24. Mai 2019

My Brilliant Career [Meine brillante Karriere]

We can’t always get what we would like in this world.

Vor genau 40 Jahren feierte My Brilliant Career von Gillian Armstrong seine Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes 1979. Die Adaption des gleichnamigen semi-autobiografischen Romans von Autorin Miles Franklin markierte einen neuen Feminismus, waren viele der Beteiligten wie die fürs Szenenbild zuständige Luciana Arrighi, Produzentin Margaret Fink, Gillian Armstrong und Drehbuchautorin Eleanor Witcombe allesamt Frauen. Und weibliche Regisseure seiner Zeit in Australien eher selten, wie Armstrong im Bonusmaterial der Criterion Edition verrät. Womit sie sich in gewisser Weise als Vorreiter von späteren Kolleginnen wie Jane Campion oder Jennifer Kent sieht. Dabei ist My Brilliant Career weniger feministisch als er sein könnte.

Die Handlung spielt kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts im australischen Busch. Als die finanziellen Schwierigkeiten ihrer Familie für ihre Kuh-Farm zunehmen, wird die 13-jährige Sybylla (Judy Davis) zu ihrer wohlhabenden Großmutter Bossier (Aileen Britton) geschickt – in der Hoffnung, Sybylla zu verheiraten. Was sich aber angesichts des eher stur-wilden Charakters des Mädchens als schwierig herausstellt. Zugleich hat Sybylla eigentlich ganz andere Träume, zum Beispiel eine große künstlerische Karriere in der Literatur oder Musik. Und dann ist da noch der gut betuchte Junggeselle Harry (Sam Neill), ein Freund der Familie. Beide beginnen im Laufe der Geschichte mehr und mehr, für den anderen Gefühle zu entwickeln.

Wirklich feministisch gerät My Brilliant Career dabei nur bedingt, eher wohnt dem Film ein emanzipatorisches Thema inne. Doch auch dieses wird außer den Szenen zu Beginn und zum Schluss weitestgehend vernachlässigt. “Don’t you ever dream that there’s more to life than this?”, fragt Sybylla eingangs ihre kleine Schwester Gertie (Marion Shad). Der Familien-Farm ist das Mädchen überdrüssig, kennt das Leben im Outback doch “just two states of existence: work and sleep”. Da die Farm ohnehin aufgrund einer Dürre seit kurzem schwächelt, nehmen die hungrigen Mäuler überhand. Weshalb Sybyllas Mutter (Julia Blake) sie als Hausmädchen einstellen lassen will. “I want to do great things”, klagt die Tochter wiederum, “not be a servant.”

Sie träumt von einer – brillanten – Karriere. Literatur, Musik, Schauspielerei – egal, solange sie kein Dasein im Busch fristen muss. “Illusions of grandeur” tut ihr Vater jene Träumereien ab. Statt im Dienst einer anderen Familie landet Sybylla kurz darauf auf dem Anwesen ihrer Großmutter, wobei man sich fragen mag, wieso Sybylla überhaupt als Hausmädchen arbeiten sollte, wenn ein betüdeltes Leben bei ihrer Großmutter eine Option war. Das Melken der Kühe weicht fortan Schönheitskuren: Maniküren, Gesichtsmasken, gekämmten Haare und hübschen Kleidern. Sybylla hätte nun die Möglichkeiten, ihre Träume zu verwirklichen – oder es zumindest zu versuchen. Das Problem von My Brilliant Career ist: Sie tut es aber nicht.

Seitens der Gesellschaft und ihrer Familie wird dies auch nicht erwartet. Ziel ist es, Sybylla zu verheiraten, sodass sie Ehefrau und Mutter sein kann. Eine (Geschlechter-)Rolle, die das Mädchen aber nicht so ohne weiteres annehmen will. Womit die Figur in der Tradition solcher Vorbilder wie Jane Austens Elizabeth Bennet (Pride and Prejudice) oder Louisa May Alcotts Josephine March (Little Women) steht. Wenn ihre Großmutter sie in der Folge fragt “do you want to be a burden on your family forever?”, dann gilt dies nicht nur für ihre Mutter, die mit der strauchelnden Farm genug zu tun hat, sondern auch für das Leben auf Bossiers Anwesen. Einfach aushalten lassen kann keine Lösung sein – schon gar nicht eine emanzipatorische.

“She needs a man’s hand”, meint Großmutter Bossier zwar, aber die Frauen in Sybyllas unmittelbarem Umfeld sprechen eher ein anderes Bild. So lebt Sybyllas Tante Helen (Wendy Hughes) als Strohwitwe bei ihrer Mutter. Sie hatte einst aus Liebe geheiratet, ehe ihr Mann sie für eine andere Frau verließ. Weshalb sie ihrer Nichte von einer romantischen Ehe abrät – ungeachtet der Tatsache, dass auch eine Ehe aus Zweck derart enden kann. Großmutter Bossier ist ebenso unabhängig und alleine wie Sybyllas Großtante Gussie (Patricia Kennedy). Keine dieser Frauen versteht sich als abschreckendes Beispiel, wieso sollte also Sybylla bestrebt sein, an ihrem (neuen, wohlhabenden, Mann-freien) Status quo zwingend etwas zu ändern?

“They’re fortunate, aren’t they? Every day they get their food”, bewundert sie in einer Szene die Vögel des Vogelhauses von Tante Gussie. Deren Leben unterscheidet sich nicht so sehr von ihrem eigenen, besteht dieses inzwischen doch statt aus Arbeit und Schlaf aus Schlafen und Feiern. In ihrem Audiokommentar zum Film geht Gillian Armstrong auch nie wirklich auf feministische Aspekte in Franklins Roman ein, sondern eher auf gesellschaftliche. Für die Regisseurin ist Sybylla “the new girl that was testing out society”. Dabei avanciert My Brilliant Career zu einer Art “fish out of water”-Geschichte, in der Sybylla eher mit ihren Busch-Gepflogenheiten in der gehobenen Gesellschaft auffällt als mit ihrem künstlerischen Talent.

Sybyllas Aversion gegen die Ehe und Rebellion gegen das Rollenbild, um sich als Künstlerin oder zumindest als Persönlichkeit zu finden, irritiert. Das eine schließt das andere nicht aus, solange sie den richtigen Partner an ihrer Seite weiß, der sie unterstützt. Immerhin scheint Harry von ihrem Charakter angetan, wird Sybylla doch nicht gerade als Schönheit erachtet. Gertrude Bell, die zur selben Zeit aufwuchs wie Miles Franklin, biss sich ebenfalls an der Erwartungshaltung an ihr Geschlecht und emanzipierte sich in der Folge, indem sie ihren Träumen folgte. Hier hätte es in My Brilliant Career schon gereicht, wenn wir Sybylla bei ihren künstlerischen Versuchen begleiten, die von dem Umfeld entweder verlacht oder nicht für voll genommen werden.

“I can’t lose myself in somebody else’s life, when I haven’t lived my own yet”, meint Sybylla zum Schluss, wenn sie nach einigen Entwicklungen (die sie, ironischer Weise, dann doch noch kurzzeitig zur Bediensteten machten) endlich beginnt, ihre Träume zu verwirklichen. Abseits der Probleme der Geschichte gelang Gillian Armstrong ein überzeugendes Regie-Debüt, mit herrlichen Bildern des Outbacks von Don McAlpine und einem gefälligen Ensemble. Selbst wenn eine 24-jährige Judy Davis wenig glaubhaft eine 13-Jährige darstellt (der Film spart das Alter jedoch aus). So ist My Brilliant Career vielleicht nicht zwingend feministisch, half aber zumindest weiblichen Filmschaffenden in Australien auf dem Weg zur eigenen brillanten Karriere.

5/10

3. Mai 2019

Mirai no Mirai [Mirai]

All passengers, board now

Teilen ist nicht zwingend etwas, das Kinder gerne tun. Schon gar nicht, wenn es um die Aufmerksamkeit und Fürsorge ihrer Eltern geht. Kommt ein Geschwisterchen ins Haus, spielt man selbst plötzlich nur noch die zweite Geige. Diese Erfahrung muss auch der 4 Jahre alte Kun (Kamishiraishi Moka) in Hosoda Mamorus Mirai no Mirai – bei uns abgekürzt zu Mirai – machen. Ist die Faszination mit seiner neugeborenen Schwester Mirai eingangs noch relativ groß, lässt diese spätestens dann nach, als sich das Baby nicht gerade als Spielkamerad entpuppt und gleichzeitig auch noch die Aufmerksamkeit ihrer Eltern für sich beansprucht. Ein Ärger, der sich im Verlauf dann wiederholt beginnt, in physischer Gewalt gegen Mirai niederzuschlagen.

“You have to protect her, no matter what”, instruierte zwar Mutter Yumi (Aso Kumiko) direkt bei ihrer Heimkehr. Doch vergebens. Er habe nie zugestimmt, ein großer Bruder zu sein, lamentiert Kun mehrfach. Und hat damit nicht Unrecht. Die Rolle wird ihm auferlegt, ob es ihm passt oder nicht. Es ist ein Lied, das er aber nicht alleine singen muss. “I know exactly what you’re feeling right now”, versichert ihm später Familienhund Yukko (Yoshihara Mitzuo), als er menschliche Gestalt annimmt. Wie im Filmvorspann zu sehen, gebührte ihm einst die ganze Liebe von Yumi und ihrem Mann (Hoshino Gen) – bis ihm mit Kuns Geburt ein Konkurrent erwuchs. Für Kun gilt es in Mirai no Mirai fortan, Empathie zu entwickeln und (erste) Reife zu erlangen.

Nach jedem Wut- oder Frustanfall entwickelt der Familienbaum im Vorgarten magische Kräfte. Diese lassen Yukko menschliche Form annehmen, bringen eine jugendliche Version von Mirai (Kuroki Haru) aus der Zukunft in die Gegenwart oder transportieren Kun selbst wiederum in die Vergangenheit. Dort trifft er auf Yumi, als sie in Kuns Alter war, oder auf seinen jüngst verstorbenen Urgroßvater (Fukuyama Masaharu). Jedes Aufeinandertreffen hält eine Lektion für den 4-Jährigen bereit, die vom besseren Verständnis für seine Mutter bis hin zu sich selbst reicht. Und dabei Momente liefert, die (s)ein Leben beeinflussen – oder wie Mirai ihrem großen Bruder später sagt: “These little things all come together to make up who we are today.”

Entgegen dem, was das Poster oder der Einstieg über Mirai no Mirai suggerieren mag, entwickelt sich der Film weniger zum Fantasy-Abenteuer, das Kun über das ältere Pendant seiner Schwester mit ihrer jüngeren Version versöhnen soll. Vielmehr zeichnet Hosoda, der sich von der Reaktion seines eigenen Sohnes auf die Geburt seiner Schwester inspirieren ließ, einen authentischen Lebensentwurf eines 4-Jährigen, der sich im Wandel befindet. Und in welchem nicht alles auf Anhieb klappt, sei es der erste Tritt ins Fahrrad ohne Stützräder oder die geschwisterliche Bindung. Obschon der Film ihren Namen trägt, dreht sich Mirai no Mirai eher darum, wie sich Mirais Anwesenheit auf ihre Familie auswirkt – sowohl auf Kun als auch ihre Eltern.

Es sind Elemente, die Hosoda bereits in Ōkami Kodomo no Ame to Yuki anriss, sei es der Schlafmangel frischgebackener Eltern oder das durch die Kinder verursachte Chaos zuhause. Eine besondere Note entwickelt Mirai no Mirai dabei, indem Yumi nach kurzer Elternzeit wieder ihrem Beruf nachgeht, während ihr Mann als freischaffender Architekt von zuhause arbeitet und – zum Widerwillen von Kun – auf die Kinder aufpasst. Damit avanciert er in gewisser Weise zu einer Art 3. Kind, muss Yumi ihm doch erst „beibringen“, was ihn im Haushalt alles erwartet und wie er es umzusetzen hat. Indem Hosoda die erwachsene Yumi mit ihrem 4-jährigen Ich spiegelt, unterstreicht er auch den Kreislauf, dass wir alle selbst wie unsere Eltern werden.

Wo Yumi als Kind ebenso das Spielzeug zuhause rumfahren ließ und dafür von ihrer Mutter (Miyazaki Yoshiko) schwer gerügt wurde, sind die Rollen in der Gegenwart gegenüber Kuns Eisenbahn-Modellen im Wohnzimmer dann vertauscht, die Reaktion jedoch identisch. Gute Eltern wollen Yumi und ihr Mann sein, nur ein Patentrezept gibt es dafür nicht. “Raising kids is all about good intentions”, bestärkt Yumi ihre Mutter. Die Geduld und das Verständnis der Erwachsenen gehen Kun natürlich in seinen jungen Jahren noch ab. “I know I’m not that cute anymore”, gibt er sich scheinbar irgendwann im Zuneigungswettbewerb mit Mirai geschlagen, ergreift dann aber dennoch im Schlussakt als finaler Strohhalm für elterliche Aufmerksamkeit die Flucht.

Hosoda hätte es sich leicht machen können, indem er Kun im Verbund mit der älteren Version Mirais ein Abenteuer über Zeit und Raum erleben lässt. Nicht unähnlich seinem Meisterwerk Toki o Kakeru Shōjo. Womöglich wäre Mirai no Mirai mit einer etwas stringenteren Handlung erzählerisch noch runder geworden, ohne deswegen seine familiären emotionalen Momente einzubüßen. Schließlich schaffte Hosoda es auch, diese in den erwähnten Werken sowie Samā Wōzu und Bakemono no Ko einzubauen. Insofern ähnelt sein jüngster Film eher Edward Yangs Yi Yi, wenn der Regisseur verschiedene Momente dieses Familienlebens durch die Augen des kleinen Kun reflektiert, lose zusammengehalten von der ihn treibenden Eifersucht gegenüber Mirai.

Hinsichtlich seiner Animation fügt sich Mirai no Mirai gut an die bisherigen Arbeiten von Hosodas Studio Chizu an, ist allerdings weniger farbenfroh und verspielt als ein Samā Wōzu und Bakemono no Ko. Schön anzusehen sind die Luftbilder auf den Handlungsort Yokohama, welche die Stadt in den verschiedenen Zeitepochen, die Kun im Verlauf besucht, präsentiert. Ungewöhnlich ist auch das Haus von Kuns Familie, das sich eher westlich als japanisch orientiert und mit Beton sowie Glas arbeitet (“I will never get used to these modern homes”, meint Yumis Mutter in der Eröffnungsszene). Und hilfreich zur Vermittlung der emotionalen Botschaft ist auch hier wieder die schön gefühlvolle musikalische Untermalung von Takagi Masakatsu.

Letztlich ist Mirai no Mirai ein sehr persönlicher Film – nicht nur weil er von Hosodas eigenen Kindern inspiriert ist, sondern weil sich seine Handlung ausschließlich auf Kuns Familie und ihr Haus beschränkt. Der 4-Jährige ist dabei eine nachvollziehbare, wenn auch vielleicht nicht unbedingt vollends sympathische Identifikationsfigur (eine Meinung, die sein jugendliches Alter Ego teilt). Im Verbund mit dem Einblick in Yumis Jugend zeigt Hosoda aber durchaus, dass dies nicht außer-, sondern gewöhnlich ist. Auch viele Zuschauer dürften sich erinnern, wie sie womöglich mal Reißaus genommen oder einen Anfall gekriegt haben. Indem Hosoda diese Erfahrung seiner Kindern teilt, führt er uns auf eine Reise in unsere eigene Vergangenheit.

7/10