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24. April 2013

Side By Side

Is this the end of film?

Wer nach den filmischen Anfängen der gegenwärtigen “big player” in Hollywood fragt, wird wohl in den meisten Fällen auf dieselbe Antwort stoßen: Super 8. Egal ob Spielberg, Jackson oder Abrams – sie alle drehten einst mit dem Schmalfilm-Filmformat. Heute wäre das wohl undenkbar, stattdessen dreht die Jugend inzwischen mit den Kameras ihrer Smartphones. “Digital technology is evolving to a point that may very well replace film as the primary means of creating and sharing motion pictures”, erklärt uns Keanu Reeves bedeutungsschwanger zu Beginn von Side By Side. Gemeinsam mit Regisseur Chris Kenneally fragt sich Reeves, ob das digitale Kino das Ende des fotografischen Films darstellt.

Hierzu holte sich Reeves als Talking Heads diejenigen Menschen ins Boot, die wissen, ob nach 100 Jahren fotografischen Films dessen Ende eingeläutet wird: die Regisseure und Kameraleute von Hollywood. Fehlen dürfen hierbei weder Christopher Nolan und Wally Pfister, noch Danny Boyle und Anthony Dod Mantle. Auch Steven Soderbergh, David Fincher, Robert Rodriguez, Martin Scorsese und die Wachowskis sind vertreten – genauso wie die beiden CGI-Afficionados George Lucas und James Cameron. “It’s the reinvention of a new medium”, sagt Scorsese über das digitale Kino und nennt es “exciting”. Es zeigt sich relativ schnell, welche Filmschaffenden auf welcher Seite der fototechnischen Trennlinie stehen.

Befürworter der digitalen Kameras heben hervor, dass direkt vor Ort das gedrehte Material gesichtet werden könne. So sieht er, ob er mehr Hintergrundlicht braucht oder nicht, argumentiert George Lucas. “They fool themselves”, winkt dagegen Christopher Nolan ab. Schließlich sei der Bildschirm, auf dem das Material gecheckt wird, nicht identisch mit jenen Leinwänden, auf die der Film später projiziert wird. “Everybody’s just looking at their hair”, unkt dagegen Joel Schumacher. Aber es gibt noch weitere Vorteile, darunter die Finanzen. Die digitalen Kameras sind handlicher und billiger, Letzteres ermöglicht gleichzeitig größere kreative Freiheit. Entsprechend nutzte die Dogma 95-Bewegung digitale Kameras.

Thomas Vinterbergs Festen war einer der ersten Filme, der so gedreht wurde – von Anthony Dod Mantle, der seither für Danny Boyle 28 Days Later und Slumdog Millionaire inszenierte. Auch Boyle nutzte digitale Kameras für seinen Zombie-Film, um die Eröffnungsszene im verlassenen London mit zehn Kameras gleichzeitig drehen zu können. “Cos they were so cheap”, erklärt der Oscarpreisträger. Reeves und Kenneally zeigen auf, wie beide Filmformate aufzeichnen und funktionieren, während Side By Side die Geschichte der HD-Kameras im Kino nachverfolgt. Von der Sony F900 (1920 Pixel) bei Attack of the Clones über die RED One (4096 Pixel) bis hin zur aktuellen RED Epic mit einer beachtlichen Auflösung von 5K.

“This is the future”, proklamiert Steven Soderbergh. “You got to be part of that”, drängt Robert Rodriguez und James Cameron ist sich sicher: “It’s only a matter of time”. Auch David Lynch ist fertig mit fotografischem Film und zählt damit zur Mehrheit in dieser Dokumentation. Die hätte einige Nostalgiker mehr wie Nolan und Pfister durchaus vertragen können, während sie zugleich im späteren Verlauf leicht abdriftet. Kenneally streift die Rolle der Farbkorrektur im Film, O Brother, Where Art Thou? wird als Beispiel genannt, wo jedes Bild einen Spezialeffekt besitzt, da die Farben der Bilder von Roger Deakins verändert wurden. Auch die Kinoprojektoren, so erfahren wir, beeinflussen das finale Ergebnis.

Irgendwann wird über 3D diskutiert (“I hate 3D”, sagt Wally Pfister, “it’s a marketing fucking scheme”) und der Kampf zwischen digitalem und klassischem Kino ist längst entschieden. Was etwas schade ist, aber über einen Großteil der Laufzeit dank der namhaften und erfahrenen Gesprächspartner (seltsamerweise auch Lena Dunham und Greta Gerwig) stets interessant. “There’s something really romantic about [shooting on film]”, hatte Kamerafrau Reed Morano zu Beginn von Side By Side ein Plädoyer abgegeben. Außer Nolan, Pfister und ihr hat jedoch keiner wirklich dafür argumentiert. Scheinbar hätten sie alle ebenfalls lieber ihre ersten filmischen Schritte mit einem iPhone gemacht, statt auf Super 8.

7/10

13. November 2012

Dredd 3D

Ma-Ma is not the law... I am the law.

Für hartgesottene Comic-Fans ist das Filmjahr 1995 wohl nicht existent. Zu grausam dürften die Erinnerungen an Joel Schumachers Batman Forever und Danny Cannons Judge Dredd sein. Extrem campy Comicverfilmungen populärer Figuren. Schrill, schräg und völlig überdreht. So erhielt der faschistische Straßenrichter Judge Dredd Rob Schneider als Sidekick und ging seiner Arbeit ohne Helm (!) in einer Versace-Uniform nach. Über den Film wurde bald (und gänzlich zu Unrecht) der Deckmantel des Schweigens gehüllt. Dabei hat Cannons Film durchaus einiges mit den Comics gemein, ist zuvorderst aber eine trashige Adaption mit viel Sinn für Selbstironie.

Angesichts der Renaissance des Comic-Genres war es absehbar, dass auch Judge Dredd nochmals durch Mega City One streifen würde. Alex Garland nahm sich der Figur an und versprach den Fanboys einen Fanboy-Ansatz. Allen voran, dass Dredd seinen Helm aufbehält. Und so verfolgt das Publikum in Dredd nun das Kinn von Karl Urban, wie es sich in eine Handlung begibt, die durch das vorherige Release des thematisch nicht unähnlichen The Raid bereits altbacken daherkommt. Im Grunde sind beide Filme jedoch nur Langversionen jener legendären Single-Take-Kampfszene aus Revenge of the Warrior. Und auch wenn Dredd das Rad nicht neu erfindet, macht er Spaß.

Das liegt jedoch weniger an dem nun bierernsten Ansatz der Figur, die Urban so rudimentär wie möglich – oder nötig – spielt. Das Szenario selbst macht Laune. Dredd ist weniger eine Comic- denn Videospielverfilmung, in der es für den Protagonisten gilt, von einem Set-Piece zum nächsten zu gelangen. Oder konkreter: von einem Level zum nächsten. Das Endresultat ist dann zwar weniger actionreich als man angesichts der Prämisse erwarten würde, die Welle an Gegnern ebbt immer mal wieder zum Luftholen ab, und auch einige Ansätze werden nicht vollends zu Ende verfolgt, aber Fans wie Nicht-Fans der 2000-AD-Figur werden hier gleichermaßen gut unterhalten.

Man kommt aber nicht umhin, aufgrund des Potenzials mehrfach die Blaupausen einer etwas besseren Adaption zu sehen. So wird die den Film einleitende Szenedroge Slo-Mo, mit der das Gehirn seine Umwelt in Zeitlupengeschwindigkeit wahrnimmt, unzureichend eingesetzt. Zwar nutzt Regisseur Pete Travis das Gimmick, um während einer Razzia-Szene zwischen der Realität und Slo-Mo hin- und herzuwechseln, aber richtig zu Ende gedacht werden auch diese Szenen nie. Im Gegenteil, eine der wenigen Slo-Mo-Szenen zeigt uns lediglich die Antagonisten beim Baden. Und mit seiner Antagonistin Ma-Ma bewegt sich der Film ebenfalls auf dünnem Eis.

Von Lena Headey zwar überzeugend gespielt, ist auch ihre Figur nicht konsequent genug ausgearbeitet. Ihr Hintergrund will nicht so ganz erklären, wie sie sich einen ganzen Wohnkomplex – der in der Welt von Dredd quasi ein ganzes Stadtviertel einnimmt – unter den Nagel gerissen hat. Auch die Beweggründe für den entfachten Krieg gegen Dredd geraten reichlich schwammig und unausgegoren. Letztlich handelt es sich hierbei zuvorderst aber um einen Action-Film, in dem die Charaktere weniger ausgereift sein müssen als wiederum in einem Charakter-Drama. Und die Handlung, so simpel sie ist, überzeugt vermutlich gerade wegen ihrer Einfachheit.

Das Ensemble spielt seinen Part, die Kameraarbeit von Anthony Dod Mantle ordnet sich der Idee des Films und seiner Szenerie unter, und die Musik trägt ebenfalls ihren Teil zum gelingenden Ganzen bei. Somit kann das Ergebnis als gut erachtet werden, wenn auch im direkten Vergleich Judge Dredd durch seine verspielte Unernsthaftigkeit gegenüber Dredd der etwas vergnüglichere Film ist. Ohne dass Pete Travis’ Adaption dabei jedoch – auch dank ihrer Kurzweiligkeit – weniger unterhaltsam wäre. So wie so, am Ende ist es jedenfalls erfreulich, Judge Dredd wieder in Mega City One zu sehen – mit oder ohne Helm. Die Fanboys jedenfalls werden sich an diesem Detail freuen.

7/10

12. Februar 2011

127 Hours

Rock on!

In seinen Filmen berichtet der britische Regisseur Danny Boyle stets von Isolation, von der Ausgrenzung einer kleinen Gruppe vom Rest der Gesellschaft. Sei es eine exklusive und  exzentrische Wohngemeinschaft in Shallow Grave, Junkies in Trainspotting, ein Liebespaar auf der Flucht in A Life Less Ordinary, eine Backpacker-Kommune in The Beach, Überlebende einer Zombie-Pandemie in 28 Days Later, zwei Kinder mit spontanem Reichtum in Millions, Astronauten auf Weltrettungsmission in Sunshine oder indische Straßenkinder auf der Suche nach Liebe in Slumdog Millionaire. Doch nie inszenierte Boyle dieses Thema der Isolation so konsequent und offensichtlich, wie in seinem jüngsten Abenteuerdrama 127 Hours.

Nach seinem Regie-Oscar vor zwei Jahren hätte Boyle in die A-Liga Hollywoods aufsteigen können, wo die Budgets im neunstelligen Bereich laufen. So war der Brite unter anderem für die Inszenierung des neuen Bond-Films im Gespräch, doch schlechte Erfahrungen mit The Beach dürften Boyle weiterhin vom Blockbuster-Kino zurückschrecken lassen. Stattdessen nutzte er den Karriere-Push des Oscars, um eine Geschichte durchzuboxen, die er bereits seit Jahren erzählen wollte: Die Geschichte von Aron Ralston. Als der gelernte Maschinenbauer und begeisterte Bergsteiger im Mai 2003 auf eine Wochenendwanderung in den Blue John Canyon in Utah aufbrach, war er beinahe nicht mehr zurückgekehrt.

Die Geschichte eines Mannes, der über fünf Tage lang (genauer: 127 Stunden) durch einen Felsbrocken eingeklemmt war und zu verdursten drohte, ist nun mangels Interaktion und Action nicht gerade von großem Interesse. Und dennoch gelingt es Boyle mit 127 Hours ein packendes und intensives Drama abzuliefern, was umso bemerkenswerter ist, da der Ausgang des Szenarios bekannt ist. Hier verkommt ein vorbei fliegender Rabe und 15 Minuten morgendlicher Sonnenschein nicht nur für Aron Ralston (James Franco) zum Happening. Dass der sich durch den Canyon preschende Lichtstrahl Ralston auch angesichts seiner Situation noch ein bewunderndes Lächeln beschert, charakterisiert die Figur ganz gut.

Früh beginnt er, sich seinen Wasservorrat einzuteilen und verflucht, seine zusätzliche Flasche Gatorade im Wagen und sein Schweizer Armeemesser zu Hause gelassen zu haben. Ralston ist ein Abenteurer, der seine Wochenenden lieber alleine in der Natur verbringt, als mit seiner Freundin Rana (Clémence Poésy). Die Rückblenden, die Boyle seinem Protagonisten schenkt, zeigen ein ambivalentes Bild von ihm. So scheint er seinem Vater (Treat Williams) die Liebe zu den Canyons zu verdanken, seine Mutter (Kate Burton) ruft er jedoch nie zurück und mit Rana macht er schweigend während eines Basketballspiels Schluss. Es wirkt, als pralle dies alles am extrovertierten Ralston ab, der einzig für seine Naturausflüge lebt.

Als er zu Beginn die verirrten Freundinnen Kristi (Kate Mara) und Megan (Amber Tamblyn) trifft, verbringt er zwar einige Stunden mit ihnen, aber wenn Kristi bei der Verabschiedung resümiert, dass sie ihn wohl eher aufgehalten haben, liegt das nahe an der Wahrheit. Den Preis für seine Egomanie zahlt Ralston spätestens dann, als ein losgelöster Felsbrocken seinen rechten Unterarm einklemmt. Die Rückblenden, sowie Aufzeichnungen auf seiner Digitalkamera, unterbrechen gelungen die dramatische Situation. Wirklich nahe bringen sie einem die Hauptfigur jedoch nicht, die zwar nicht unsympathisch wirkt, deren Befreiung man ihr jedoch eher wünscht, weil man niemanden so enden sehen will.

Zugleich spielt James Franco (obschon nur zweite Wahl des Regisseurs) den lebensfrohen Ralston mit einer ebenso lebendigen Leistung. Es ist logisch und konsequent, dass von seiner Darstellung der Erfolg des Filmes abhängt, gibt es doch keine Szene, in der er nicht zu sehen ist. Audiovisuell ist 127 Hours dabei wie die meisten Filme Boyles ein Genuss, selbst wenn das Splitscreen-Verfahren zu Beginn ob seiner Länge und plakativen Verdeutlichung des Filmthemas (Gesellschaft der Massen vs. Isolation von Ralston) gerne kürzer hätte geraten dürfen. Ähnlich verhält es sich mit Ralstons durch Dehydrierung ausgelösten Halluzinationen, von denen besonders seine Schwester (Lizzy Caplan) keinen Mehrwert bringt.

Wo Boyles Mumbai-Märchen zum Feel Good Movie des Jahrzehnts verschrien wurde, käme dieser Titel zumindest in seinem Œuvre eher 127 Hours zu. “He went in there broken, and came out whole“, sieht der Regisseur selbst die Katharsis seiner Figur, die erst in einer Bergschlucht merkte, was in ihrem Leben falsch lief. Ist der Film gerade in seiner Klimax quälend-hoffnungsvoll, sprießen die satten rot-braun Töne der Bilder ansonsten vor lebensbejahender Freude. Mit 127 Hours ist Danny Boyle ein bisweilen amüsantes, sowie weitestgehend intensives Drama von abenteuerlicher Romantik gelungen, ansprechend audiovisuell verpackt und garniert mit einer bewegenden Leistung des Hauptdarstellers.

7.5/10

13. September 2009

Antichrist: Ein Blick in das Feuilleton

Kunst, das ist laut dem Bertelsmann Lexikon die „schöpferische Gestaltung geistig-seelischen Erlebens in Wort, Musik, Gegenständen“ und zugleich auch die „Vermittlung innerer und äußerer Erfahrungswerte durch Formen, die aus der Phantasie des Künstlers und seinem Umgang mit einem eigenständigen Material entstehen“. Insofern klassifiziert diese Definition eigentlich jeden Film, sei er von Kieslowski oder Boll, als Kunstwerk. Und damit auch Antichrist, den neuen Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier. Blickt man nun weiter, ins Lexikon unserer Gesellschaft (Wikipedia, d. Red.), so findet sich unter dem Begriff des Meisterwerks die Ausführung, dass es „um die Verstörung des Betrachters, die ihn auf ungewohnte Denkpfade bringen soll“ geht. Trifft auch dies mal mehr und mal weniger auf die Filme eines Uwe Boll oder Michael Bay zu, so lässt sich zumindest definitorisch nicht leugnen, dass von Triers Antichrist ein Meisterwerk der Kunst ist. Dies sieht auch das Feuilleton so, weshalb sich dieser Beitrag weniger als Rezension oder Besprechung sieht, sondern eher als Reflektion von Reflektionen.

Je nach Feuilleton unterscheidet sich die Rezeption. Manche nutzen Antichrist wirklich als Denkansatz, Andere, wie Sophie Albers vom Stern, wollen lediglich einen „Erfahrungsbericht“ abliefern. Dass der Film diskutabel ist, darin sind sich jedoch alle einig. So wurde Albers, für die von Trier ohnehin einer „der anstrengendsten Regisseure der Welt“ ist, der Film als „Journalistenschreck“ zugetragen. Harald Peter konstatiert schließlich in der Welt, dass es „der meistgehasste Film 2009“ sei. Doch von Hass ist eigentlich keine Spur. Weder bei den renommierten Kritikern, noch bei der „Community“, betrachtet man die Wertungsdiskrepanz auf dem Onlineportal der Filmzeitschrift CINEMA. Dennoch fühlt sich Tobias Kniebe von der SZ dazu berufen, vorwarnend zu erklären, dass „wer glaubt, sich das anschauen zu müssen“ dies „auf eigene Gefahr“ tue. So scheint es Verena Luecken von der FAZ gegangen zu sein, die wohl nur auf Zutun ihrer Redaktion in den Film getrieben wurde. Outet sie sich doch zum Ende ihres Artikels nicht gerade als Fan des Dänen und kommt folglich zu dem Schluss, dass auch Antichrist nur „verkünstlerischtes, aufgeblähtes Genrekino“ sei, „das mehr sein will als Genre“.

Dabei zeigt Frau Luecken, dass sie selbst dem Film nicht wirklich aufmerksam gefolgt zu sein scheint und auch Probleme mit der englischen Sprache hat. Es sei denn, sie wollte einen Wortwitz machen, der in diesem Fall jedoch etwas deplatziert wirkt. Wie so viele spricht auch sie die surreale Fuchs-Szene im Film an, wenn der von Willem Dafoe verkörperte Therapeut im Wald einen sich selbst zerfleischenden Fuchs trifft. Dieser wendet sich letztlich an Dafoe selbst mit den Worten: „Chaos regiert“ (bzw. im englischen Original: „chaos reigns“). Bei Luecken wird daraus dann „ein Wolf, dem die Eingeweide aus dem Bauch hängen“, was schon im doppelten Sinne neben der Spur ist. Der Wolf (lies: Fuchs) faucht anschließend „chaos reigns“ und „dann fängt es tatsächlich an zu regnen“. Dumm, wenn man als ehemalige Kulturkorrespondentin in New York das englische „to reign“ nicht von „to rain“, also „regnen“, auseinander halten kann. Immerhin erspart Luecken dem Leser ihre interpretatorischen Ansätze hinsichtlich der daraufhin herab fallenden Eicheln und dem zuvor proklamierten Chaos. Vielleicht wäre es für Luecken besser gewesen, wenn sie sich vor ihrer Wortwahl noch mal sinnierend ins Gras gelegt hätte. So wie Charlotte Gainsbourg oder Hanns-Georg Rodek in seiner Video-Kritik zum Film.

„Hypnotischer (…) hat seit langem kein Film mehr begonnen“, befindet Rodek hinsichtlich von Triers Prolog. Dieser in Superzeitlupe und Schwarzweiß gefilmte Vorspann, der von dem Stück „Lascia ch'io pianga“ aus Georg Friedrich Händels Oper Rinaldo untermalt wird, lässt sich sicherlich als prätentiös beschreiben. Bei Urs Jenny vom Spiegel wird dieser Prolog dann zur „’Urszene’, wie Freud sie sich vorgestellt hat“. Selbst für Luecken ist der Vorspann „das Beste am Film“, denn was dann folgt, sei „erst mal eine dreiviertel Stunde Langeweile“. Das ist reichlich harsch, konzentriert sich von Trier doch hier – wie auch von vielen angerechnet wurde – auf die Trauer, die nun die Eltern, besonders Charlotte Gainsbourg, im Folgenden befällt. Ihr sexueller Akt war es, der die Aufmerksamkeit verdrängte als der gemeinsame Sohn wie ein suizidaler MacGyver aus seiner Krippe entflieht, um mittels Stühlerücken und Kletterpartien mit einem Lächeln vom Fenstersims zu purzeln.

Nun beginnt „der Film eines kranken Mannes – geboren aus einer schweren Depression heraus“, wie Kniebe den dänischen Regisseur selbst zitiert. Gainsbourgs namenlose Figur wird vom Kummer überwältigt. Nach einem Monat beginnt sie schließlich der Ehemann selbst zu therapieren. Entgegen der unausgesprochenen Regel seiner Zunft, wie Dafoe mehrfach erwähnt und vom Feuilleton wiederholt wird. Es stellt sich nunmehr heraus, dass der Mann, der der Familie den Rücken zuwandte, nicht mal wusste, dass seine Frau ihre Dissertation über Hexenverbrennungen nicht abgeschlossen hat. Als Ursprung der Angst wird der Wald ausgemacht, in welchem Gainsbourgs Figur im Sommer zuvor gemeinsam mit dem Kind an jener Arbeit schrieb. Die Hütte selbst wird bezeichnenderweise „Eden“ genannt. Und da man Ängste nur überwinden kann, wenn man sich ihnen stellt, beginnt ein Therapieurlaub in die Natur. Nach einem kurzen Fick versteht sich, den der Therapeut gleich darauf bereut, später aber bei Bedarf noch mehrere Male wiederholen wird. Es geht nun also in die Wälder, die für Kniebe etwas bisher selten zuvor gesehenes Finsteres haben. „Jede Wurzel zieht eine Fratze“, stellt der SZ-Autor wahrscheinlich als einer der Wenigen fest.

Unter dem Stakkato herab fallender Eicheln beginnt nun also die Therapie. Zwar sträubt sich die Frau bisweilen, folgt jedoch ansonsten den Ratschlägen ihres Mannes. Dankbar sei sie, dass er sie begleitet habe, meint die Frau im scheinbar kathartischen Moment. Bis zu diesem Zeitpunkt war der von Oscarpreisträger Anthony Dod Mantle photographierte Antichrist dank seiner unentwegten Wackelkamera, die selbst in Momenten zum Tragen kam, in denen sich die beiden Protagonisten überhaupt nicht bewegten, durchaus Schwindel erregend. Doch in der finalen halben Stunde beginnen die Wendungen und die Brutalität einzusetzen, die Daniel Kehlmann in der ZEIT als „fast unerträglich“ beschreibt, da sie zumindest eine Szene beschwören, die man wohl nie mehr vergessen wird. Es werden Bretter auf erregierte Schwänze geknallt, Beine durchbohrt und Klitorides kastriert. Nun gut, all dies jeweils singulär, aber man erfasst den Sinn auch so. Dabei beschwört von Trier keine grausameren oder brutaleren Szenen, wie man sie nicht zuvor schon von einem Pier Paolo Pasolini, Gaspar Noé oder gerne auch Eli Roth gewohnt war oder ist.

Dennoch ist sich Kniebe sicher, dass „was von Trier allein in der letzten Viertelstunde an Symbolen der Grausamkeit halluziniert“ sicherlich „die Proseminare der Genderstudies wieder für Jahrzehnte beschäftigt halten“ wird. Während Mancher von Triers Filme generell für misogyn hält, bricht Kehlmann eine Lanze für den Regisseur. Dem Film, der eigens jemand engagierte, um Recherchen zur Misogynie zu betreiben, ebenjene vorzuwerfen, findet der Bestseller-Autor einfach nur „albern“. Insofern werden Kehlmann und Luecken sicherlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen, sieht diese doch in Gainsbourgs Figur, dass „bei [von Trier] Satan eine Frau ist“. Eine Deutung, die so vielleicht nicht richtig, aber auch nicht unbedingt falsch ist. Denn Antichrist hält mehrere Möglichkeiten für die Personifikation des Antichristen offen. Sei dies nun die Frau, der Mann, das Kind oder etwas ganz Anderes. Möglicherweise sogar, wie von Gainsbourgs Figur kolportiert, die Natur. Selbst wenn Jenny im Spiegel hier entgegen dem Drehbuch allein den Wald mit der Kirche Satans gleichsetzt. Dagegen will sich Kehlmann beispielsweise nicht festlegen, wenn er im Film ein „außergewöhnliches Kunstwerk über das wahre Böse, den reinen Horror und den albtraumhaften Ekel“ sieht.

Dass das Weltbild von Antichrist, wie Kehlmann meint, „im umfassenden Wortsinn mittelalterlich“ sei, ist einer der wenigen Punkte im Feuilleton, denen man sogar zustimmen könnte. Wenn man sich an den ersten Absatz erinnert, sollen Meisterwerke – zumindest laut Wikipedia – auf ungewohnte Denkpfade bringen. Insofern wäre eine der zahlreichen Deutungen vielleicht, dass die Recherche der recht misogynen Literatur zur Hexenverfolgung und –verbrennung bei Gainsbourgs Figur zum Wahn führte, der wiederum in der Misshandlung des Kindes mündete. Jener Wahn, der später auch den Therapeuten befallen wird und der infolgedessen - auf eine Art und Weise - durchaus vom Wald ausgeht, auf jeden Fall aber auch von der Natur, die, wie in einem Gespräch zwischen Mann und Frau deutlich wird, nicht (nur) als Natur dessen, was da draußen ist, verstanden werden will oder soll, sondern auch, womöglich primär, als Natur des Menschen. Wobei zuviel Interpretation am Ende deplatziert sein könnte, ist Antichrist laut Jenny schließlich (Fälschlicherweise? Beruhigenderweise?) „kein realistischer Film“ und für Harald Peters letztlich „doch nur ein Märchen“.

Getragen wird von Triers Film natürlich auch von seinen beiden Darstellern, von denen Dafoe mit fortwährender Dauer immer besser in sein Spiel findet und Gainsbourg, die für Urs Jenny – mit etwas verstörendem pädophilen Einschlag – „die scharfe Kleine mit dem Körper eines ewigen Kindes“ ist, zweifelsohne beachtlich spielt, aber nun auch nicht so überragend, wie vielerorts durch ihre Auszeichnung in Cannes propagiert. Insofern ist Antichrist in seinen schlechtesten Momenten unwahrscheinlich prätentiös, gerade in dem von Händel untermalten Pro- respektive Epilog. Dennoch haben auch manche Bilder in der Tat etwas Faszinierendes und sind bisweilen von einer düsteren Schönheit. Das Herausragende an von Triers neuem und als eigene Depressionsbewältigung kolportierten Film ist jedoch weniger der Film selbst als vielmehr dessen Rezeption. Der Däne erzählt keine neue Geschichte, nicht einmal eine Altbekannte auf besonders neue Art. Antichrist ist ein Film, der deshalb gelungen ist oder als gelungen angesehen werden kann, weil er sich unterschiedlich lesen lässt. Zum Beispiel als Analogie zu Moses’ Genesis, in welcher Mann und Frau im Garten Eden ihre von Gott gegebene Unschuld verlieren, weil sie der Satan oder Teufel aus der Natur zum bösartigen Verhalten verleitet. Oder als Analogie, Interpretation und vieles Andere in Bezug auf Alles und Nichts.

Wenn ein Werk dann ein Kunstwerk ist, indem es viele Deutungen möglich macht, dann ist Antichrist ein Kunstwerk. Kommt Rodek in seiner dreiminütigen Videorezension zu diesem Schluss, dem per definitionem nicht zu widersprechen ist. Sicherlich ist von Triers Film ein Meisterwerk, sowohl im althergebrachten wie im modernen Sinne. Und es ist Kunst, was der Däne hier erneut auf Zelluloid gebannt hat. Doch Kunst heißt nicht unbedingt gut oder gelungen, ist Kunst doch ein weitgefächerter Begriff, den man auch fahrlässig verwenden kann. Mit Antichrist hat von Trier am Ende dann alles richtig gemacht, war der Film schließlich in aller Munde, von seinen Ursprüngen als „Journalistenschreck“ bis hin zu seiner vielfach geäußerten Klassifizierung als „Meisterwerk“. Kunst kann in dem Maße begeistern, wie sie auch verstören und mitunter anwidern kann. Kunst kann aber auch belanglos sein und interessant zugleich. Kunst kann Superzeitlupe, unterlegt mit Händel sein und das Abtrennen einer Klitoris. All das ist Antichrist, aber vielleicht auch nicht mehr als nur das. Für mich selbst ist es ein netter Film des Dänen. Ein interessanter Film, aber irgendwie doch auch ein belangloser. Durchschnittlich letztlich, aber deswegen nicht unbedingt schlecht. Und so bleibt das Herausragende an dem Film weniger der Film selbst als vielmehr seine Rezeption.

5.5/10

15. März 2009

Slumdog Millionaire

Your destiny is in your hands.

Die Schnitte sind hart. Die Farben sind bunt. Die Szenerie lebendig. Aus den Boxen dröhnt indische Musik. Poppige Musik. Jamal (Ayush Mahesh Khedeker) rennt gemeinsam mit seinem großen Bruden Salim (Azharuddin Mohammed Ismail) durch die Slums von Mumbai. Die Stilmittel des Regisseurs Danny Boyle sind hier so offensichtlich, wie vielleicht in keiner der anderen Szenen. Allgegenwärtig sind die Merkmale des Engländers dennoch durch Slumdog Millionaire hindurch. In seinem neuesten Film, der Romanadaption von Vikas Swarups Q & A, verschlägt es Boyle nach Indien, auf seine eigene kleine Welttournee der audio-visuellen Meisterwerke. Was einst mit Shallow Grave seinen Anfang nahm, ihn mit Filmen wie The Beach in die USA trieb und schließlich mit 28 Days Later zurück auf eine andere Insel, bevor es in Sunshine hinaus hing in die Unweiten des Alls, findet mit der ehemaligen britischen Kolonie Indien vorerst sein Ende.

Der britische Drehbuchautor Simon Beaufoy adaptierte Swarups zwölf Kurzgeschichten zu einem zusammenhängenden Märchen über Liebe und Schicksal. Den Rahmen für Slumdog Millionaire bildet hierbei das Quizshow-Format Who Wants to be a Millionaire?, welches nicht nur in Deutschland, sondern weltweit ein Quotenhit ist. Mit jener Show leitet Boyle seinen Film, der offiziell eine Komödie ist, auch ein. Gelungen stellt er seinen Protagonisten Jamal (Dev Patel) in einer Parallelmontage vor. Während er sich dem Jubel der Quizshow hingibt, wird er gelegentlich an einen Stuhl gefesselt von einem Mann geohrfeigt und gefoltert. Woher er die Antworten auf die Fragen gewusst habe, will der Mann (Saurabh Shukla) wissen, der sich wenig später als Polizeisergeant entpuppt. Sein vorgesetzter Inspektor (Irrfan Khan) übernimmt das Verhör und lässt parallel dazu eine Videoaufnahme von Jamals Siegeszug ablaufen. Frage für Frage erläutert Jamal schließlich, woher er die Antwort wusste: „It was written“.

Die Geschichte von Slumdog Millionaire gliedert sich in drei Teile. Im Zentrum stehen dabei stets die beiden Brüder Jamal und Salim, sowie die Waise Latika. Als eines Tages hinduistische Fanatiker Jamals und Salims Slum stürmen und unter anderem ihre Mutter töten, sind die beiden Brüder auf sich allein gestellt. Jamal freundet sich mit dem Mädchen und der Waise Latika (Rubina Ali) an und fortan haust die Gruppe auf einer Müllkippe. Dort werden sie schließlich vom Kinderhändler Maman (Ankur Vikal) aufgelesen, der ziemlich schnell das soziopathische Potential in Salim entdeckt. Als sich die Situation zuspitzt, können die Brüder fliehen, doch Latika bleibt zurück. Während sich Jamal (Tanay Hemant Chheda) und Salim (Ashutosh Lobo Gajwala) als Kleinkriminelle durchschlagen, lässt Latika (Tanvi Ganesh Lonkar) Jamal einfach nicht los. Die Beziehung zwischen Jamal (Patel) und Latika (Freida Pinto) stellt die Quintessenz des Filmes dar, der verschiedene Genres in sich vereint.

Beaufoy platziert verschiedene komische Elemente zur humoristischen Auflockerung in seine Geschichte, die speziell zu Beginn sehr tragisch daherkommt. Hetzjagden auf indische Muslime, das Leben im Slum, der Verlust der Mutter und das Schicksal als Straßenbettler für einen Kinderhändlerring. All dies sind eigentlich Aspekte, die Boyles Film sehr ernst erscheinen lassen könnten. Doch dies ist nicht der Fall. Ausgesprochen unterhaltsam, stets rechtzeitig auflockernd, präsentiert der Engländer die Geschichte der Kinder bzw. Jugendlichen Jamal, Salim und Latika, die trotz ihrer Unernsthaftigkeit dennoch keineswegs belanglos ist. Diese authentischen Probleme einer Kultur in einem Schwellenland werden einem sehr wohl bewusst und dieser Aspekt der unterhaltsamen Mitteilung von politisch brisanten Perspektiven ist fraglos einer der größten Vorzüge von Beaufoys Skript.

Neben diesen Ansätzen einer Milieustudie ist Slumdog Millionaire zugleich aber auch Gangsterfilm, quasi eine indische Antwort auf Cidade de Deus, aber auch Liebesfilm und Satire. Speziell die Szenen mit dem fiktiven Who Wants to be a Millionaire?-Moderator Prem Kumar (Anil Kapoor) nutzt Boyle, um einen etwas fragwürdigen Blick hinter die Kulissen einer erfolgreichen Fernsehshow zu werfen. Denn Kumar fragt sich ebenso wie jeder andere in Indien, woher Jamal stets die richtige Antwort auf seine Fragen weiß. An diesem Punkt verlässt Boyles Film dann natürlich die Ebene der Realität, da jener Aspekt der Geschichte vollkommen konstruiert ist. Im Zuge seines Märchens werden Jamal selbstverständlich stets die Fragen gestellt, die er durch seine Lebenserfahrung beantworten kann. Sinnbildlich steht dies jedoch auch für jenes Wissen, dass man nicht aus Schulbüchern erlernt, sondern im harten Leben auf der Straße. Beaufoy verdeutlicht dem westlichen Publikum damit, inwieweit Kinder in Krisenregionen schon in jungen Jahren mehr mitmachen, als manch Erwachsener, der in einem sozial normalen Umfeld groß wurde.

Nichtsdestotrotz ist Slumdog Millionaire abgesehen von seiner kitschigen Konstruiertheit bisweilen stark redundant. Jene Redundanz und die Tatsache, dass einige Handlungselemente nicht immer allzu deutlich sind, trüben das ansonsten sehr ansehnliche Gesamtbild von Boyles Film. Die positiven Seiten überwiegen allerdings. Castingleiterin Loveleen Tandan ist ein Meisterstück gelungen. Speziell die Darsteller der jüngsten Versionen des Trios sind sehr stark besetzt. Das fabelhafte Gesamtbild verdankt sich dann der Kamera, dem Schnitt und speziell der Musik von Allah Rakha Rahman und Maya Arulpragasam. Alles in allem macht die Geschichte des Filmes die meiste Zeit richtig Laune, lässt einen als Zuschauer mitfiebern, obschon das Gezeigte nicht zwingend spannend ist. Die sympathischen Darsteller wissen dabei ihre Rolle stets zu tragen und auch den Entwicklungsprozess der Charaktere glaubwürdig zu transferieren. Danny Boyle untermauert mit diesem Film seine anhaltende Konstanz, die ihn in den elitären Kreis der Regisseure hebt, die bisher ohne wirklichen Flop ausgekommen sind.

7.5/10