28. Dezember 2018

A Ciambra [Pio]

Us against the world.

In seinem ersten Brief an die Korinther schrieb Paulus: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war“ (1. Kor, 13,11). So ließe sich in einem Satz auch etwa die Erfahrung des 14-jährigen Pio (Pio Amato) in Jonas Carpignanos dokumentarisch angehauchtem Drama A Ciambra – in Deutschland als Pio erschienen – beschreiben. Angesiedelt im kalabrischen Süd-Italien, direkt am Stiefel des Landes, spielen sich Pio und seine umfangreiche Roma-Sippschaft der Amatos quasi selbst, während der Jugendliche im Verlauf der Geschichte entscheiden muss, ob er bereit ist für den nächsten Schritt im scheinbaren (destruktiven) Kreislauf seiner Kultur.

Die Amatos leben dabei nebst weiteren Roma-Familien abseits der Gemeinde Gioia Tauro in einer verlassenen Wohnsiedlung. Wenn die Männer der Familie um Oberhaupt Rocco (Rocco Amato) und den zweitältesten Sohn Cosimo (Damiano Amato) nicht Autos aus dem Dunstkreis der nahe gelegenen Stadt Reggio Calabria entwenden, stehlen die Amatos Kupfer, brechen in Häuser ein oder zweigen sich den nötigen Strom ab. Entsprechend konstant sind die Besuche der Carabinieri, deren Ankunft stets von den Roma wie Spatzen von den Dächern in der Siedlung kundgetan wird. Der ungebildete Pio ist nun hin- und hergerissen zwischen seinem kindlichen Alltag und der wachsenden Faszination, (krimineller) Teil der familiären Verpflichtungen zu werden.

„Er hört nicht mehr auf mich“, klagt da Mutter Iolanda (Iolanda Amato) zwar früh über den eigensinnigen Pio. Doch die Einblicke, die wir von den Amatos erhalten, zeigen uns schnell, dass hier niemand auf den anderen hört. Spätestens als Rocco und Cosimo nach einem weiteren Besuch der Polizei in Gewahrsam genommen werden und den Amatos eine Stromrechnung im hohen vierstelligen Bereich vorliegt, ist es an Pio, Verantwortung zu übernehmen. Hier verwebt Carpignano die Geschichte nun verstärkt mit der einer anderen Randgesellschaft in Kalabrien: die der afrikanischen Flüchtlinge. So übernimmt der Burkiner Ayiuva (Koudous Seihon) für Pio die Rolle eines großen, fürsorglichen Bruders und unterstützt den Jungen.

Sie seien gleich, sagt ein Ghanaer zu Pio, als der Hehlerware in deren Flüchtlingslager verscherbelt. Ähnlich wie die Roma untereinander wirken auch die Flüchtlinge wie eine große Familie, ungeachtet ihrer Nationalität. Wo seine Familie jedoch die Vorurteile der Italiener übernommen zu haben scheint, zeigt sich Pio aufgeschlossen ihnen gegenüber. Konflikte drohen jedoch, als es sich der 14-Jährige mit dem italienischen Paten (Pasquale Alampi) verscherzt, dem sein Vater und seine Brüder zuarbeiten. “These shallow waters never met what I needed, I’m letting go – a deeper dive”, heißt es in Alan Walkers Song “Faded”, der mehrfach im Film gespielt wird, was Pios sich plötzlich verschärfende Situation ziemlich passend beschreibt.

Die Nähe und Zuneigung, die Pio für Ayiuva entwickelt, sind nicht von ungefähr und machen Seihons Figur zu der wohl sympathischsten von A Ciambra. Aber auch seine Familie begegnet Pio in ähnlich fürsorglicher Art, obschon weitaus subtiler. So scheint es, dass ihn sowohl Mutter Iolanda als auch Bruder Cosimo mit ihrem vermeintlich kalten Verhalten lediglich so lange wie möglich vor jenem Leben bewahren wollen, von dem sie wissen, dass es Pio als Mitglied der Amatos wie eine Welle unweigerlich mitreißen muss. Offen herzlicher begegnet ihm da schon seine nur wenige Jahre jüngere Nichte Patrizia (Patrizia Amato), die überraschender Weise zu den wenigen Familienmitgliedern zählt, die lesen und schreiben können.

Dass die Darsteller keine Profis sind, sondern dramatisierte Versionen ihrer selbst spielen, sorgt dabei weniger für einen Qualitätsverlust als es dem Film Authentizität schenkt. Die Amatos sind ein charmanter Clan und Carpignano gelingt eine faszinierende Nähe zu ihrem Milieu in dieser Coming-of-(Criminal)-Age-Story. “We are always the same age inside”, hat Gertrude Stein einmal gesagt, doch am Ende von A Ciambra wird deutlich, dass dies für Pio wohl nicht gelten kann. “So lost, I'm faded”, ertönt nochmals Alan Walkers kongenial implementierter Hit-Song zum Schluss über die Bilder. Doch Pio ist nicht (mehr) verloren, er hat bloß den Sprung vollzogen ins tiefe Wasser. Und damit alles Kindliche abgetan, um zum Mann zu werden.

7/10

21. Dezember 2018

Les garçons sauvages [The Wild Boys]

Piss on yourselves!

Einer dieser bekannten Sätze lautet: “Boys will be boys.” So sind Jungs nun mal und wer will es ihnen vorwerfen? Rabiat und lüstern, notgeil und gewaltbereit – so wirkt zumindest die Jungs-Clique in Bertrand Mandicos meisterhaftem Debütfilm Les garçons sauvages [The Wild Boys] auf ihre Umgebung. “Devoted to pleasure and the arts” seien sie, sagt Jean-Louis (Vimala Pons). Als eine private Aufführung von Shakespeares Macbeth für ihre Literatur-Dozentin (Nathalie Richard) dann jedoch in deren Tod mündet, stößt auch die Toleranz des maskulinen Verhaltens der Jugendlichen an Grenzen. Juristisch kommen Jean-Louis und Co. zwar ungeschoren davon, doch selbst den Eltern der Jungs wird nun klar: “they are barbarians.”

Hier kommt nun ein namenloser Kapitän (Sam Louwyck) ins Spiel. Er präsentiert den Eltern einen „gezähmten“ Wüterich, vormals mehrfacher Vergewaltiger folgt der Knabe nun brav auf Gehorsam. Auf seinem Schiff bietet der Kapitän an, die Truppe um Jean-Louis, Tanguy (Anaël Snoek), Romuald (Pauline Lorillard), Hubert (Diane Rouxel) und Sloan (Mathilde Warnier) zu erziehen. Indem er den Burschen, die der Erzähler als “one violent, unpredictable being” beschreibt, Grenzen aufzeigt und sie diszipliniert. Gerade Jean-Louis tut sich jedoch schwer mit des Kapitäns Autorität und spätestens als die Jungs im Verlauf eine mysteriöse Insel erreichen, gerät ihre Welt (und Sexualität) allmählich aus den Fugen.

Für die Besetzung seiner „wilden Kerle“ griff Bertrand Mandico kongenial auf fünf Schauspielerinnen zurück, die er einem androgynen Umstyling unterzog. In Schwarzweiß und auf 16-mm-Film gedreht, nur gelegentlich unterbrochen von eruptiven Farbaufnahmen, besitzt Les garçons sauvages somit einen gänzlich eigenen und unvergleichlichen Charme. Mit der den zweiten Akt einleitenden Erziehung auf hoher See mutet Mandicos Film dann wie eine französische Arthouse-Variante von Ridley Scotts (unterschätztem) White Squall an. Wenn der Kapitän den Jungs unterwegs einbläut “make the most of life”, erinnert dies an Robin Williams und sein “carpe diem” aus Peter Weirs Dead Poets Society (man denke auch an “Oh Captain! My Captain!”).

Der Trieb der Jungs ist aber nicht nur einer der Gewalt, sondern vor allem auch ihrer sexuellen Gelüste. Die Affektion gegenüber ihrer Lehrerin brach eingangs bereits buchstäblich in Fontänen von Ejakulat aus ihnen heraus, die Schiffsreise mit dem Kapitän wiederum wollen sie sich damit versüßen, dass sie dessen jugendliche Tochter „beglücken“. Die allerdings ist nicht existent, nur Lockmittel des gewitzten Seemannes, der schon weit gereist ist und dies auch belegen kann – mit entsprechenden Tätowierungen auf seinem Glied. Letzteres fasziniert die Jungs, insbesondere Hubert, in der Folge immer mehr, nicht zuletzt da es der Kapitän – der mitunter einfach nackt und nur von seinem Ledermantel umhüllt ist – nonchalant zur Schau trägt.

Sexuell aufgeladen ist auch ihre Anwesenheit auf ihrer designierten “pleasure island”, von phallusförmigen Pflanzenstengeln mit süß-spritzendem Saft hin zu Bodenvegetation, die wie eine Venusfliegenfalle über ein Aktionspotential verfügt, das Druck ausüben kann, was vor allem Jean-Louis missbraucht (im wahrsten Sinne des Wortes). “It was impossible for us to resist this impulse”, beschreibt Tanguy im ersten Akt das triebgesteuerte Verhalten der Jungs, da sie einem Dämon namens „Trevor“ zuschreiben. Auf Konfrontation gebürstet fehlt ihnen ein (männliches) Rollenbild für Reibungspunkte. Im Kapitän finden sie vermutlich erstmals jemanden, der ihnen wirklich Kontra gibt – was sie gleichermaßen in gewisser Weise anzieht wie letztlich auch abstößt.

Die Insel dient jedoch weniger zur Befriedigung – oder Umerziehung – von Tanguy und Co., die wahren Motive des Kapitäns sowie der auf der Insel lebenden Séverine (Elina Löwensohn) offenbaren sich schließlich im Schlussakt, fügen sich aber brillant in Mandicos Mise en Scène. Les garçons sauvages erzählt von Emanzipation – der von den Trieben der wilden Jungs sowie auch der von ihrer Sexualität. Der gelegentliche Wechsel von den kunstvollen Schwarzweiß-Bildern von Kameramann Pascale Granel hinüber zu Technicolor-Farben spiegelt im Verbund mit der tollen musikalischen Untermalung (u.a. Scorpion Valente und Nina Hagen) dieses Yin und Yang ebenfalls gut wieder. Nicht minder überzeugend gerät dabei das Ensemble.

Obschon wir wenig über die Jungs erfahren, charakterisiert Mandico sie dennoch (ausreichend) individuell. Im Fokus stehen primär Vimala Pons und Anaël Snoek, auch Mathilde Warniers Sloan vermag in ihren Szenen starke Akzente zu setzen. Die Illusion, hier fünf Knaben zu sehen, wird nicht nur aufgrund der überzeugenden Maske aufrechterhalten. Vielmehr geben die Darstellerinnen, speziell Pons, den Manierismus des anderen Geschlechts exzellent wider, oftmals nur mit einem gehässigen oder verschmitztem Blick der Augen. Sam Louwyck (als eine Art Hybrid aus Sam Neill und Hugo Weaving) und Elina Löwensohn (die an Tilda Swinton und Kristin Scott Thomas erinnert) formen ihre uneindeutigen Rollen ebenso genüsslich aus.

Die Inszenierung von Les garçons sauvages ist beeindruckend für ein Debüt (Mandico drehte zuvor bislang nur Kurzfilme), zugleich vermag aber wohl nur ein Erstlingswerk derart originell und kreativ zu sein. Das Ergebnis ist ähnlich wie die Inselerfahrung der Jungs: “salty and sweet” sowie “the most beautiful of hallucinations”. Was einem Fiebertraum gleicht, ist für diese wilden Kerle jedoch Realität. Eine lebensverändernde Erfahrung, an deren Ende sie nicht mehr sind, wer sie anfangs waren. Sie müssen lernen, sich ihrer alten Identität zu entledigen und eine neue überzustreifen. Selten war Emanzipation so kunstvoll, surreal-absurd und – im doppelten Sinne – traumhaft inszeniert wie in Mandicos Meisterwerk Les garçons sauvages.

10/10

14. Dezember 2018

Manbiki kazoku [Shoplifters]

Nicht mit Stäbchen auf Leute zeigen.

Was macht eine Familie aus? Ist es die genetische Verbindung, die als Basis von Zuneigung fungiert, oder kann die jenes soziale Geflecht unabhängig vom Erbgut ausmachen? Eine Frage, der sich Kore-eda Hirokazu bereits vor ein paar Jahren in Soshite chichi ni naru [Like Father, Like Son] gestellt hat. Darin erfahren zwei Familien, dass ihre Söhne versehentlich nach der Geburt vertauscht wurden. Ist das Kind, das nun jahrelang als das eigene aufwuchs, plötzlich weniger Kind als jenes, das man nicht kennt, aber seine DNS teilt? Was eine Familie verbindet oder nicht, dem widmet sich Kore-eda nun in Manbiki kazoku (international Shoplifters betitelt) erneut ausgiebig – und gewann dafür im Frühjahr die Palme d’or bei den Filmfestspielen in Cannes.

Nach einem Ladendiebstahl im Supermarkt treffen der ältere Osamu Shibata (Lily Franky) und Shota (Kairi Jō) auf dem Heimweg auf Yuri (Sasaki Miyu). Die Fünfjährige wurde auf den Balkon ihrer Wohnung ausgesperrt. Angesichts der Kälte nehmen Osamu und Shota das Mädchen mit nach Hause und teilen ihr Abendessen mit ihm. Da Yuris Eltern sich scheinbar wenig um sie scheren, auch als Osamu und seine Frau Nobuyo (Andō Sakura) sie später zurückbringen wollen, bleibt Yuri einfach kurzerhand bei ihrer Ersatzfamilie. Zu der gehören auch noch der Twen Aki (Matsuoka Mayu), die sich als Stripperin verdingt, und Großmutter Hatsue (Kiki Kirin), die ihr Haus mit den anderen teilt, um dem Sozialdienst zu entgehen.

Erst im Verlauf von Manbiki kazoku stellt sich dann allmählich heraus, wie das Beziehungsgeflecht innerhalb der Shibata-Familie tatsächlich aufgebaut ist. So wird Aki als Halb-Schwester von Nobuyo bezeichnet und Osamu hofft vergeblich darauf, dass ihn Shota „Papa“ ruft. Hatsue dagegen hat in gewisser Weise noch eine andere „Familie“, die des Sohnes ihres ersten Mannes, der sie für eine andere Frau verlassen hat. In diesen Clan der Shibatas wird nun kurzerhand noch Yuri aufgenommen, die damit zu Shotas „Schwester“ avanciert. Ob selbstgewählte Verbindungen stärker oder schwächer sind als natürliche sprechen auch die Figuren mitunter im Film an. Für die Shibatas wird Yuri zum Familienmitglied aus Überzeugung.

Die mit dem Mädchen aufgebauten Beziehungen erscheinen identisch mit denen herkömmlicher Familien, beispielsweise wenn Shota anfangs Eifersucht zur Schau trägt, als Osamu fortan Yuri mit in ihre Diebstähle integriert. Kore-eda inszeniert aber auch viele kleine Momente körperlicher wie emotionaler Zurschaustellung von Zuneigung. So fragt Hatsue eines Abends Aki, mit der sie ihr Bett teilt, was ihr denn tagsüber passiert sei, da ihre Füße kälter seien als sonst. Und schließt so von der veränderten Temperatur auf eine emotionale Verbindung. Erwärmend sind auch ein unerwarteter Kuss von Nobuyo an Osamu oder eine innige Umarmung von Yuri, die geradezu überfordert scheint mit einer derartigen Zuwendung.

“This is what someone does when they love you”, klärt Nobuyo das Mädchen auf, das körperliche Nähe wohl nur mit Disziplinierung in Verbindung bringt. Über ihre blauen Flecken sinnierten bereits Osamu und Shota zu Beginn, später bemerkt Nobuyo eine Brandnarbe an Yuris Arm, identisch mit ihrer eigenen. Beide Frauen eint somit eine zuhause erlittene Misshandlung. Die Eltern der Fünfjährigen machen dabei keine größeren Anstalten, nach ihrer Tochter zu suchen, selbst wenn die Polizei im Verlauf Ermittlungen aufnimmt. Große Sorge vor dem Vorwurf des Kidnappings haben die Shibatas dabei nicht, negieren diesen sogar, da sie für Yuri kein Lösegeld erpressen. Eine ähnliche Grauzone wie ihre täglich gelebte Kleptomanie.

Mehr schlecht als recht halten sie sich dabei über Wasser, obschon Hatsue monatlich Rente kassiert. Die Folge ist der Titelgebende Ladendiebstahl, dem Osamu und Shota frönen – und in den sie später Yuri miteinbeziehen. Der Klau zweier Angelruten entspricht da leicht einem Monatseinkommen von Osamu, was umso willkommener ist, da er sich während seiner Arbeit auf der Baustelle absichtlich eine Verletzung zuzieht, um von daheim das Krankgeld zu kassieren – nur das ihm dieses letztlich nicht zugesprochen wird. „Es geht nicht immer alles gut“, philosophiert er gegen Ende des Films im Gespräch mit Shota. Auch dies ist keine Botschaft, die allzu neu ist in Kore-edas Filmografie, sondern wie andere Elemente allgegenwärtig.

Was eine Familie ausmacht, die Biologie oder Soziologie, bildete bereits den Kern in Soshite chichi ni naru. Aber auch in Umimachi diary [Our Little Sister] musste sich eine Familie erst finden, als drei Schwestern von der Existenz einer Halbschwester erfahren, die das Kind jenes Mannes ist, der einst die Familie verlassen hat. Und dass man mit der eigenen Familie nicht immer besser dran ist, erfuhr Kiki Kirin erst vergangenes Jahr in Kore-edas Umi yori mo Mada Fukaku [After the Storm]. Dort zehren Sohn wie Tochter von der Sozialrente der Mutter, ohne sich wirklich gebührend um diese zu kümmern. Da hat es Hatsue in Manbiki kazoku schon besser, sorgt die Anwesenheit der anderen doch dafür, dass sie nicht ins Heim abgeschoben wird.

Insofern erfindet Kore-eda sich hier nicht neu. Vielmehr liefert er eine Art Best of der Themen seiner jüngeren Werken (im Grunde auch aus Sandome no satsujin [The Third Murder]). Von technischer Seite aus scheint seine Ozu-Hommage Aruitemo aruitemo [Still Walking] etwas runder respektive puristisch-cineastischer in ihrer scheinbaren Losgelöstheit aus der Realität. Sympathisch ist Manbiki kazoku, nicht nur wegen Kore-edas Stammpersonal wie Lily Franky und Kiki Kirin, sondern vor allem dank Sasaki Miyus Niedlichkeit. Fraglich jedoch, ob der Film die enthüllenden Entwicklungen in der zweiten Hälfte respektive gerade im Schlussakt wirklich nötig hatte – selbst wenn sie ironischer Weise den Film von den Vorgängern abheben.

Manbiki kazoku erzählt letztlich nicht nur davon, was eine Familie als Konstrukt ausmacht, sondern auch, was sie ihren Mitgliedern bedeutet. Wirkt Nobuyo zuerst ablehnend und etwas kalt gegenüber Yuri am ersten Abend, taut Andō Sakuras Figur im Verlauf immer mehr auf und entwickelt eine innige Beziehung zu dem Mädchen, mit dem sie sich so vieles teilt. Mutter zu sein ist entgegen der Aussage eines anderen Charakters am Ende des Films doch mehr, als nur der Akt der Geburt. Wie von Kore-eda-san gewohnt, liefert er mit Manbiki kazoku ein warmes Familien-Drama mit humorvollen Untertönen über Menschen mit Makel, die zwar nicht viel im Leben haben, aber immerhin sich selbst. Dafür sind Familien ja da – gerade bei Kore-eda.

9/10

7. Dezember 2018

Nelyubov [Loveless]

You made your bed, you lie in it.

Man kennt das zur Genüge: Eine Ehe scheitert, die Scheidung steht bevor und die Ehepartner streiten um das Sorgerecht für das gemeinsame Kind. So auch zu Beginn von Andrey Zvyagintsevs diesjährigem Drama Nelyubov [Loveless], allerdings unter verkehrten Vorzeichen. Hier kämpfen Boris (Aleksey Rozin) und Zhenya (Maryana Spivak) nicht darum, wer nach der Trennung Sohnemann Alyosha (Matvey Novikov) zu sich nehmen darf – sondern wer von beiden es muss. “He needs his mother more”, argumentiert Boris, doch Zhenya kann nur müde lächeln. Tragisch wird es schließlich bei einem späteren Streit zum selben Thema, als wir wiederum entdecken, dass Alyosha unter Tränen den Streitpunkt heimlich mitbekommen hat.

Das Wort „nelyubov“ bedeutet dabei so viel wie „Abneigung“ – also weniger eine fehlende Liebe, wie der englische Verleihtitel suggeriert, sondern eine Anti-Liebe. Zhenya gesteht, sie “got pregnant out of stupidity”. Boris war ihr erster ernsthafter Freund, die Schwangerschaft ungeplant. Liebe empfand sie für ihren Mann nie, ganz anders wie mit ihrer aktuellen Affäre Anton (Andris Keišs). Er ist etwas älter, mit Halbglatze, und finanziell abgesichert. Zwar hat er ebenfalls eine Tochter, diese ist jedoch erwachsen und studiert zudem im Ausland. Auch Boris ist bereits neu mit Masha (Marina Vasilyeva) verbandelt – und erwartet mit ihr zusammen direkt das nächste Kind. Alyosha wollen daher weder Zhenya noch Boris Platz in ihrem neuen Leben einräumen.

Erst als Alyosha plötzlich verschwindet, zeigen seine Eltern ein gewisses Interesse. Etwas überraschend, da es für sie an sich ein begrüßenswertes Ereignis wäre, das sie beide von ihrer Verantwortung gegenüber dem Sohn entbindet. Vor allem Boris unterstützt aktiv die aufkommende Suche einer Hilfsorganisation, nachdem die Polizei abgewunken hat. Ausreißer würden in der Regel nach sieben bis zehn Tagen zurückkehren, meint ein Polizist nur. Für Boris ist die Suche nach Alyosha auch wegen seines Jobs relevant, ist sein Chef doch orthodoxer Christ. “Everyone’s expected to have a family and kids”, klärt Boris ein Kollege auf. Schon eine Scheidung wird dort kritisch gesehen, wie würde da zusätzlich erst ein verschwundener Sohn wirken?

Das Motiv des eher lästigen Kindes eint Nelyubov mit den vergangenen Werken von Zvyagintsev wie Leviafan oder Elena. Alyosha repräsentiert hier in gewisser Weise eine vernachlässigte Jugend. Auch wenn es dem Jungen seinem Kinderzimmer nach zu urteilen an nichts fehlt – was aber auch nur zur Ablenkung des Kindes dienen könnte. Zhenya verbringt jedenfalls mehr Zeit mit ihrem Handy auf Pinterest als mit ihrem Sohn. “I think that boy hates me”, mutmaßt sie. “Just like his father.” Gegenargumente liefert sie mit ihrem Verhalten aber beiden Männern nicht. Boris wiederum ist im Begriff, denselben Fehler (feste Beziehung wegen einer Schwangerschaft) nochmals mit Masha zu machen – was auch in ihr leise Zweifel aufwirft.

Getreu dem Sprichwort, dass man erst zu schätzen lernt, was man verloren hat, findet bei Boris und Zhenya ein Umdenken statt. Wenn auch weniger aus einer plötzlich realisierten Liebe gegenüber Alyosha, denn einer Art Pflichtschuldigkeit oder sozialen Verantwortung heraus. Nicht unbedeutend für das Verhältnis von Mutter und Sohn ist sicher, dass Zhenyas Mutter ihr selbst Zeit ihres Lebens mit nelyubov begegnet ist. Insofern ist es etwas zynisch, dass Boris eingangs erst vorschlägt, Alyosha einfach zu seiner Großmutter abzuschieben. In gewisser Weise sind Boris und Zhenya somit selbst Opfer ihrer Umstände, gefangen in einem Leben, das sie sich anders vorgestellt haben – sicherlich einschließlich anderer (Ehe-)Partner.

Nelyubov ist dabei wie die anderen Werke Zvyagintsevs durchweg Russisch, aber deshalb nicht minder universell. Dennoch ist die Welt, die der Regisseur hier zeichnet, eine merklich unpersönlich geprägte. Alyosha hat lediglich einen Freund und – zumindest laut Zhenya – keine Hobbys. Auch der Büro-Alltag von Boris ist eher anonym, angefangen vom sterilen Umgang aller Mitarbeiter in der gemeinsamen Aufzugsfahrt. Zwar sitzt er mit einem Kollegen zu Mittag, ansonsten scheint aber jeder für sich zu leben. Sodass es fast fraglich erscheint, wie sich Zhenya und Anton sowie Boris und Masha überhaupt kennengelernt haben. Einsam und gänzlich ab vom Schuss fristet da auch Zhenyas Mutter ein eher monotones Dasein in der Einöde.

Die Trostlosig- und Einsamkeit transportieren auch die verschiedenen Bildmotive, sei es ein winterlicher Teich, den Alyosha auf seinem Heimweg passiert, oder eine verlassene und ruinenhafte Gebäudeanlage im Wald, welche die Kinder zum Spielen nutzen, und die entfernt an Tarkovskys vernachlässigte Weltraumstation in Solyaris oder die Häuser in Stalker erinnert. Als auffälligster Kritikpunkt tritt bestenfalls die Laufzeit zu Tage, gerade weil die Suchaktion nach Alyosha im dritten Akt etwas mehr Raum einnimmt, als für ihre Botschaft eigentlich von Nöten wäre. Zehn Minuten kürzer oder alternativ mit etwas mehr Einblicken in das Innenleben der zwei Elternfiguren und Nelyubov wäre wohl eine runde(re) Sache geworden.

Ungeachtet seiner Thematik ist Zvyagintsevs Film dennoch eine überaus unterhaltsame Angelegenheit, überzeugend gespielt von seinen beiden Hauptdarstellern Maryana Spivak und Aleksey Rozin. Was mit Alyosha geschah ist dabei für die Geschichte von Zvyagintsev und seinem Co-Autor Oleg Netin weniger von Bedeutung als das, was dies bei seinen Eltern bewirkt. Träumten beide zuvor noch von ihrer neugewonnen Unabhängigkeit, ist durch das Verschwinden des Sohnes das frische Liebesglück nun leicht getrübt. Aus der Anti-Liebe zu Alyosha wird deshalb in der Folge keine Zuneigung, aber zumindest eine Form der (Für-)Sorge. Hätten seine Eltern ihm diese doch nur bereits entgegengebracht, als er noch zugegen war.

6.5/10