24. Oktober 2014

Nightcrawler

Good people who reach the top of the mountain didn’t just fall there.

Ohne Fleiß, kein Preis, denn von nichts kommt nichts und es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Allesamt Redensarten, die Lou Bloom (Jake Gyllenhaal) in Dan Gilroys Debütfilm Nightcrawler wohl problemlos abnicken würde. “If you wanna win the lottery you have to make the money to buy a ticket”, formuliert Lou es selbst. Oder auch: “Good things come to those who work their asses off.” Lou selbst ist ein Ruheloser, der seine Bestimmung noch nicht gefunden hat. Zu Beginn des Films sehen wir ihn als Kupferdieb, der eine Anstellung auf dem Bau sucht, was jedoch abgelehnt wird. Auf seinem Heimweg beobachtet Lou einen Autounfall und ein Unfallreporter-Team um Joe Loder (Bill Paxton). Eine neue Passion scheint geweckt.

Mit einer veralteten Videokamera und einem Polizeifunkgerät harrt Lou fortan nachts der Dinge, muss jedoch, wie sich zeigen wird, noch einiges lernen, um ein effektiver Unfallreporter zu werden. Seine penetrante Art bringt ihm eines Abends einen kleinen Vorteil und hilft ihm, sein erstes Video an die Nachrichtenchefin Nina (Rene Russo) eines kleinen Lokalsenders zu verkaufen. Mit dieser Bestätigung im Gepäck steigt Lous Motivation und Ambition. Was sich unweigerlich auf seine Arbeit auswirkt. Um sich gegenüber der Konkurrenz einen Vorteil zu verschaffen, manipuliert Lou bald darauf Requisiten und auch schon mal Unfallopfer für eine bessere Einstellung. Sein Ansehen wächst, während für Lou die Grenzen verwischen.

Thematisch steht Gilroys Nightcrawler dabei in der Tradition von Genrevertretern wie Billy Wilders Ace in the Hole oder auch der fünften Staffel von HBO’s The Wire, wenn Journalisten ihre Storys zum persönlichen Profit manipulieren. Auch eine Prise – obschon etwas offensichtlicher – Medienkritik fehlt nicht, wenn Nina und Lou an verschiedenen Stellen einander respektive dem Zuschauer erklären, wie Fernsehnachrichten funktionieren. Außenpolitik wird in wenigen Sekunden abgefertigt, Unfälle und Kriminalität bilden die Aufmacher: “If it bleeds, it leads.” Alles wegen der Quote, versteht sich, die wiederum auch den beruflichen Stand von Nina und Lou sowie infolgedessen die Arbeitsbeziehung der beiden bestimmt.

Angesichts von Lous Charakter – er wird zu Beginn mit leicht soziopathischen Zügen gezeichnet – ist natürlich absehbar, in welche Richtung sich der Film entwickelt. Genauso wie die Dynamik zwischen Gyllenhaals Figur und dem restlichen Ensemble. Zu diesem erhalten wir nur wenig Einblick, einschließlich Rick (Riz Ahmed), den Lou nach wenigen Monaten als seinen Assistenten mit ins Boot holt. Und auch wenn es für Lou ganz gut läuft, fehlt ihm immer noch die letzte große Story, die ihn tatsächlich hoch auf die Bergspitze katapultiert, wo er sich selbst sieht. Gyllenhaals Figur hält dabei unentwegt das Interesse des Publikums an ihr aufrecht, insbesondere wenn sie selbstbewusst wie ein Wasserfall verbale Überzeugungsarbeit leistet.

Nach Enemy liefert Jake Gyllenhaal somit seine zweite – im Grunde: dritte – starke Leistung in diesem Jahr ab. Und mausert sich somit vom vermeintlichen neuen Poster Boy Hollywoods zum ernstzunehmenden Charakterdarsteller. Dass der Schauspieler für seine Rolle zehn Kilo abnahm, sieht man ihm an und trägt seinen Teil zur Kreation Lous bei. Nightcrawler selbst ist dabei trotz leichter Längen zum Ende des zweiten Akts ein mitreißender Urban-Medien-Thriller, der speziell im Finale trotz dessen Vorhersehbarkeit – wenn man will, liegt gerade hier die Klasse des Films – die Spannungsschraube andreht. Da mag man es Gilroy verzeihen, dass sich sein Debüt bloß an der Oberfläche bewegt, ohne je tiefgründig zu werden.

An einer Kritik am Fernsehnachrichtenwesen ist die Geschichte nicht interessiert. Genauso wenig am Innenleben ihrer Figuren. Vielmehr kombiniert es beide und labt sich an der Integration der Charaktere in die Szenerie. In seinem Hauptdarsteller hat der Film dabei nicht seine einzige Qualität, die Kameraarbeit von Robert Elswit – insbesondere während der Verfolgungsjagd im Finale – darf ebenfalls gelobt werden. Genauso wie das Drehbuch und die Regie von Dan Gilroy selbst. Es gibt wahrlich schlechtere Filme als Nightcrawler, mit denen man sein Debüt feiern kann. Und auch, wenn noch kein Meister vom Himmel gefallen ist, kann man (hoffentlich) auf Gilroy die Redensart münzen: Früh übt sich, wer ein Meister werden will.

8.5/10

18. Oktober 2014

Oktober November

Nützlich sein, sonst darf man net glücklich sein.

Ein Sprichwort sagt, jeder ist seines Glückes Schmied. Vermutlich würden die Figuren in Götz Spielmanns Filmen dies nicht unterschreiben wollen. Schon die Charaktere in seinem vor fünf Jahren für einen Oscar nominierten Revanche hatten mit Widrigkeiten und einander zu kämpfen. Auch in seinem neuen Film, Oktober November, macht es der österreichische Regisseur seinen Geschöpfen nicht leicht. Sie hadern mal wieder miteinander, aber auch mit sich selbst. Im Mittelpunkt stehen dabei die beiden Schwestern Verena (Ursula Strauss) und Sonja (Nora von Waldstätten), die im Grunde gänzlich unterschiedliche Leben führen, aber – so zeigt sich im Verlauf des Films – doch mehr gemein haben, als ihnen selbst bewusst scheint.

Während Sonja, die Jüngere, in Berlin als Schauspielerin arbeitet, lebt Verena mit ihrem Mann Michael (Johannes Zeiler) und dem gemeinsamen Sohn im ehemaligen Gasthaus ihres Vaters (Peter Simonischek). Dessen Gesundheit lässt allmählich nach, weswegen sich der Landarzt Andreas (Sebastian Koch) um den Witwer kümmert. Dennoch erleidet der alte Mann eines Abends nach dem Vesper einen Herzinfarkt, der ihn beinahe ins Jenseits befördert. Der Vorfall ist Anlass für Sonja, nach Jahren der Abwesenheit, die seit dem Tod der Mutter ins Land gezogen sind, wieder in ihre Heimat in die österreichische Provinz zurückzukehren. Doch ihren Ballast, der sie schon in Berlin geplagt hat, wird sie auch hier nicht los.

Scheinen die Figuren auf den ersten Blick ein glückliches Leben zu führen – Sonja als populäre Schauspielerin, Verena als Ehefrau und Mutter –, entblößt sich dieser Umstand lediglich als eine Fassade. Trost suchen beide in Affären, Sonja mit einem verheirateten Familienvater, Verena derweil mit Andreas. Die Umstände der Romanzen bleiben offen, werden höchstens angerissen. Wo Verena vermutlich aus ihrem Alltagstrott auszubrechen versucht, der sie zu erdrücken scheint, will Sonja eine Leere füllen, die ihren Ursprung in der Vergangenheit hat. „Kein Mensch weiß, wie er wirklich ist“, sagt die junge Schauspielerin zu Beginn. Zumindest sie und ihre ältere Schwester werden diese Aussage in Oktober November zu untermauern versuchen.

Mit der Anwesenheit von Sonja wird das Leben Verenas nicht leichter. Alte Spannungen und Gefühle der Eifersucht kochen wieder hoch. Im Gegensatz zu ihrer Schwester konnte Verena nie das Leben leben, das sie sich erträumte. Sie musste zurückbleiben in der Provinz im Gasthof des Vaters. „Es war sein größter Wunsch, dass ich weitermach’“, sagt die Tochter über den Vater. Und gesteht zugleich, dass sein Tod für sie in gewisser Weise Freiheit bedeuten würde. Freiheit von alten Erwartungen und gegenwärtigen Anforderungen. Von solchen wiederum scheint Sonja eher weniger geplagt und dennoch wirkt sie ungemein fragil. Eine Depression hat sie erst überwunden, erfahren wir, einem Glas Weißwein ist sie selten abgeneigt.

Sie habe immer bewundert und geliebt werden wollen, berichtet sie Andreas in einer Szene. „Bewundert und geliebt… geht das zusammen?“, fragt dieser halb im Spaß, halb im Ernst zurück. Wenn Verena ihr später vorwirft „Du musst dauernd ’ne Rolle spielen“, dann ist dies nicht weit von der Wahrheit entfernt. Und hier zeigt sich auch das Hauptproblem von Spielmanns Film: Was den beiden Schwestern im Leben zu fehlen scheint, insbesondere Sonja, weiß Oktober November nicht vollends deutlich zu machen. Dass der Regisseur teils, gerade in der Herzinfarktszene, mit verspielter Inszenierung und unnötigem Zoom arbeitet, fällt obendrein von technischer Seite negativ ins Auge. Zumindest das Ensemble lässt sich nichts zu Schulde kommen.

Auch Österreichs Landschaft ist wieder in gewisser Weise ein Charakter ganz für sich. Und dennoch erreicht Oktober November selten die Intensität und Qualität von Spielmanns Revanche. Dafür fehlt es am Einblick in das Innenleben der beiden Schwestern und einer etwas klareren Herausarbeitung ihrer ambivalenten Dynamik. Nach fünf Jahren Pause meldet sich Götz Spielmann somit nicht wirklich mit alter Stärke zurück, obschon man den Film auch nicht vollends als Enttäuschung ansehen kann. Zumindest sein Potential schöpft Oktober November jedenfalls nicht aus. Möge sich dies also beim nächsten Projekt des österreichischen Regisseurs wieder ändern. Denn jeder ist seines Glückes Schmied – das gilt auch für Götz Spielmann.

6/10

12. Oktober 2014

Gone Girl

You. Fucking. Bitch.

Vermutlich lesen nur wenige auf mehrstündigen Flügen Literatur von Aristoteles bis Thomas Mann. Vielmehr wird auf dem Flughafen der Buchladen durchstöbert, auf der Suche nach leichter Trivialliteratur. Beispielsweise nach Dan Browns The Da Vinci Code (aka Sakrileg) oder Stieg Larssons Män som hatar kvinnor (aka Verblendung). Es versteht sich von selbst, dass beide Romane – erfolgreich – fürs Kino adaptiert wurden. Und weil Män som hatar kvinnor lediglich ein schwedischer Film war, musste dieser natürlich ein US-Remake erhalten. Für dieses stand vor drei Jahren David Fincher bereit, einst verantwortlich für Werke wie The Game oder Se7en, zuletzt jedoch darauf beschränkt, Massenphänomene zu adaptieren.

Nachdem er sich in The Social Network dem „Kulturgut“ Facebook widmete und die Stieg-Larsson-Verfilmung The Girl with the Dragon Tattoo ablieferte, wanderte David Fincher gleich weiter zum nächsten Bestseller auf Groschenromanniveau. Wochenlang stand Gillian Flynns Krimi Gone Girl vor zwei Jahren an der Bestseller-Spitze, verkaufte zwei Millionen Exemplare. Ein gefundenes Fressen also für Fincher, um auch diese Flugzeuglektüre in ein 140-Minuten-Epos zu verwandeln. Das Ergebnis begeisterte Kritiker wie Zuschauer – bei denen Fincher jeweils Narrenfreiheit genießt – sogleich im Sturm. Dumm also für den Regisseur, dass die Inszenierung von Fifty Shades of Grey bereits an Kollegin Sam Taylor-Johnson vergeben wurde.

In weiten Teilen ähneln sich dabei The Girl with the Dragon Tattoo und Gone Girl, steht hier wie da doch das Verschwinden einer Blondine im Mittelpunkt. Am Morgen ihres fünften Hochzeitstages scheint Amy Dunne (Rosamund Pike) aus ihrem Haus gekidnappt worden zu sein. Ihr Ehemann  Nick (Ben Affleck) schaltet sogleich die Polizei ein und beginnt am nächsten Tag mit seinen Schwiegereltern und Zwillingsschwester Margo (Carrie Coon) eine mediale Suchaktion. Doch je mehr Tage vergehen, desto stärker wiegt bei Medien und Polizei der Verdacht, dass Nick selbst am Verschwinden seiner Frau nicht unschuldig ist. Und mit fortlaufender Dauer kommen immer mehr Geheimnisse der beiden Eheleute ans Tageslicht – was nicht folgenlos bleibt.

Da, darauf lässt das Echo der Resonanz zum Film schließen, Gone Girl primär oder ausschließlich über seine „Twists“ funktioniert, sollen diese an dieser Stelle nicht vorweg genommen werden. Sie fangen mit Beginn des zweiten Akts an, wissen dem müden Handlungsverlauf jedoch auch keine Würze zu geben. Vielmehr manövriert sich Finchers Film in seiner zweiten Hälfte dank seiner Wendungen gewissermaßen in eine Sackgasse, aus der es für ihn im weiteren Verlauf keinen Ausweg mehr gibt. Hauptsächlich deswegen, weil Gone Girl seinen vermeintlichen Twist über die Charakterisierung der Figuren stellt – wodurch die Wendung letztlich verpufft. Insbesondere auf eine Motivation für die etwaigen Handlungen muss der Zuschauer verzichten.

Das Thema von Buch wie Film – das Drehbuch schrieb die Romanautorin selbst – dreht sich dabei nach Angaben von Gillian Flynn um die Dynamik von Langzeitbeziehungen und die Lügen, mit denen sich Partner in einer Ehe gegenseitig begegnen. In Rückblenden sehen wir dabei verschiedene Stadien von Nick und Amys Beziehung: vom ersten Kennenlernen zum Heiratsantrag bis hin zu ersten Eheproblemen als Folge der wirtschaftlichen Rezession. Beide verlieren ihren Job und als Nicks Mutter erkrankt, ziehen sie von New York nach Missouri. Als ein Kommentar auf die Institution Ehe kann der Film dabei aber genauso schlecht gelesen werden wie auf die Dynamik zwischen zwei Beziehungspartnern. Zu willkürlich gerät Gone Girl hierzu.

Und obschon es wohl überspitzt wäre, zu sagen, es handele sich um einen Kitschroman, greift Flynn dennoch auf viele bekannte Klischees zurück, die einer vermeintlichen Originalität, die dem Film mitunter von mancher Seite unterstellt wurde, Einhalt gebietet. Obendrein wirkt Gone Girl wenig gelungen besetzt, was zwar bisweilen im Falle von Carrie Coon und Tyler Perry wenig dramatisch ist, gerade bei Neil Patrick Harris und insbesondere Rosamund Pike jedoch zum Laster wird. Anstelle von Letzterer wäre vielleicht Reese Witherspoone, die am Ende nur zu den Produzenten zählt, eine geschicktere Wahl gewesen. Wobei auch dies Gone Girl nicht mehr Qualität verliehen hätte, die der Film gerade im Drehbuch vermissen lässt.

Abgesehen von einigen so gelungenen wie willkommenen humorvollen Auflockerungen überzeugt Finchers jüngster Film am meisten als Schablone von Ben Afflecks Medien-Dasein. Wie der Schauspieler wird auch Nick Dunne in Gone Girl medial seziert, kritisch beäugt und allmählich unter die Räder geworfen. Eine Erfahrung, die Affleck im Zuge seiner (Post-)Bennifer-Jahre am eigenen Leib gemacht hat – und die er hier nochmals durchleben darf. Dennoch verkommt Gillian Flynns Werk selbst hier nicht zu einer vollen Medienschelte, selbst wenn es insbesondere den Fernsehjournalismus in kein gutes Licht rückt. Immerhin findet sich hier gegenüber den anderen Themen des Films eine Motivation und zugleich eine authentische Einordnung.

Und auch wenn die Handlung nicht allzu spannend gerät und das Finale eher beschämend ausfällt weiß der Film trotz seiner fast zweieinhalbstündigen Laufzeit nicht zu langweilen. Technisch ist Gone Girl selten ein Vorwurf zu machen, auch wenn die für Finchers Werke inzwischen übliche Farbpalette, die oft ins Braune und Grüne abfällt, zumindest mich wenig begeistert. Als Unterhaltung auf mehrstündigen Flügen ist Gone Girl somit sicher nicht verkehrt und wider Erwarten ist der Film unterm Strich gegenüber The Girl with the Dragon Tattoo sogar eine Steigerung für David Fincher. Der – und das ist vielleicht am bedauernswertesten – scheint sich nun endgültig als Regisseur für Filme von Trivialliteratur und Groschenromanen zu etablieren.

5.5/10

6. Oktober 2014

Fed Up

Junk is still junk even it it’s less junky.

Früher war ordentlich Speck auf den Rippen ein Zeichen für Wohlstand. Je dicker, desto reicher. Heutzutage sind Übergewicht und Fettleibigkeit dagegen Gesundheitsprobleme. Allen voran in den USA. Ein Aspekt, den auch Regisseurin Stephanie Soechtig (Tapped) in ihrer Dokumentation Fed Up in den Vordergrund rückt. Mit einer Fettleibigkeitsquote von 31,8 Prozent zählen die USA zu den Spitzenreitern – fast ein Drittel des Landes sind folglich fettleibig. In zwei Jahrzehnten, so der Film, werden es vermutlich 95 Prozent sein. Und im Jahr 2050 sei dann jede/r Dritte an Diabetes erkrankt. “My doctors have said that I am a statistic”, sagt die 12 Jahre alte und 105 Kilogramm schwere Maggie Valentine. “I don’t really know what it means.”

Die Zwölfjährige zählt zu einer wachsenden Zahl an fettleibigen Kindern und Jugendlichen in den USA – ein oft im wahrsten Sinne des Wortes hausgemachtes Problem. Zumindest im Falle der Kinder, die Soechtig für ihren Film als Beispiele gewinnen konnte. “That’s what I’ve grown up doing”, erklärt der 15-jährige Brady Kluge, der ebenfalls 105 Kilo wiegt. Seine Familie lebe in den Südstaaten, wo die Speisen eben gern frittiert gegessen werden. Auch seine Eltern hätten Übergewicht – so wie deren Eltern vor ihnen. Anders kennt es auch der 14-jährige Joe Lopez nicht. “I guess it’s culture”, sagt sein Vater Edgar Lopez. Alle in der Familie wären fett. “For the Hispanic family big is beautiful”, heißt es diesbezüglich von der Mutter.

Wirklich fett wollen die Jugendlichen aber nicht sein. Nicht nur, weil sie in der Schule gehänselt werden, sondern auch, weil es Gesundheitsrisiken birgt. Laut Fed Up gab es 1980 noch keinen Fall von Typ-2-Diabetes – früher bekannt als Altersdiabetes – unter US-amerikanischen Heranwachsenden. “It was unheard of for young people to get it”, bestätigt der Ex-Präsident Bill Clinton. Inzwischen seien über 50.000 Jugendliche betroffen. Des Rätsels Lösung, entdeckte der französische Physiologe Dr. Jean Mayer Anfang der 1950er Jahre, sei körperliche Betätigung. “Lack of exercise must be related to weight gain”, so das Fazit von Dr. Mayer, der seine These anhand von Labormäuse bestätigt sah. Es folgte ein bis heute währender Fitness-Boom.

Zwischen 1980 und 2000 verdoppelten sich die Mitgliedschaften in Fitness Clubs in den USA. “During that same time, the obesity rate also doubled”, heißt es von Journalistin Katie Couric, die als Erzählerin des Films und eine seiner Produzentinnen fungiert. Auch Maggie Valentine ist sportlich aktiv, geht vier Mal die Woche Schwimmen und am Wochenende mit ihrem Hund spazieren. Wie also ist dies möglich, dass das Land trotz der Tatsache, dass es Fitness betreibt, dennoch fetter statt fitter wird? Eben weil nicht jede konsumierte Kalorie sich entsprechend verbrennen lässt. Zudem auch nicht jede verbrannte Kalorie identisch ist. Die Energiebilanz, so zeigt sich in Fed Up, ist weitaus komplexer als man denken möchte. Und kein Ausweg.

“We are not going to exercise our way out of this obesity problem”, schiebt Ernährungsberaterin Marge Wootan solchen Hoffnungen einen Riegel vor. Denn um einen halben Liter Cola zu verbrennen, müsste ein Kind 75 Minuten Fahrrad fahren. Und für einen Keks 20 Minuten Joggen. “Most people don’t have that much time in their day”, weiß Wootan. Zudem Kalorien sich voneinander unterscheiden, 160 Kalorien, die durch Mandeln konsumiert werden, nicht mit 160 Kalorien aus Erfrischungsgetränken gleichzusetzen sind. Denn die Nüsse besitzen Ballaststoffe, die vom Körper erst verarbeitet werden müssen, weshalb der Blutzucker nicht so schnell steigt, wie im Falle von Cola und Co., die ohne Ballaststoffe daherkommen. Dafür mit Maissirup.

Was also tun? Einfach etwas bewusster essen? Mehr auf Produkte mit Labels wie „Wenig Fett“ oder „30% weniger Fett“ zurückgreifen? Eher nicht. Denn wenn am Fett gespart wird, fällt dies auch zu Lasten des Geschmacks. Was die Firmen mit Zucker aufzuwiegen versuchen. Das Resultat sind vielleicht zehn Kalorien weniger, aber kein gesünderes Produkt. Zwischen 1977 und 2000 haben die Amerikaner ihren täglichen Zuckerkonsum verdoppelt. “Sugar is poison”, sagt der Kinderarzt Dr. Robert Lustig. Und dennoch sind 80 Prozent der Lebensmittel zusätzlich mit Zucker oder einer Form von Zucker versetzt. Vom Joghurt bis hin zur Fertig-Spaghettisoße. Die Zucker-Lobby, so Fed Up, tunkt überall ihre Finger in den Honigtopf.

Immerhin sei Zucker achtmal mehr suchterzeugend als Kokain. Was von den Firmen natürlich ausgenutzt wird. Die bewerben ihre Produkte einerseits mit bekannten Marken, von Spongebob bis Beyoncé, andererseits auch immer überall auf Augenhöhe mit ihrer Klientel. Junk Food gibt es in den USA nicht nur im Supermarkt, auch an Tankstellen, Drogerien, sogar im Baumarkt. Vor der Zuckermafia ist kein Entkommen – für fette Kinder gleich zweimal nicht. “Once you start overeating, it becomes the worst habit, and it just grows”, weiß Brady Kluge. Sogar in ihrer Bildungseinrichtung wird den Kindern nicht geholfen. Die Hälfte der Schulmensen verkaufe inzwischen Fast Food an die Schülerinnen und Schüler – direkt aus der Pizza Hut-Box auf die Teller.

Hier sehen wir dann auch Maggie, wie sie sich mittags einen Cheeseburger mit Pommes aufs Tablett packt – um in der Szene darauf in die Kamera zu heulen, sie wäre ja so gerne dünn. Zuvor bereits zeigte eine Einstellung, wie die Zwölfjährige in einer Unterrichtspause ein Nutello & Go isst. Auch die übrigen Jugendlichen scheinen in ihrem zuckerhaltigen Ganztagesspeiseplan keinen Widerspruch zu sehen. Morgens wird Kellogg’s und Co. gefrühstückt, für die Schule ein Weißbrot mit Erdnussbutter und Marmelade geschmiert. Kein Wunder, staunt da ein Hausarzt nicht schlecht, wenn einer seiner Patienten mehr Gewicht auf den Rippen hat als vor ein paar Jahren. Auch wenn seine Mutter behauptet, sie würden seither auf dessen Zufuhr achten.

Da muss man sich nicht wundern, wenn man doppelt so viel wiegt, wie man sollte. Fed Up konfrontiert die Protagonisten nicht wirklich mit diesem Umstand, präsentiert dafür aber bisweilen offensichtliche Aussagen wie die, dass Lebensmittelfirmen daran gelegen ist, dass die Leute viel essen. Entsprechend ist es gut, dass zum einen viel süchtig machender Zucker in den Produkten steckt und zum anderen dessen Verzehrmenge nicht von der World Health Organization (WHO) in irgendeiner Art und Weise reglementiert wird. Immerhin ertappt der Film mal einen Lobbyisten-Arzt, der sich seine Studien von Coca Cola und Pepsi bezahlen lässt, aber nicht artikulieren kann, wieso der Konsum dieser Produkte keine Fettleibigkeit begünstigt.

Von dem ein oder anderen Aspekt der Dokumentation hätte man sich, wie auch bei Soechtigs Tapped, zwar nähere Einblicke gewünscht – zum Beispiel zur Tatsache, dass viele schlanke Menschen durch viszerales Fett um ihre Eingeweide ebenfalls, oft unbewusst, an Stoffwechselerkrankungen leiden können –, trotz allem gerät Fed Up aber über weite Strecken informativ. Wie so oft dürfte der Mehrwert in den USA größer sein als im Ausland, obschon – das sollte man nicht vergessen – auch Deutschland zu den zehn fettesten Ländern der Welt zählt. Ein Vorteil einer immer fettleibiger werdenden Gesellschaft ist zumindest derjenige, dass bei 95 Prozent fetten Menschen in Amerika kaum welche übrig bleiben, um diese deswegen zu hänseln.

7/10

1. Oktober 2014

Filmtagebuch: September 2014

BURT’S BUZZ
(CDN 2013, Jody Shapiro)
5.5/10

DON’T BE A MENACE TO SOUTH CENTRAL WHILE
DRINKING YOUR JUICE IN THE HOOD

[HIP HOP HOOD – IM VIERTEL IST DIE HÖLLE LOS]
(USA 1996, Paris Barclay)

3.5/10

FATHER OF THE BRIDE [VATER DER BRAUT]
(USA 1991, Charles Shyer)

6/10

FATHER OF THE BRIDE PART II
[EIN GESCHENK DES HIMMELS – VATER DER BRAUT 2]
(USA 1995, Charles Shyer)

5/10

FRANK
(UK/IRL 2014, Lenny Abrahamson)
1/10

GHOST SHIP
(USA/AUS 2002, Steve Beck)
5/10

L’ÉTRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS
[THE STRANGE COLOR OF YOUR BODY’S TEARS]
(B/F/L 2013, Hélène Cattet/Bruno Forzani)

1/10

LABOR DAY
(USA 2013, Jason Reitman)
5.5/10

LOST – SEASON 5
(USA 2009, Jack Bender u.a.)
7.5/10

LOST – SEASON 6
(USA 2010, Jack Bender u.a.)
7.5/10

KICK-ASS 2
(USA/UK 2013, Jeff Wadlow)
2.5/10

MAD MAX
(AUS 1979, George Miller)
7.5/10

MAD MAX 2: THE ROAD WARRIOR
[MAD MAX 2 – DER VOLLSTRECKER]
(AUS 1981, George Miller)

6.5/10

MAD MAX BEYOND THUNDERDOME
[MAD MAX – JENSEITS DER DONNERKUPPEL]
(AUS 1985, George Miller)

5.5/10

MANAKAMANA
(USA/NEP 2013, Stephanie Spray/Pacho Velez)
7/10

NEEDFUL THINGS
(USA 1993, Fraser Clarke Heston)
4.5/10

NEIGHBORS [BAD NEIGHBORS]
(USA 2014, Nicholas Stoller)

3.5/10

NIGHT MOVES
(USA 2013, Kelly Reichardt)
3.5/10

ORPHAN BLACK – SEASON 1
(CDN 2013, John Fawcett u.a.)
7/10

PHILOMENA
(UK/USA/F 2013, Stephen Frears)
6/10

RAMSAY’S KITCHEN NIGHTMARES – SEASON 1
(UK 2004, Christine Hall)
7.5/10

THE ROVER
(AUS/USA 2014, David Michôd)
5.5/10