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7. September 2024

Gasoline Rainbow

That's a baby fucking horse. 

Freiheit kann etwas Erdrückendes sein. Wenn einem alles offen steht, aber die Orientierung fehlt. Das Ende der Schulzeit gilt oft als befreiend. Keine Zwänge mehr, endlich ist man sein eigener Herr. Doch meist legt man die eine Zwangsjacke ab, um dafür eine andere überzustreifen. In Gasoline Rainbow unternehmen die fünf Freunde Makai, Nichole, Nathaly, Micah und Tony nach dem Schulabschluss einen Road Trip: Vom Mittleren Westen der USA wollen sie in einem Van die 513 Meilen zum Pazifik überbrücken, um dort das Meer zu sehen. “One last fun adventure”, erläutert Nathaly die Beweggründe des Quintetts. “’cause when we get back, we all have to get fucking jobs.” Ihre Freiheit hat somit ein kurzes Haltbarkeitsdatum. 

Bill Ross IV und Turner Ross liefern wie in ihren Vorgängerfilmen Bloody Nose, Empty Pockets und Tchoupitoulas in Gasoline Rainbow erneut ein „Amalgam aus Erlebnissen“, wie Turner Ross jene Vermischung aus quasi-inszenierten dokumentarischen Momenten einmal nannte, denen sich er und sein Bruder widmen. Laiendarsteller werden mit einem gewollten Szenario oder einer Umgebung konfrontiert, können in dieser entweder sie selbst sein oder aber eine gekünstelte Version von sich. Das Ergebnis ist fabriziert und authentisch zugleich – keine Dokumentation tatsächlicher Momente, aber eine Darbietung von Momenten, die sich real anfühlen. Der Film gebiert sich als Amalgam aus Erlebnissen, indem er ähnliche des Zuschauers evoziert.

Im Kern handelt es sich um einem Film über die Jugend – die Jugend von heute, also Gen Z, aber auch die Jugend, die jedem einst innegewohnt hat. Womit sich Makai, Micah, Nichole, Nathaly und Tony konfrontiert sehen, sind keine Herausforderungen für ihre spezifische Generation, sondern jene, denen sich alle auf ihrem Weg von Kindes- ins Erwachsenenalter gegenübersehen. Die Freiheit des Schulabschlusses mündet in den Ketten des Kapitalismus, der Notwendigkeit einer Arbeit. Man verlässt das eine Gehege und landet im nächsten. “You can't escape everything”, ist Micah bewusst. “You kinda just have to deal with it.” Aber noch nicht jetzt, weshalb sich das Quintett aufmacht, zu einem letzten Hurra auf die Jugend.

“I stole the right to live, as if there was no time”, singt Michael Hurley in  „I Stole the Right to Live“, das in einer Szene auf der Tonspur zu hören ist. In ihrem Van können die fünf Freunde sie selbst sein. Sie gebären sich als Außenseiter, nicht unähnlich zu den Protagonisten in Bloody Nose, Empty Pockets, die ebenfalls eine Nischengruppe der Gesellschaft repräsentierten. Auch wenn sie nicht zwingend aus dem Rahmen gefallen wirken. Der Road Trip erlaubt es ihnen, die Entscheidungen, die sie zu treffen haben, noch etwas hinauszuschieben. Auf ihrem Weg gen Portland treffen sie andere Figuren, die womöglich einst ähnlich wie die Fünf vor einer Kreuzung auf der Straße des Lebens standen, aber unterschiedliche Abzweigungen nahmen.

Da passt es ins Bild, das später in einer Szene ein Millennial mit Nichole gemeinsam Howard Shores „The Shire“ lauscht, repräsentieren die Hobbits aus The Lord of the Rings doch Sorglosigkeit und joie de vivre par excellence. Ebenso treffend wirkt es, dass die fünf jungen Erwachsenen die Teilnahme an einer „End of the World“-Party anstreben – diese aber nicht auffinden können. Das Ende ihrer Welt muss also buchstäblich verschoben werden. “We’ll see it and hear it when we see and hear it”, sinniert Gary, selbst eine Art Lost Boy aus Nimmerland, dem sie in Portland begegnen und der sie zu der besagten Feier lotsen soll. Als sie diese letztlich aufspüren, zeigt sich, dass sich diese doch ganz anders darstellt, als von ihnen gedacht.

Man kann sich mit den Figuren in Gasoline Rainbow identifizieren, da man ihre Ängste, Probleme und Hoffnungen nachvollzieht – gleichzeitig schenken die Laiendarsteller dem Publikum aber auch reale Einblicke in ihr eigenes Leben, zum Beispiel wenn Nathaly die Deportation ihres Vaters nach Mexiko reflektiert und wie sich dies auf ihr Familiengebilde ausgewirkt hat. “In the same old town, I saw your face / You seemed so sad, I felt the same”, heißt es im Refrain aus „Changes“ von Antonio Williams und Kerry McCoy, was sich beinahe wie eine Hymne für diesen Film anschickt. Nathaly, Nichole, Makai, Micah und Tony sind sympathisch und gewinnend wie Gasoline Rainbow selbst. Humanistisches Kino in seiner einnehmendsten Art.

7.5/10

17. Mai 2013

Tchoupitoulas

Life ain’t gonna be always what it seems.

Im Stück Don Karlos lässt Friedrich Schiller den Marquis von Posa die Königin bitten, eine Nachricht an den durch ihn verhafteten Prinzen auszurichten: „Sagen Sie Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird“ (IV, 21). Schaut man sich Tchoupitoulas an, die Dokumentation von Bill Ross IV und seines Bruders Turner Ross, verspürt man das Begehren, dies auch dessen jüngstem Protagonisten William auf den Weg mitzugeben. Der afroamerikanische Knabe macht sich an eines Abends mit seinen älteren Brüdern Kentrell und Bryan sowie ihrer Hündin Buttercup auf den Weg ins Nachtleben von New Orleans. “We saw some pretty amazing things”, wird William später sagen.

Einen wirklichen Handlungsbogen besitzt der Film der Gebrüder Ross dabei nicht und doch ist ein roter Faden durch den chronologischen Ablauf der Geschehnisse vorhanden. Mit der Kamera wird ein nächtlicher Ausflug der drei Jugendlichen ins French Quarter begleitet, was den Zuschauer in gewisser Weise zum vierten Bruder werden lässt. Gleichzeitig verliert sich die Kamera bisweilen auch in ihrer Umgebung, besucht eine Gruppe Burlesque-Tänzerinnen, die das einheimische Lied „Iko Iko“ singen und diskutieren, mehrere Straßenmusiker, ein paar Betrunkene oder einen mit seiner älteren Kundschaft flirtenden Austernöffner. Auch die Stimme eines Touristenführers begleitet den Zuschauer hier und da aus dem Off.

Selten hat man einen Film gesehen, der einerseits so harmonisch in seine Umgebung eintaucht und zugleich in dieser Funktion als Türöffner für das Publikum funktioniert. Böte sich hier zusätzlich noch (gutes) 3D an, man wäre wohl wahrhaftig mittendrin statt nur dabei. So verlockend pulsierend das lebendige Nachtleben von The Big Easy ist, im Mittelpunkt stehen dennoch die Erlebnisse der drei „Führer“ und Brüder. “This is everything I hoped for”, schwärmt William an einer Stelle. “Naked pictures, clubs – you guys know what I’m talking about?” Wieso seine Eltern den neunjährigen Knirps mit seinen beiden jugendlichen Brüdern allein bis spät in die Nacht durchs French Quarter bummeln lassen, spielt da keine wirkliche Rolle.

Was Tchoupitoulas vor allem trägt, ist Williams kindliche Begeisterung. “I’d live life like I’d never lived before”, erklärt er seine Zukunftspläne. Zuerst will er ein NFL-Star werden, mit sechs Meisterringen – die er dann alle an einem Finger trägt. Anschließend wird er ein Anwalt und später auch noch Architekt. Und dass er die Fähigkeit zu Fliegen lernt und dafür einen Stern auf dem Walk of Fame erhält, ist sowieso klar. Zudem beschließt der 9-Jährige: “I wanna stay at 21 forever”. Wie es mit Kindern so ist, lechzt es William nach Aufmerksamkeit, vor allem der seiner großen Brüder. Die torpediert er während ihres Ausflugs mit allerlei Fragen, z.B. wie groß sie gerne wären oder was sie bei einem Löwenangriff machen würden.

“Shut up, William”, entgegnen die irgendwann genervt. “You’re asking too many questions.” Es verwundert bei all den Wundern der Nacht nicht, dass die Brüder später die letzte Fähre nach Hause verpassen und bis zum Morgen festsitzen. “I need my beauty sleep”, lamentiert der müde William. Als sie jedoch am Hafen ein altes, verlassenes und dennoch beleuchtetes Kreuzfahrtschiff entdecken, ist es mit seiner Schläfrigkeit schnell dahin. Entgegen des merklichen Widerwillens von Kentrell erkunden sie dessen heruntergekommene Innenräume. Selbst als ihre Nacht der Wunder am Ende schien, stoßen die Brüder also noch auf ein letztes Abenteuer. Ein solches, wie es wohl die meisten in ihrer Jugend erlebt haben dürften.

Mit Tchoupitoulas ist den Ross-Brüdern ein wahrer Erlebnisfilm gelungen, der einerseits natürlich von den drei sympathischen Zanders-Brüdern als Protagonisten lebt, anderseits aber von der magischen Atmosphäre des Nachtlebens von New Orleans. Entgegen der Eindrücke wurde der Film natürlich nicht innerhalb einer einzigen Nacht, sondern über den Verlauf von neun Monaten gedreht. Fiktion und Dokumentation verschwimmen in diesem Fall also zu einem magischen Kunstprodukt. Schließlich hatte bereits Theodor Adorno gesagt, dass Kunst Magie ist, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein. Am Ende entfährt es dem Zuschauer angesichts Tchoupitoulas wie William selbst: “We saw some pretty amazing things”.

8/10