgehoben gewesen, genauso wie die Künstler-Sequenzen in einer Vignetten-Inszenierung à la Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach. In der Folge wirkt The Square etwas unstrukturiert (was womöglich von Östlund auch intendiert war) durch den Wechsel aus Christians Erlebnissen und den Szenen mit dem Ensemble.

Löblich ist, dass der Film trotz der aufgeblähten Laufzeit von zweieinhalb Stunden keine wirklichen Längen entwickelt und durchweg zu unterhalten weiß. Gleichzeitig fehlt The Square jedoch etwas das Momentum und die Aussagekraft von Ruben Östlunds starkem Vorgänger Turist. Wo dieser unter anderem das traditionelle Familien- und Geschlechter-Bild sezierte, gerät The Square in dem mitunter subtilen Ansatz, was Kunst ist und was sie sich alles erlauben darf – zuvorderst in Olegs Performance und der Herangehensweise an das virale Marketingvideo dargestellt –, nicht fokussiert genug. „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt“, hatte Pablo Picasso einst gesagt. Das hätte Östlund vielleicht noch stärker berücksichtigen können.

6/10