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25. Oktober 2019

Portrait de la jeune fille en feu

Turn around.

Für Jean-Jacques Rousseau lag die Freiheit des Menschen „nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will“. Beispielsweise eine Ehe mit einer Person einzugehen, die einem unbekannt ist. Ein Schicksal, wie es Héloïse (Adèle Haenel) in Céline Sciammas Portrait de la jeune fille en feu – hierzulande Porträt einer jungen Frau in Flammen – droht. Ursprünglich abgeschoben zu den Benediktinerinnen, steht Héloïse nun die Heirat mit einem Mailänder bevor, nachdem ihre Schwester, die eigentlich als Braut vorgesehen war, dem Arrangement durch Suizid entging. Das einzige Problem: Vor seiner Einwilligung will der Bräutigam wissen, wie seine Angetraute aussieht – ein Porträtbild von Héloïse muss also her.

Für dieses engagiert Héloïses Mutter (Valeria Golino) die Malerin Marianne (Noémie Merlant). Deren Vater fertigte einst das Porträt der Mutter an, Marianne soll in Kürze das Geschäft ihres Vaters übernehmen. Zuträglich für Mariannes Arbeitsauftrag ist ihr Geschlecht, da sie nominell als Begleitung für Héloïses tägliche Spaziergänge engagiert wird. Auch unter dem Vorwand, dass sich nicht die nächste Tochter von den Klippen jener Insel stürzt, auf der die Familie lebt. Da Héloïse das Porträtbild unterminiert (es gab bereits einen gescheiterten Entwurf), soll Marianne bei ihren Spaziergängen Blicke auf Héloïse erhaschen und das Porträt schließlich aus der Erinnerung heraus malen. Dabei gewinnt sie aber nicht nur äußerliche Eindrücke ihres Objekts.

Die sind es wiederum scheinbar ausschließlich, die den wartenden Bräutigam interessieren. Das Aussehen der künftigen Ehefrau steht über ihrem Charakter, den ein Porträt nur schwerlich einfangen kann. Bezeichnend, dass Héloïse selbst überhaupt keine Informationen erhält über ihre Ehe, vielmehr denselben Wissensstand besitzt wie Marianne, worauf sie bei einem Strandausflug hinweist. Die Welt von Portrait de la jeune fille en feu ist eine patriarchalische Ende des 18. Jahrhunderts. Frauen sind hier eher Güter als gleichberechtigte Partner – etwas, das Männer besitzen, ohne ein Mitspracherecht der Ehefrauen. Céline Sciamma zeichnet ihre beiden Figuren Héloïse und Marianne hierbei gewissermaßen als Gegenentwurf zueinander.

Sie bezweifle, dass sie heiraten wird, verrät Marianne in einer Szene. Und bezieht sich damit auf jene Freiheit, von der Rousseau sprach, die Héloïse allerdings nicht zur Verfügung steht. Wo Marianne quasi unabhängig ist (auch hinsichtlich des Rollenbildes), war es Héloïse im Kloster nicht einmal möglich gewesen, zu rennen. Geradezu erlösend gerät ihr erster Ausflug aus dem Anwesen, den sie mit einem kurzen Sprint beschließt. Marianne obliegt die Entscheidung, ob sie heiratet, hat sie dies zur finanziellen Absicherung schließlich auch gar nicht nötig, da sie selbstständig ist. Sie kann reisen, Konzerte besuchen, Sex haben, sich verwirklichen – Dinge, die Héloïse bisher fremd waren, da sie als familiäre Investition auf Halde geparkt war.

Portrait de la jeune fille en feu präsentiert mit dem Hausmädchen Sophie (Luàna Bajrami) noch eine Zwischenwelt dieser beiden Lebensentwürfe. Einerseits natürlich in der Diensttätigkeit und ihrer gesellschaftlichen Klasse eingeschränkt, fehlt es Sophie an der Weltoffenheit von Marianne, ironischer Weise ist sie aber dennoch zugleich freier als Héloïse, ihre Hausherrin. Besonders schön ist dabei, dass Céline Sciamma sich alle drei Frauenfiguren in der Folge auf Augenhöhe begegnen lässt. In einer Szene geben sich die Charaktere dann sogar einem Rollenspiel hin, in welchem Héloïse das Dienstmädchen gibt und Sophie die Dame des Hauses mimt. Eine ungewollte Schwangerschaft Sophies entwickelt sich dabei zum bindenden Element.

Es sind aber Héloïse und Marianne, zwischen denen sich mehr und mehr eine Romanze entspinnt, je eindringlicher das Porträt vorankommt. Eine Rolle spielt hier auch die Sage um Orpheus und Eurydike, welche die drei Frauen während des Films analysieren. Das Glück von Héloïse und Marianne ist aufgrund der geplanten Hochzeit (sowie der gleichgeschlechtlichen Liebe) lediglich eines auf Zeit. „Nicht fröhlich, aber lebendig“, beschreibt Marianne in einer Szene den 3. Satz von Vivaldis „Sommer“-Concerto seiner „Vier Jahreszeiten“. Und könnte mit diesen Worten im Grunde auch Héloïses zukünftiges Leben in Mailand beschreiben, was ihr zwar Zugang zu Mode und Kultur gewährt, aber dafür seinen eigenen liberalen Preis verlangt.

Céline Sciamma erzählt diese Liebesgeschichte zumeist ohne großartig ausschweifende Dialoge, weiß aber in denen, welche die Figuren äußern, hervorragend auf den Punkt zu kommen. Also in wenigen Worten zielgeführt auszudrücken, was die Figuren denken, hoffen und wollen. Eine Kunst für sich, die bei den Filmfestspielen von Cannes auch entsprechend mit der Auszeichnung für das Drehbuch gewürdigt wurde. Diskutabel wäre allenfalls die narrative Klammer, die dem Film seinen Rahmen gibt, indem die Geschichte in einen Zeitsprung in Mariannes Zukunft eingebettet wird. Adèle Haenel und Noémie Merlant liefern ebenso überzeugende Leistungen ab wie Golino und Bajrami trotz derer eher geringeren Leinwandpräsenz.

In der Interpretation des Eurydike-Dramas der drei Frauen findet sich ein Anflug von Slavoj Žižeks Analyse zur Psyche des Orpheus, indem dessen Umdrehen nach der Errettung der Geliebten aus der Unterwelt der Verklärung Eurydikes zum Inspirationsobjekt dient. Sciamma inszeniert mit Portrait de la jeune fille en feu ihre eigene Version der klassischen Tragödie, in der Marianne die Funktion des Orpheus übernimmt. Der Film ähnelt in Grundzügen ihren vergangenen Werken, ist Héloïse doch ebenso ein Opfer ihrer Umstände wie Marieme in Bande des filles oder Laure in Tomboy. Aber wie bereits Rousseau einst sagte: Wer nicht etwas Leid ertragen kann, „muss sich darauf gefasst machen, viele Leiden über sich ergehen zu lassen“.

10/10

28. April 2017

Nocturama

It had to happen. And now it has.

Irgendwann ist es genug und jeder Ärger braucht sein Ventil. “It had to happen”, resümiert da gegen Ende von Bertrand Bonellos Nocturama eine von Adèle Haenel gespielte junge Passantin angesichts einer Serie von Bombenanschlägen, die tagsüber Paris heimgesucht haben. Bonello hat scheinbar vor sechs Jahren mit der Arbeit an seinem Drehbuch begonnen, sodass die Attentate in seinem Film eine etwas andere Einordnung verdienen, wie man aufgrund der vermehrten Zahl islamistischer Anschläge in Frankreich seit dem 13. November 2015 ansonsten gewillt wäre. Insofern spielt Nocturama vielleicht in einer Art Paralleluniversum, in dem die Grande Nation nicht seit anderthalb Jahren im Ausnahmezustand steckt.

Der Film folgt zu Beginn den Vorbereitung mehrerer geplanter Anschläge, für die sich eine Gruppe Jugendlicher verantwortlich zeigen. Koordiniert und nach festem Zeitplan fahren dabei Yacine (Hamza Meziani), Sarah (Laure Valentinelli), David (Finnegan Oldfield) und Mika (Jamil McCraven) mit der Metro durch Paris. Hin und wieder machen sie Schnappschüsse von unterwegs, die als Kommunikation und Update an die anderen dienen. Unterdessen checkt Sabrina (Manal Issa) in ein Hotel ein und André (Martin Guyot) nimmt einen Besuch beim Innenminister wahr. Der Ablauf der Vorbereitungen, der mit wenigen Dialogzeilen auskommt, erinnert von seiner Spannungsintensität dabei etwas an Jules Dassins Heist-Klassiker Rififi.

Erst nach einer halben Stunde etwa zieht Bertrand Bonello den Deckmantel leicht von seiner Handlung, wenn er uns die Figuren und die Vorgeschichte etwas genauer erzählt. Allerdings nur oberflächlich, denn auf alle Fragen liefert der Regisseur keine Antworten, vielmehr lässt er vieles im Raum stehen – allen voran ein Tatmotiv für die Gruppe der zehn jungen Leute. Die kommen aus verschiedenen sozialen Milieus, von der Oberschicht um André, dessen Vater mit dem Innenminister bekannt ist, hin zur Arbeiterklasse um Greg (Vincent Rottiers) oder Fred (Robin Goldbromm) sowie den beiden Geschwistern Sabrina und Samir (Ilias le Dore) mit Migrationshintergrund. Was also bringt sie alle zusammen, um Terroranschläge in Paris zu verüben?

Mögliche Indizien streut der Film zu Beginn seines zweiten Akts allenfalls am Rande. So verfolgt eine der Figuren die Berichterstattung über den Bankdirektor der HSBC, der mehrere Tausend Angestellte vor die Tür setzt. Und wir sehen, wie Greg einst Fred und Yacine kennengelernt hat. Fred bewarb sich um eine Stelle als Nachwächter einer Parkgarage, nachdem er bereits seit einem Jahr intensiv auf Jobsuche war. Yacine hat immerhin einen Job als Kellner in einem Café, in welchem Sarah sich mit André auf ihre Abschlussprüfung in Geschichte vorbereitet. André selbst referierte in seiner Prüfung über Totalitarismus und schloss diese mit (s)einem provokativem Fazit: “Civilization is a condition for the downfall of civilization.”

Da Bonollo keine Antworten für das „Wieso“ der Aktionen seiner Protagonisten liefern will, sondern nur ein „Wie“, obliegt die Interpretation der Ereignisse und Ursachen dem Zuschauer. Gegenüber Deutschland ist die Arbeitslosigkeit unter französischen Jugendlichen laut Eurostat mit 23,6 Prozent fast vier Mal so hoch. Jede/r vierte Jugendliche im Arbeitsmarkt ist somit ohne Arbeit. Der Soziologe Louis Chauvel sprach diesbezüglich in der Zeit jüngst von einer „desillusionierte[n] und frustrierte[n] Generation“. Denn nicht nur ist ein Viertel der 18- bis 24-Jährigen ohne Job, selbst diejenigen, die einen Hochschulabschluss vorweisen können, suchen oft bis zu einem Jahr, ehe sie tatsächlich mal eine Anstellung irgendwo finden.

Als Folge fühlt sich eine ganze Generation von ihrem Staat abgehängt. Weder werden ihre Interessen vertreten, noch ihre Probleme gelöst. Für Chauvel führt dies „zu einer Spaltung zwischen ihnen und dem politischen Establishment“. Die Jugend wendet sich zum einen ab und im schlimmsten Fall denen zu, die ihnen ein Ohr zu leihen scheinen, wie der Front National. Sie „distanzieren und radikalisieren sich“, so Louis Chauvel im Zeit-Interview. Mit diesem Hintergrund scheint ein mögliches Motiv für die zehn Jugendlichen in Nocturama gefunden, die sich zum einen abgehängt fühlen, zum anderen frustriert ob der beruflichen Situation sind oder wie im Falle von André einfach einer anderen politischen Ideologie zu folgen scheinen.

Geschadet hätte es dennoch nicht, wenn Nocturama seinen Charakteren einen gewissen Beweggrund liefern würde, da der Film die Bombenanschläge letztlich um seiner selbst Willen inszeniert. Die stellen durchaus ein Statement dar, mit ihren Angriffen auf das Innenministerium sowie die HSBC, erhalten aber keine wirkliche Stimme. “Think we killed many?”, fragt Sarah da später. “We tried not to”, erwidert ihr Freund David. Die Figuren verbarrikadieren sich hierzu in der zweiten Hälfte des Films in einem Einkaufszentrum, wo Omar (Rabah Nait Oufella), der Zehnte im Bunde, als Sicherheitsdienst arbeitet. Hier harrt die Gruppe der Dinge, während sie bisweilen im Fernsehen die Berichterstattung über die Attentate verfolgt.

Zwar schenkt Bonello hier einigen von ihnen ein paar Einblicke, dennoch bleiben die meisten der Jugendlichen recht eindimensional. Da die individuellen Motive unklar sind, wirken auch etwaige Zweifel bei Sarah oder Mika ziemlich halbgar. Hinzu kommt, dass die Figuren zuvor nicht alle vorgestellt wurden, sodass man als Zuschauer kurz etwas orientierungslos ist, als zwei von ihnen das verabredete Rendezvous verpassen, man ihre Namen aber nicht zuordnen kann. Zugleich hätte das Etablieren von jeweiligen Motiven auch der zweiten Hälfte nochmal eine gewisse interne Dynamik verliehen, wohingegen die Handlung so nun relativ konfliktfrei ist, selbst als David später zwei Obdachlose ins Einkaufszentrum lässt.

War der Auftakt von seiner angespannten und weitestgehend schweigsamen Exposition der kommenden Geschehnisse somit eher wie eine moderne Variante von Rififi, erinnert die zweite Hälfte von Nocturama mit dem freizügigem Setting des verlassenen Einkaufszentrums an George A. Romeros Dawn of the Dead – nur eben ohne Zombies. In gewisser Weise bauen sich die Jugendlichen hier eine Welt abseits der Welt auf. Sie kleiden sich neu ein, testen die teure Soundanlage aus, nehmen sich Lebensmittel aus dem Supermarkt und vertreiben sich sonst wie die Zeit. Bonello wartet bei der Gelegenheit bewusst mit leichter Konsumkritik auf, wenn er zwei der Figuren dabei jeweils Mannequins gegenüberstellt, gekleidet wie sie selbst.

Allerdings holt der Film auch aus diesem Setting nicht genug heraus. Die Figuren setzen sich kurz mit ihrer Handlung auseinander, aber nicht wirklich. Somit erfahren wir nicht nur nicht, was sie dazu bewogen hat, Bombenanschläge durchzuführen, wir erfahren auch nur bedingt, wie sie mit den Konsequenzen dieses Handelns zurechtkommen. Da Bonello durchweg bei seinen Charakteren bleibt, vermag sich abseits der Fernsehnachrichten sowie der immer wiederkehrenden Polizei- und Feuerwehrsirenen kein Bild vom übrigen Paris einzustellen. Ein Bekennerschreiben scheint es ebenfalls nicht zu geben – zumindest sahen wir keines –, sodass die Außenwelt in Nocturama wohl genauso schlau bzw. im Dunkeln ist wie das Publikum.

Das alles macht in der Summe keinen wirklich guten Film, da Bonello weder seine nur grob umrissene Geschichte noch die eindimensionalen Figuren in den Vordergrund rückt. Genauso wenig eine politische Stimmung oder einen sozio-kulturellen Tenor. Dabei hatte André in seiner Aufsatz-Hilfestellung an Sarah zuvor noch skizziert, wie die Vorgehensweise für Nocturama hätte aussehen können. “In part A, expose the problem and define it. In B, explain it. In part C, take it to its paroxysm to define the limits. And in D, suggest a solution.” Spätestens bei Teil D scheitert der Film, der jedoch auch ansonsten meist in einer Art narrativem Vakuum existiert. Und in einem Ende kulminiert, das angesichts der Ereignisse einerseits passt, aber auch irritiert.

Prinzipiell ist die Prämisse und die Handlung des Films zwar durchaus interessant, nur fehlt ihr eine gewisse Aussage oder Richtung. Denn die fehlende Perspektive der Jugend und ihre hohe Arbeitslosigkeit ist kein wirkliches Thema, sondern nur der Versuch einer möglichen Interpretation. Was Bonello letztendlich mit Nocturama sagen will, ist unklar, außer dass er eine gewisse Stimmung von Aufruhr einfangen wollte, die jederzeit explodieren kann. Angesichts der immer wiederkehrenden Spannungen in den Pariser Banlieus sicher nicht zu Unrecht – und eventuell nur eine Frage der Zeit. “It had to happen. And now it has”, wie es Adèle Haenels Figur kühl ausdrückt. So als hätte jeder bereits mit einem solchen Ausgang gerechnet.

5.5/10